„Die Soldaten“ von Bernd Alois Zimmermann in der Kölner Philharmonie am 18. Januar 2024 als Fanal gegen den Krieg gefeiert
Die akuten Kriege in der Ukraine und im Gaza-Streifen, um nur zwei Beispiele zu nennen, bestätigen die Aktualität der Oper „Die Soldaten“, die lange als nicht aufführbar galt. Vermutlich ist Bernd Alois Zimmermanns Partitur die vielschichtigste und anspruchsvollste in der Geschichte des Musiktheaters. Der Friedensappell des Komponisten, der für die Auftragskomposition der Stadt Köln 10.000 DM Honorar erhielt, wurde am 15. Februar 1965 gegen große Widerstände des damaligen GMD Wolfgang Sawallisch und einiger Musiker des Orchesters unter der Leitung des damals 35-jährigen Michael Gielen mit dem Gürzenich-Orchester und dem Ensemble der Kölner Oper uraufgeführt und festigte den Ruf der Kölner Oper als Avantgarde. (Rezension der Vorstellung v. 18.01.2024)
Am 13. Mai 2018 feierte Francois Xavier Roth im Staatenhaus, der Ausweichspielstätte der Kölner Oper, eine szenische Umsetzung unter der Regie von Carlus Padrissa, die das Stück mit seinen parallel laufenden Handlungen auf einer ringförmig um die Zuschauerreihen angelegten Bühne mit plakativen Kostümen inszenierte, den bis dahin größten Triumph seiner Karriere. „Die Soldaten“ scheinen seine Mission zu sein. Mit erweiterten dem Kölner Gürzenich-Orchester fächert er die übereinander geschichteten Orchestergruppen, bei denen zeitweise vier Orchester mit drei Hilfsdirigenten gleichzeitig spielen, gut hörbar auf. In der Kölner Philharmonie entfaltet er einen Raumklang, der donnert, glitzert und wispert und das Publikum überwältigt und, vor allem auch in den intimen Momenten, in seinen Bann zieht. Zimmermann hatte als literarische Vorlage für seine Oper das gleichnamige Schauspiel von Jakob Lenz aus dem Jahr 1776 gewählt.
Zum roh behauenen Marschrhythmus marschieren im Stechschritt die Protagonisten – die Soldaten – herein. Es entfaltet sich ein Schreckensbiotop, in dem die kokette Marie von der künftigen Offiziersgattin zur billigen Soldatenhure absteigt. Francois Xavier Roth hat mit der Installation für den Konzertsaal in der Kölner Philharmonie einen Aufführungsort gewählt, in dem er die zerstörerische Macht des Krieges klanggewaltig hörbar macht. Hier wird die von Zimmermann postulierte „Kugelgestalt der Zeit“ greifbar: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schmelzen zusammen, die Gegenwart ist nicht nur ein Punkt auf dem Zeitstrahl, das Erlebte erstarrt nicht zur toten Vergangenheit, sondern bleibt in uns bestehen, und in allem, was wir tun, denken wir die mögliche Zukunft mit. Calixto Bieito verdeutlicht in einer halbszenischen Personenführung die Beziehungen der 17 Solisten und sechs Solistinnen und 22 Sänger des Herrenchor und Extrachor der Oper Köln untereinander. Die Handlung findet statt auf engem Raum auf der Choerempore Z oberhalb des Orchesters, wo man die ersten beiden Reihen der Bestuhlung ausgebaut hat. Auf der Chorempore Y darüber sind drei weitere Orchester platziert, das riesig besetzte Hauptorchester befindet sich auf der bis weit in den Zuschauerraum erweiterten Bühne.
Alle singen gefühlt eine Quart zu hoch, und die Partien sind gespickt mit halsbrecherischen Intervallsprüngen, die zeigen, dass sie unter extremem Druck stehen. Die Musiker und die Sängerinnen und Sänger der Uraufführung 1965 waren mit diesen Anforderungen der Partitur zum Teil überfordert und benötigten mehr als doppelt so viel Probenzeit wie üblich. Francois Xavier Roth hat mittlerweile mit dem Gürzenich-Orchester und dem Ensemble der Oper Köln so viel Musik der Zeit gespielt, dass die Musiker die Herausforderung annehmen.
Hauptperson des Dramas ist die hübsche junge Bürgertochter Marie, die einen rasanten sozialen Abstieg durchläuft. Die Personenführung Calixto Bieitos illustriert buchstäblich Takt für Takt die Beziehungen zwischen den Personen auf engem Raum. Emily Hindrichs singt die Marie als dramatischer Koloratursopran: „wie Mozart“, wie Roth im Einführungsgespräch mit Michael Struck-Schloen erklärte. Nach der Pause wird sie von einer Statistin gedoubelt, die halbnackt von einem Soldaten zum anderen gereicht wird. Ihr Schicksal ist die Metapher für die grauenhaften Folgen der Verrohung der Menschen durch den Krieg.
Nikolay Borchev als Tuchhändler Stolzius, ihr Verlobter, ist nicht nur der enttäuschte und von den Soldaten gedemütigte Liebhaber, der selbst Soldat wird, um Marie zu beschützen, sondern auch der Rächer, der Desportes umbringt.
Der wunderbare Tenor Martin Koch, der gerade noch in Bonn als Aron in „Moses und Aron“ glänzte, ist der eitle Geck Desportes, der als Edelmann und junger Offizier der hübschen Bürgertochter Marie den Hof macht und so tut, als wolle er sie heiraten. Scheinbar mühelos meistert er die schwere Partie, bei der kein Ton vorhersehbar ist. Als Marie ihm lästig wird gibt er sie ab an seinen Offizierskollegen Mary (Wolfgang Stefan Schwaiger).
Bass Tómas Tómasson ist Maries Vater, der vor der Liebelei mit dem Offizier warnt, andererseits aber selbst auch gerne Schwiegervater eines Adeligen wäre. Am Schluss erkennt er seine eigene Tochter, die als Straßenmädchen bei ihm bettelt, nicht mehr. Die Mezzosopranistin Judith Thielsen ist ihre Schwester, die Anteil an ihrem Schicksal nimmt. Die Gräfin de la Roche, deren Sohn sich in Marie verliebt hat und die Marie in ihr Haus aufnimmt, wird anrührend mütterlich verkörpert von der Mezzosopranistin Laura Aikin.
Im vierten Akt entsteht ein intimer Moment des zarten Opernglücks, wenn sie mit Emily Hindrichs und Judith Thielsen ein nur von Harfen, Cembalo und wenigen Streichern begleitetes Terzett wie im Schlussakt des „Rosenkavalier“ von Richard Strauss singt. Oliver Zwarg als Feldprediger deklamiert im Stil des Cantus firmus das Pater Noster in lateinischer Sprache und setzt als Feldprediger der rohen Gewalt nichts entgegen. Die übrigen Rollen sind weitgehend aus dem Ensemble der Kölner Oper typgerecht hochkarätig besetzt. Das Orchester ist mit zahlreichen Musikern verstärkt, auch die Orgel der Philharmonie kommt zum Einsatz.
In der letzten Szene treibt Zimmermann die Sprengung der Gattung Oper durch Zuspielungen von menschlichen Lebensäußerungen von Geburt bis Tod, Militärkommandos in verschiedenen Sprachen, Gefechtsdonner aus dem Zuschauerrum auf die Spitze. Maries letzte Begegnung mit ihrem Vater wird davon überlagert. Die persönliche Tragödie des geschundenen Mädchens wird durch dröhnende Marschtritte unendlicher Reihen durch den Zuschauerraum zu einer apokalyptischen Schreckensvision, die in einem langsam verhallenden Schrei verklingt. Die Vorahnung künftiger Kriege macht „Die Soldaten“ zu einer der ersten pazifistischen Opern überhaupt. Zimmermanns eigene Erfahrungen als Soldat im zweiten Weltkrieg – er erwarb im Krieg ein Augenleiden, das zu seiner Erblindung führte – bewirkten, dass er das Militär als Parallelgesellschaft zeichnete, das sich nicht an die Regeln der umgebenden Welt hält.
Ich habe am 13. Mai 2018 die szenische Realisation mit Bühnenbild und Kostümen in der Regie von Carlus Padrissa im sensationellen Bühnenbild von Roland Olberer mit Kostümen von Chu Uroz im Staatenhaus gesehen und konnte dort die Visualisierung der Aufhebung von Raum und Zeit konkret erleben: auf einer Teilbühne schrieb Marie einen Brief, den Stolzius auf einer anderen Teilbühne las, und der auf einer dritten Teilbühne gleichzeitig kommentiert wurde. Man musste sich einer Handlung zuwenden und konnte die anderen nur akustisch wahrnehmen. Diesen Anspruch hat die Umsetzung im Konzertsaal nicht so konkret, aber sie bietet im Gegensatz zur Messehalle eine perfekte, ziemlich trockene Akustik, die die Musik gut durchhörbar macht.
Hätte ich nicht die Darsteller der Aufführung fast alle aus dem Kölner Opernensemble gekannt, wäre es mir schwergefallen, die Rollen zuzuordnen, weil alle bis auf Marie in gehobener Alltagskleidung auftraten, man also nicht erkennen konnte, wer Soldat ist und wer Bürger (Desportes, Stolzius). Maries Kleid ist ein Sonderfall, denn ihr Double trug das gleiche schwarz-weiß gemusterte Wickelkleid. Erst am Schluss stellte sich heraus, dass nicht Emily Hindrichs in Unterwäsche auftrat und von den Soldaten als Dirne benutzt wurde, sondern ein Double.
Der Regisseur Calixto Bieito hat mit geringen Mitteln – auf engstem Raum und ohne Kostüme – die Konflikte und Gewalttätigkeiten taktgenau deutlich gemacht und die Aussage der Musik durch eindeutige Gesten zusätzlich überhöht. In der restlos ausverkauften Kölner Philharmonie gab es lange stehende Ovationen des an zeitgenössisches Musiktheater gewöhnten Kölner Publikums.
Werke des ambitionierten Musiktheaters des 20. Jahrhunderts wie Schönbergs „Moses und Aron“ und Zimmermanns „Die Soldaten“ werden wegen ihrer anspruchsvollen Tonsprache, die viele Musiker und auch Zuschauer überfordert, nie das Kernrepertoire erreichen. Sie sind zudem wegen der großen Besetzungen in Orchester, Chor und Ensemble nur von wenigen Häusern umsetzbar. Umso wichtiger ist es, dass es Dirigenten wie Francois Xavier Roth gibt, die für die Realisierung brennen und Konzerthäuser, die aufwändige Umbauten und Installationen umsetzen wie die Kölner Philharmonie, um solche Werke erlebbar zu machen. Die halbszenische Umsetzung in der Kölner Philharmonie kann als beispielhafter Glücksfall gelten. In Köln war der Idealfall gegeben, dass das Ensemble, das Orchester und der Chor das Werk bereits einstudiert und szenisch umgesetzt hatten, und dass keiner wegen der Besetzung der Oper durch das Karnevalsgastspiel anderweitig verpflichtet war. So konnten Francois Xavier Roth und Calixto Bieito beweisen, dass auch die halbszenische Umsetzung im Konzertsaal diesem Meisterwerk modernen Musiktheaters gerecht wird. Es wird Gastspiele in der Elbphilharmonie Hamburg am 21.1.2024 und in der Philharmonie Paris am 28.1.2024 geben.
- Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Kölner Philharmonie / Stückeseite
- Titelfoto: Gürzenich-Orchester Köln/DIE SOLDATEN /Foto: Holger Talinski