Aus alten, neuen und eigenen Welten: Das Philadelphia Orchestra mit Nézet-Séguin und Batiashvili in Berlin

The Philadelphia Orchestra, Yannick Nézet-Séguin (Leitung), Lisa Batiashvili (Violine)/Foto © Todd Rosenberg Photography 2022

Die Berliner Konzertsaison hat begonnen. Während die philharmonischen Hausherren auf Festivaltour ausgeflogen sind, bringt das Musikfest internationale Top-Orchester in die Bundeshauptstadt. Unter ihnen das Philadelphia Orchestra unter der Leitung von Yannick Nézet-Seguin und mit Lisa Batiashvili als virtuoser Solistin. Mit Dvořák, Szymanowski und Price stellen sie Musik der Unterschiede in den Mittelpunkt – das Beste kommt dabei in der Mitte. (Besuchtes Konzert am 1. September 2022)

 

 

Feurig aber ohne Funken beginnt das Programm mit Antonín Dvořáks Karneval. Eigentlich ist diese Konzertouvertüre mit ihren großen Orchestertuttis, Paukenschlägen und Schellentrommel zu Beginn ein ausgelassener, fast übermütiger Rausch. An diesem Abend klingt sie jedoch eher nach betrübtem Aschermittwoch. Matt wirkt die Musik, Details scheinen verloren zu gehen. Erst in den letzten Momenten finden Yannick Nézet-Séguin und sein Orchester einen gemeinsamen Stand, doch da ist das Stück bereits zu Ende. Aber es ist gerade rechtzeitig für das, was folgen wird. Denn der Höhepunkt an diesem Abend wartet bereits in der Mitte des Programms.

Karol Szymanowskis Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 ist ein abrupter Gangwechsel. Auf Dvořáks romantisches Adieu an die alte Heimat vor dem Aufbruch in die neue Welt folgt ein neuer musikalischer Kosmos. Sogleich erfüllen kaleidoskopische Orchesterfarben das philharmonische Rund. Szymanowskis erstes Violinkonzert ist ein Stück, zu dem das Philadelphia Orchestra eine ganz besondere Beziehung hat. Führte es doch unter der Leitung von Leopold Stokowski das Stück im Jahr 1924 erstmalig mit seinem Widmungsträger Paweł Kochański, der auch maßgeblich an der Komposition mitwirkte, auf.

The Philadelphia Orchestra, Yannick Nézet-Séguin (Leitung), Lisa Batiashvili (Violine)/Foto
© Todd Rosenberg Photography 2022

Strahlend, sicher und mit vielschichtiger Dynamik präsentiert sich Lisa Batiashvili als Solistin. Beschwörend eindringlich, wie eine wehmütig-klagende Nachtigall ist ihr Violinengesang in der Nachtmusik. Scheinbar mühelos wechselt sie zwischen geflüsterten Melodien und schrillen Doppelgriffen. Es entspinnt sich ein faszinierendes Spiel zwischen Geigerin und Orchester. Dirigent Nézet-Séguin lässt die Musik fließen und ebben. Vor ihm sitzt ein großes Orchester, doch niemals klingt es gewaltig. Alles wirkt natürlich. Gemeinsam spinnen sie Szymanowskis lange, nahezu ätherischen Linien mit wundervoller tonaler Süße und großer Finesse heraus. Fast schwerelos gleiten und schwirren die Geigensoli vor dem orchestralen Hintergrund. Szymanowskis Violinkonzert Nr. 1 erweist sich einmal mehr als ein Stück von erstaunlichem Reichtum und Komplexität, das man besser kaum hören wird.

So ist es keine leichte Aufgabe, dieser Komposition und seiner unbändigen Virtuosität zu folgen. An diesem Abend fällt diese Rolle auf Florence Prices Symphonie Nr. 1. Es ist eine Geschichte aus der eigenen Welt, angelehnt an Dvořáks „Aus der neuen Welt“. 1887 in Arkansas geboren, kämpft die Komponistin ihr Leben lang mit zwei strukturellen Benachteiligungen: Sie ist eine Frau und Afro-Amerikanerin. Dennoch schafft sie das Unerwartete. Im Jahr 1933 wird ihre erste Symphonie vom Chicago Symphony Orchestra im Rahmen der dortigen Weltausstellung uraufgeführt. Auch wenn das Konzert, wie die gesamte Weltausstellung, unverkennbar durch den in den USA der 1930er Jahre herrschenden Rassismus geprägt ist, ist es die erste Komposition einer schwarzen Frau, die von einem der großen amerikanischen Orchester aufgeführt wird. In den Folgejahren geraten viele von Prices Werken in Vergessenheit. In der letzten Zeit erlebt ihre Musik eine Renaissance; einige ihrer größten Verfechter dabei sind Yannick Nézet-Séguin und das Philadelphia Orchestra, die unlängst auch die erste und dritte Symphonie im Rahmen eines Zyklus auf CD veröffentlichten.

The Philadelphia Orchestra, Yannick Nézet-Séguin (Leitung), Lisa Batiashvili (Violine)/Foto © Todd Rosenberg Photography 2022

Eine absolute Rarität in deutschen Konzertsälen ist Prices Symphonie Nr. 1 ein reicher kultureller Ausflug. Gleich im ersten Satz verwebt die Komponistin Melodien afro-amerikanischer Spirituals mit Themen aus Dvořáks Symphonie „Aus der Neuen Welt“. Noch offensichtlicher werden Prices kulturelle Hintergründe in zweiten und dritten Satz. Spirituell nahezu meditativ, ihre große Gläubigkeit herausarbeitend ist das Largo maestoso, das an schwarze Kirchenmusik erinnert. Das folgende Allegro beinhaltet einen Juba Dance, ein charakteristischer Tanz afro-amerikanischer Sklaven aus der Zeit vor den Sezessionskriegen. Sie alle erhalten an diesem Abend in der Berliner Philharmonie Szenenapplaus.

Es ist vor allem der großen Leidenschaft des Philadelphia Orchestras für Price‘s Musik zu verdanken, dass das Konzert zu einem mitreißenden Erlebnis wird. Nézet-Séguin schafft eine differenzierte Klangpalette, die zu einem weichen Teppich für die vielen Bläsersoli der Symphonie werden. Als Zuschauer:in kommt man indessen nicht umhin, den eigenen Blick durch die Reihen des Orchesters schweifen zu lassen. Etwa 670.000 Afro-Amerikanerinnen leben in Philadelphia, sie machen 42 Prozent der Bevölkerung aus – im Orchester selbst kann man die People of Color unter den Musiker:innen an einer Hand abzählen und braucht nur wenige Finger. Es zeigt, wie wichtig Repräsentation ist. Sie nimmt nichts weg, sondern bereichert. Bietet neue Perspektiven. Diesen ersten wichtigen Schritt haben Yannick Nézet-Seguin und das Philadelphia Orchestra getan, denn Florence Price ist eine Entdeckung wert.

 

  • Rezension von Svenja Koch / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Berliner Festspiele 2022
  • Titelfoto: The Philadelphia Orchestra, Yannick Nézet-Séguin (Leitung), Lisa Batiashvili (Violine)/Foto © Todd Rosenberg Photography 2022
Teile diesen Beitrag:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert