Geschafft – am Ende des Abends fallen sich Igor Levit und Sir Antonio Pappano in die Arme. Gemeinsam mit dem Orchester und Chor der Accademia Nazionale di Santa Cecilia erklimmen sie den Mount Everest der Klavierkonzerte, Ferrucio Busonis Konzert für Klavier und Orchester mit Männerchor. Eindrücke eines faszinierenden Abends in der Berliner Philharmonie. (Besuchtes Konzert am 5. September 2022)
Monumental. Kolossal. Episch. Am Ende gehen einem fast die Superlative aus, um Busonis imposantes Klavierkonzert zu beschreiben. Es ist ein knapp 75-minütiger Parforceritt für alle Beteiligten. Igor Levit, Antonio Pappano und die Accademia Nazionale di Santa Cecilia meistern ihn mit Bravour. Noch immer wird Busonis wohl bekanntestes Werk sträflich vernachlässigt. Es gilt als schwierig, übermäßig lang und erfordert nicht nur einen ausdauernden Solisten und großes Orchester, sondern auch einen Männerchor. Sein Umfang ist unglaublich; ein farben-, stimmungs- und charakterreicher Schmelztiegel der Jahrhundertwende. Es ist eine eklektische Mischung der Stile, die vieles will, aber nichts alles kann.
Für den Auftakt des Abends entführen Pappano und sein römisches Orchester mit Arnold Schönbergs „Verklärter Nacht“ in eine warme italienische Sommernacht. Pappano dirigiert raumgreifend, dramatisch und zugleich weich, sucht die langen Linien. Das auf seine Streicher reduzierte Orchester folgt seinem langjährigen Chef dabei auf Schritt und Tritt. Lebendig bringen sie die Emotionen und Stimmungen zum Ausdruck, zeigen eine Fülle von inneren Details. Es ist die Einleitung für einen Abend, der in Erinnerung bleiben wird.
Als das Orchester nach der Pause die Bühne betritt, breitet sich sofort eine gespannte Energie aus. Etwas Besonderes liegt in der Luft: Busonis nur selten gespieltes Konzert für Klavier und Orchester mit Männerchor. Selbst Dirigent Pappano hat die Brille mitgebracht, um kein Detail dieser fünf-sätzigen Tour de Force zu verpassen. Die lange, hymnische Orchestereinleitung läutet die ersten Arpeggien und Tonleitern des Solisten ein, bevor die virtuose Komposition richtig an Fahrt aufnimmt. Weich und sogleich stark steigt Igor Levit nach einigen Momenten ein. Mit jeder Faser seines Seins ist er dabei. Noch bevor er selbst in das Geschehen eingreift, ballt er bei Orchesterhöhepunkten die Faust, geht mit. Im Verlauf des Konzertes zeigt der Pianist ganzen Körpereinsatz. Wahlweise erhaben-aufrecht oder flüsternd-gebückt sitzt er von seinem Pianoforte. Gleich mehrfach stapft er mit dem freien Fuß während des ersten Satzes auf den Boden. Man merkt: Levit brennt für dieses Stück.
Mal flüsternd, mal aufbrausend, aber immer das große Ganze im Blick entspinnt sich im Folgenden ein faszinierender Dialog zwischen dem Klaviersolisten, einzelnen Instrumenten und dem gesamten Orchester. Manchmal wirkt es wie eine Unterhaltung, mal wie ein gemeinsamer Gesang. Unwillkürlich erinnert Busoni an ein italienisch-angehauchte mahlerhafte Symphonie. Klavier und Orchester arbeiten nicht gegeneinander, sondern gemeinsam dem Ziel entgegen. Natürlich wirkt das Zusammenspiel, bei dem sich Levit nie in den Vordergrund zu drängen scheint, aber dennoch mit fein-nuanciertem Spiel im Mittelpunkt steht. Umsichtig leitet Dirigent Pappano das Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia. Er gibt Levit Raum und nimmt ihn für sich und das Orchester, wenn es die Partitur erfordert. Der zweite ebenso schillernde wie temperamentvolle Satz führt schließlich in die Weite und Tiefe des dritten Satzes, indem Orchester und Solist intime und zugleich poetische Farben zeichnen.
Stürmisch und feurig ist sogleich der vierte Satz. Hier bahnt sich eine italienische Tarantella ihren Weg – und Levit erweist sich als wahrer Tastentänzer. Es ist italienische Musik des Halb-Italieners Busoni, der während seiner Lebzeiten mehr als Klaviervirtuose als als Komponist gefeiert wurde, würdig. Genauso emsig und unermüdlich wie Levit ist in diesem Satz das Orchester unterwegs. Beinahe hat man das Gefühl, dass sich die Segel unter dem Dach der Philharmonie bei diesem tänzerischen Sturm biegen müssten. Unaufhaltsam treibt Pappano dem Höhepunkt hinzu, um sich im nächsten Moment zurückzunehmen, damit sich der Klang entfalten kann. So wird die Musik zu einem scheinbaren Karneval der Gefühle. Ein Solo mit drei Paukern baut sich zu einem gewaltigen Schluss auf – doch plötzlich hält die Musik inne, verklingt. Anstelle eines grandiosen Finales folgt ein sinnlich-verklärender Abschluss.
Betörend klingt der Ton der Sänger des Coro dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia, der Zeilen aus dem letzten Akt des Dramas „Aladin“ des dänischen Autors Adam Oehlenschläger vorträgt. Doch das kann nicht verdecken, dass der Schlusschor wie ein Fremdkörper in diesem Werk wirkt. Von der „ewigen Kraft der Herzen“, die Gottes Nähe fühlen und ihn preisen sollen, singen sie – und als Zuhörer:in fragt man sich, ob es nicht einen besseren Abschluss für dieses monumentale Werk gegeben hätte. Doch so virtuos und mitreißend, wie Levit, Pappano und das römische Orchester und der Chor, es an diesem Abend darbieten, ist das schnell wieder vergessen. Belohnt werden sie durch langen stehenden Applaus. So begeistert hört man das Berliner Publikum selten.
Lange liegen sich Solist und Dirigent in den Armen. Sie wissen, dass sie etwas Besonderes geschafft haben – quasi auf den Mount Everest ohne Sauerstoff.
- Rezension von Svenja Koch / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Berliner Festspiele 2022
- Titelfoto: Orchestra e Coro dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia, Sir Antonio Pappano (Leitung), Igor Levit (Klavier)/Foto @ Fabian Schellhorn / Berliner Festspiele