
Lohengrin kommt aus der Menge. In der Neuinszenierung von Wagners Klassiker an der Bayerischen Staatsoper des ungarischen Regisseurs Kornél Mundruczó gibt es keinen von einem Schwan gezogenen Nachen oder andere ausgefeilte Bühnentechnik, die dem unbekannten Ritter dem Weg ans brabantische Ufer ebnen. Stattdessen ist Lohengrin von Anfang an da und unterscheidet sich von den übrigen Brabantern nur dadurch, dass er nicht wegläuft, als er ausgeguckt wird, der unbeliebt gewordenen Prinzessin beizustehen. Schon in seinem ersten Auftritt macht Regisseur Mundruczó den göttlichen Helden zum Menschen und ermöglicht so völlig neue Sichtweisen auf die Frage, wer denn dieser Lohengrin ist, der aus dem Nichts kommt und seine Herkunft sogar vor der eigenen Ehefrau geheim hält. (Rezension aus Besuch der GP am 29.11.2022 und des Livestreams der Premiere v. 03.12.2022)
Der Vorhang öffnet sich schon vor den ersten Takten der Musik und gibt den Blick frei auf einen weißen Raum und ein wenig Natur. Um einen Teich herum wächst Gras, es stehen zwei Bäume. Das brabantische Volk, Chor und die Statisterie der Bayerischen Staatsoper, sowie König Heinrich und Telramund sitzen mehr oder weniger lustlos in diesem Bühnenbild. Erst mit der Musik des Vorspiels heben sie die Köpfe, schauen ins Publikum, und stehen dann auf, einer nach dem anderen, bevor sie die ausgebreiteten Arme zum Himmel erheben. Die Szene wirkt wie ein grotesker Gottesdienst. Das ist wohl auch die Wirkung, die Kornél Mundruczó durch sein Eröffnungstableau erzielen will: In den Begleitmaterialien der Bayerischen Staatsoper spricht er von Lohengrin als einem Experiment (und tatsächlich erinnert das Bühnenbild mit seinen flächigen weißen Wänden an Hans Neuenfels’ Bayreuther Labor-Lohengrin aus dem Jahr 2010), aber eben auch von einer postapokalyptischen Gesellschaft, die isoliert von allem und allen anderen auf ihren Erlöser wartet. Monika Pormales Bühnenbilder drücken dieses Gefühl nahezu perfekt aus. Das Eingeschlossene durch den in allen drei Akten präsenten weißen Raum, der von der Außenwelt schützt, aber das Volk eben auch einschließt, und den eingesprenkelten naturalistischen Elementen: Die Wiese, der Teich. Im zweiten Akt ein mittelalterlich anmutender Balkon. Die Menschen wissen, dass ihre aktuelle Situation keine ideale ist. Von daher überrascht es nicht, wie bereit die Gesellschaft ist, Lohengrin als den Schwanenritter und sein Frageverbot zu akzeptieren, obwohl sie doch genau wissen, dass er einer von ihnen ist. Tatsächlich passt Lohengrin so gut zu den Vorstellungen der Gesellschaft, dass es zu seiner Aufgabe wird, Elsa zu assimilieren – teilweise offensichtlich gegen deren Willen. Denn um sie, um ihr Wohlbefinden, geht es in Brabant sicher nicht.
Von der Außenseiterin zur Sonnengöttin.

In Mundruczós Inszenierung ist Elsa eine Außenseiterin. Das beginnt bei ihrem Kostüm – während alle anderen nahezu uniform in Weiß und Beige gekleidet sind, ist ihr Kostüm schwarz. Die durch die Weite ihrer Kleidung entstehende androgyne Silhouette wird komplettiert durch einen burschikos kurzen Haarschnitt, der verstrubbelt sein darf und nicht so glatt zurückgekämmt ist wie die Frisuren der anderen Frauen – und endet bei ihrem Verhalten. So wie die doch einigermaßen angepasst wirkende Ortrud, der das Gehabe der Menge schlichtweg nicht gut genug zu sein scheint, verweigert Elsa die Teilnahme am Anbetungs-Ritual der Ouvertüre, versteckt sich lieber hinter einem Baum. Anders als in den meisten Interpretationen ist es aber keine akute Verträumtheit, die Elsa von der übrigen Bevölkerung trennt. Sie reagiert aktiv auf das, was ihr geschieht, sie wehrt sich dagegen, vor den König geschleppt zu werden, nicht ohne Aggression. Die vier Edlen scheinen sogar Angst vor ihr zu haben. Trotz aller Entschlossenheit aber sind ihre Bewegungen nicht immer ganz koordiniert, sie wirkt fahrig – kein Wunder, angesichts der akuten Angstsituation, in der sie sich befindet: Der Bruder, den Kleidern, die dem Publikum präsentiert werden nach noch sehr klein, ist verschwunden, womöglich tot, und Elsa, die zum Zeitpunkt des Verschwindens allein mit ihm war, wohl an der Sache nicht ganz unbeteiligt. Welche emotionalen Ausnahmezustände muss Elsa hier durchleben? Dieser Angst, und angstbedingter Entrücktheit, verleiht Johanni van Oostrum mit einer kräftigen und doch fast schon mädchenhaften Stimme wunderbar Ausdruck, als sie, von den Edlen doch noch vor die Menge gedrängt, Elsas Traumerzählung anstimmt. An dieser Stelle sei übrigens Kornél Mundruczós Talent erwähnt, Menschen, die etwas zu sagen haben, in die Mitte der Bühne zu spielen – der Heerrufer, der König, Elsa und schließlich auch Lohengrin, sie alle sind für ihre Ansagen und Monologe fantastisch exponiert, ohne dass ihre Bewegungen erzwungen wirkten. Es passiert einfach.
Und dann kommt Lohengrin aus dem Volk und nimmt sich dieser Prinzessin Elsa an, selbstverständlich nicht ohne ihr vorher das berüchtigte Frageverbot zu erteilen. Klaus Florian Vogt singt diese Stelle mit einer gewissen Aggression, was angesichts des in dieser Szene noch kaum begründeten autoritären Verhaltens nicht unangebracht ist. Denn gibt Lohengrin eine logisch nachvollziehbare Begründung, warum er solche für eine Ehe doch eigentlich grundlegende Informationen wie seinen Namen nicht preisgibt? Danach lässt er sich als der neue Schützer von Brabant feiern und Elsa nimmt ihre neue Rolle als dessen Verlobte ein. Als diese bekommt sie zum ersten Mal Zugang zu den anderen Mitgliedern der Gesellschaft: Während im zweiten Akt Ortrud und Graf Telramund streiten, erscheint sie mit zwei Statistinnen auf dem Balkon und raucht einen Joint. Vorher hat man sie nie mit anderen Brabantern interagieren sehen. Wohl auch durch die Droge zum ersten Mal einigermaßen ausgeglichen erbarmt sie sich nun Ortrud, die in einem Anflug, freilich gespielter, aber doch fast schwesterlicher Fürsorge, Elsas Vertrauen erlangt. Sie verschenkt Lippenstift, gaukelt Interesse für den Joint vor, und kümmert sich um die zugedröhnte Elsa. Die beiden gehen nacheinander ab, Telramund, der die ganze Zeit schon an der Wand stehend „versteckt“ ist bleibt draußen stehen. Er hat keinen Zugang zur Gesellschaft mehr. Lohengrin taucht wieder auf und räumt erst einmal Steine beiseite, mit denen im ersten Akt schon auf Elsa gezielt wurde. Er schützt sie. Es ist, als riefe einem die Regie zu: „Alles könnte so schön sein!“

Bis zu diesem Zeitpunkt ist dem auch so, bis man als Zuschauer wieder der übrigen Handlung gewahr wird. Das Drama um Elsas Bruder scheint völlig vergessen. Zur Verteidigung der Regie muss aber natürlich gesagt sein: Nicht anders ist es bei Wagner. Auch hier fällt Lohengrin erst bei seinem Abschied wieder ein, dass hinter dem ganzen Drama ja noch ein Kriminalfall steckt. Über weite Strecken der Oper zählen nur Elsa, Lohengrin und der Titel des „Schützer von Brabant“. Diesen bekommt Lohengrin bei Mundruczó in Form einer zu großen Jacke übergestreift. Darauf ist ein silberner Kreis, der vom Zuschauerraum aus gesehen ein wenig die Assoziation einer Ritterrüstung erweckt. Dazu gibt es eine rote Schärpe und weiße Handschuhe, die der Ritter aber vor der Hochzeit wieder loswird. Man will ja volksnah sein, als Held. Durch das Kostüm wird Lohengrin bildlich zum Erlöser stilisiert, Elsa bekommt die Rolle der Frau des Erlösers angezogen. Nachdem die Diskussionen mit Ortrud und Telramund um die berechtigte Frage nach dem Namen beendet sind – während derer sich der Chor übrigens mehr hinter Elsa stellt als Lohengrin – wird ihr ein Umhang umgeschnallt, der zu einem Sonnenkreis wird, wenn Elsa die Arme ausstreckt. Nicht nur sieht das Kostüm einengend aus, Elsa muss sich auch verbiegen, beziehungsweise strecken, um ihre Position zu füllen, doch niemand stört sich daran. In diesem zweiten Akt klingt somit schon an, was im dritten offensichtlich wird: Es geht bei diesem Erlöser-Bild nicht darum, Elsa zu helfen, es geht darum, dass Lohengrin strahlt und die Gesellschaft eine Retterfigur hat.
Wirklich offensichtlich wird das bei Mundruczó, als sich der Vorhang zum dritten Akt hebt und Elsa dasteht, in ihrem Braut-Umhang, der schon in der Generalprobe beinahe Auftrittsapplaus bekommt. Doch sie präsentiert sich nicht mehr als Göttin, sie steht gekrümmt, den Umhang nicht ganz ausgebreitet – die Last ihrer neuen Stellung und die Ungewissheit scheinen ihr physisch und vor allem psychisch zu schwer. Sie streift das Gewand ab. Es hilft nicht, dass sie jetzt weiß trägt, die Assimilierung an die Gesellschaft sogar noch weitergetrieben wird, indem einig Frauen sie während des Brautchores weiß anmalen. Im folgenden Duett, nicht allein mit Lohengrin, sondern vor dem Chor, der nur von dem Ritter dazu angewiesen wird, doch bitte nicht hinzusehen, wenn nun die Ehe vollzogen wird (oder so), steigern sich sowohl Elsa als auch Lohengrin in immer größere Nervosität, bis Elsa erst ihn mit einem Stein bedroht, sich dann selbst verletzt und zuletzt die entscheidende Frage stellt. Eindrucksvoll zeigt Mundruczó, wie sich nach dieser Frage Lohengrins Verhalten seiner Frau gegenüber nach von Sorge über Enttäuschung zu Wut wandelt und wie der eben noch so unterstützende Chor sich jetzt radikal gegen Elsa wendet, heftig blutend wird sie von den Sängern sogar weggeschubst. Es sind starke Bilder, die Mundruczó wählt, um das Beziehungsende darzustellen. Das Experiment, wie der Regisseur Lohengrins Ankunft in Brabant bezeichnet, ist gescheitert.
Aber wer ist nun Lohengrin?

Bis dahin erzählt Mundruczó die Geschichte des Schwanenritters schlüssig, mehr noch: Es ist durchweg spannend seiner Deutung des Lohengrin zuzusehen. Die starken musikalischen Leistungen der Künstler und Künstlerinnen tun ihr Übriges dazu. Wie es sich für eine Generalprobe gehört, sind die Streicher und Blechbläser etwas wackelig, doch es lässt sich erahnen, welch überwältigender Orchesterklang bei der Premiere entstehen wird. François-Xavier Roth führt das Bayerische Staatsorchester ausdrucksstark und selbstbewusst. Zusätzlich platziert er die Bühnenmusiker auf allen Ebenen des Zuschauerraums, in der Königsloge, den Engelslogen und sogar über der Galerie und verstärkt so den Eindruck, dass das Publikum auch das brabantische Volk ist, wie es durch die Personenregie im ersten Akt, die direkte Ansprache des Publikums durch König Heinrich, angedeutet ist. Vor allem beim Bläserensemble vor dem „Heil, König Heinrich“ entsteht ein wahrlich faszinierender Klangeindruck, der den himmlischen Chören eines Parsifals gerecht würde. Auch die Besetzung könnte nicht besser gewählt sein. Als Lohengrin glänzt Klaus Florian Vogt, seine Partnerin ist die Südafrikanerin Johanni van Oostrum, die wie kaum eine andere Feinheit und Kraft in ihrer Stimme vereint. Andrè Schuen imponiert als Heerrufer, Mika Kares’ kräftiger wie sauber geführter Bass ist ein respekteinflößender König Heinrich, wenn seine Figur in der Inszenierung auch eher überfordert wirkt. Johan Reuter als Telramund ist solide, bleibt aber doch hinter den anderen Sängern zurück, allen voran seiner Gemahlin, Ortrud. Vor wenigen Wochen noch Brünnhilde in Berlin gibt Anja Kampe in dieser Münchner Inszenierung ihr Rollendebüt als Ortrud und zeigt, was ein dramatischer Sopran kann. Sie ist lauter als die anderen, kräftiger, und führt ihre Stimme trotzdem ungemein präzise. Was ihr an schauspielerischen Fähigkeiten zugegebenermaßen fehlt, macht sie durch die Ausdrucksfähigkeit ihrer Stimme wett. Es ist fast schade, dass Ortrud und Telramund bei aller Durchdachtheit von Elsas und Lohengrins Persönlichkeiten nicht über die Charakterisierung als böse Ehefrau und hilfloser, etwas treudoofer Ehemann hinauskommen.

Schade, aber es stört nicht, denn der Fokus der Inszenierung liegt eindeutig auf dem Hauptpaar. Genauso wenig stört, dass Mundruczós Inszenierung nicht ohne Kitsch auskommt (etwa Konfettikanonen bei Elsas und Lohengrins Hochzeit), und stellenweise auch unfreiwillig komisch wird – wem kommt beim Gotteskampf mittels Flex statt Schwert nicht das unflätige Wort „Schwanzvergleich“ in den Sinn, welches aber auch bei klassischen Schwertkämpfen wohl nicht zu weit hergeholt ist. Trotzdem, oder gerade deshalb, funktioniert die Erzählung von dem Erlöser, der keiner ist, hervorragend. Erst im dritten Akt beginnt die Inszenierung zu schwanken, so wie Lohengrins Autorität und die Ehe mit Elsa. Telramund wird vom Chor erschlagen, nicht von Lohengrin, und lediglich beiseite und nicht weggeräumt, denn niemand verlässt in dieser Inszenierung den Raum, Brautnacht und Ansprache ereignen sich am selben Ort. Aber auch das wirkt noch schlüssig. Was irritiert ist der gewaltige Meteorit, der sich während der Gralserzählung über die Menge senkt. Handelt es sich um den Schwan? Ist Lohengrin vielleicht doch keiner aus dem Volk, sondern ein Außerirdischer, der von genau so einem Meteoriten gesendet wurde? Oder will Mundruczó zeigen, wie wenig ein göttlicher „Schützer“ doch gegen die Kraft der Natur ausrichten kann? Diese Interpretationsansätze verliert sich, als dann nicht Lohengrin mit dem Meteoriten gen Himmel entschwebt, sondern Elsa. Die Brabanter fallen unterdessen nacheinander tot um, als letzter Lohengrin selbst. Gottfried, in lila Hose und Kapuzenpullover dem Farbkonzept der Inszenierung widersprechend, läuft hilflos zwischen den Leichen herum. Lohengrins Tod passt zu dem, was Mundruczó in Interviews sagt: Wenn er seine Macht verliert, stirbt er. Aber warum müssen alle anderen sterben? Ist das eine Strafe dafür, einem falschen Erlöser aufgesessen zu sein? Denn die Antwort auf die Frage „Wer ist der Erlöser?“ lässt sich am Ende recht eindeutig beantworten: Lohengrin ist es nicht. Darüber hinaus wirkt das Finale von Kornél Mundruczós Lohengrin-Inszenierung jedoch unbefriedigend und hinterlässt mehr offene Fragen als sie beantwortet.
- Gastrezension von Adele Bernhard für DAS OPERNMAGAZIN
- Bayerische Staatsoper / Stückeseite
- Titelfoto: Bayerische Staatsoper/LOHENGRIN 2022/Foto @Wilfried Hösl