
Die größte Subvention in der Kunst ist die Aufopferung der Künstler.
Singen macht Spaß. Singen macht glücklich. Dieses Glück kann man mit denen teilen, die zuhören. Die Eruption des geteilten Glücks in tosendem Applaus ist für den Sänger Bestätigung. Aber nicht nur das! Das Glücklichsein wird im Applaus verstärkt, verlängert, wird Liebe. Die Liebe zum Publikum ist ein echtes, tiefes Gefühl der Dankbarkeit für Anerkennung und Zuneigung. Singen macht glücklich. Singen macht süchtig. (Gastkommentar von Maris Morgentau)
Wer sein Leben dem Singen widmet, will aus der Berufung Beruf machen. Erst kommt privater Gesangsunterricht, dann ein jahrelanges Studium. Ist der Künstler danach gut ausgebildet, wird ihn ein erfahrener Sänger eventuell als Schüler akzeptieren, natürlich gegen Bezahlung. Eine weise Investition, wenn der erfahrene Sänger ein guter Lehrer ist. Aber selbst wenn der Lehrer dem Sänger nichts Wichtiges vermittelt, kann es sich auszahlen, und zwar dann, wenn der Lehrer einen großen Namen hat. Die Entscheider in den Theatern der zukünftigen Arbeitgeber sind oft selbst keine Musiker, sie kommen aus dem Schauspiel, der Dramaturgie, der Regie. Eines bekannten Opernsängers Name im Resümee kann dem Sänger dort eine Tür öffnen, wo der Name eines von Musikern geschätzten, dem Nichtmusiker aber unbekannter Lehrers versagt hätte.
Eine Stimme kann in diesem Beruf nur erfolgreich sein, wenn man ihr einen Namen zuordnen kann. Sänger müssen ihre eigenen Namen in die Welt tragen. Dazu gibt es unzählige Gesangswettbewerbe. Schafft der Sänger es in einen der Spitzenwettbewerbe, werden Reisekosten und Unterbringung gestellt und es gibt eine Aufwandsentschädigung, die allerdings eher Symbolcharakter hat. Kleinere Wettbewerbe hingegen kosten viel Geld. Es wird eine Teilnahmegebühr fällig, Anreise, Unterkunft, Repetition müssen vom Teilnehmer selbst finanziert werden. Nicht wenige ehemalige Sänger haben sich am Ende ihrer aktiven Karriere mit dem Abhalten eigener Wettbewerbe eine lukrative Einnahmequelle erschlossen.
Doch selbst die Wettbewerbe unter großen Namen können unerfahrene junge Sänger nicht davor schützen, buchstäblich und sprichwörtlich Lehrgeld zu zahlen, wenn sie sich einen Platz „erkaufen“ und dann feststellen, dass sie nur Kanonenfutter in einem korrupten Wettbewerb sind. Technisch gute und talentierte Sänger werden in nicht-öffentlichen Vorrunden aussortiert, damit sie die vom Veranstalter gewollten Gewinner nicht schlecht aussehen lassen. In der Jury sitzen dann Freunde und Bekannte des Veranstalters. Im Extremfall sind dort auch Repräsentanten von Opernhäusern, die mit den zukünftigen Gewinnern schon Anstellungsverträge abgeschlossen haben. Die neu engagierten Sänger sind fraglos gut, aber der Öffentlichkeit noch weitgehend unbekannt. Man schließt also einen günstigen Vertrag, schickt den Sänger zu einem Wettbewerb, in dessen Jury man sitzt. Dort adelt man den unbekannten Namen mit einem der vielen Preise oder zumindest mit der Teilnahme in der Finalrunde und lässt sich zu Hause dafür feiern, ein aufstrebendes Talent für die eigene Truppe ergattert zu haben. Die wenigen Auserwählten, denen diese Behandlung zuteilwurde, haben damit einen großen Vorsprung gegenüber dem Mitbewerber, dessen Weg in die Öffentlichkeit meist mehr Mühe erfordert.
Der Sänger bewirbt sich bei einer Agentur. Besteht dort nach Prüfung der eingesandten Unterlagen Interesse, wird der Sänger zum Vorsingen eingeladen. Reisekosten, Unterbringung, Verpflegung, Repetition und eine Gebühr für das Vorsingen und den Pianisten zahlt der Sänger. Nimmt man den Sänger auf, wird der Agent dem Sänger geeignete Stellenangebote mitteilen. Ist der Sänger interessiert, übermittelt der Agent für ihn eine Bewerbung an den Arbeitgeber. Ist dieser auch interessiert, darf der Sänger auf eigene Kosten üben, anreisen, übernachten, um dann einige wenigen Minuten vor den Entscheidern zu singen. Der Andrang der Konkurrenten ist groß. Die Kritik am Sänger ist meist subjektiv und oft verletzend oder es gibt nur ein kommentarloses „Danke“. Hatte der Sänger einen frühen Termin im oft mehrtägigen Auswahlverfahren folgt banges warten, das in den meisten Fällen mit einer Ablehnung endet. Manchmal gibt es noch gut gemeinte Kritik.
Wird der Sänger engagiert, dann meist zuerst als „Lehrling“ im Opernstudio. Der junge Sänger darf sich glücklich schätzen, in echten Produktionen vor zahlendem Publikum auf der Bühne eines echten Opernhauses kleine Rollen zu singen. Ganz wenige ergattern sogar eine Hauptrolle. Der Lohn dafür liegt weit unter dem gesetzlichen Mindestlohn, darum muss der Sänger offiziell Student sein. Zum Ende des Opernstudios kommt die erneute Suche nach einer Ensemblestelle, die von den meisten ersehnte Festanstellung an einem deutschen Opernhaus. Die Entlohnung der ersten echten Anstellung wird am untersten Ende des tariflich möglichen liegen. Selbstverständlich erhält der Agent davon seinen Anteil. Jahrelanges Studium mit Abschluss, unzählige private Kurse mit berühmten Sängern, viele Wettbewerbe – ein paar verlorene, einige gewonnene – bringen dem Sänger zu Anfang in etwa das Durchschnittsgehalt eines Supermarktkassierers ein.
Doch das fühlt sich für den Sänger zunächst nicht schlecht an. Jeder, der Singen zum Beruf macht, trifft sehr bald auf die ersten Menschen, die diese Sucht ausnutzen. Jeder Sänger ist aufgetreten, ohne dafür bezahlt zu werden. Selbst große Orchester bieten für Konzerte häufig nur eine Aufwandsentschädigung, die den Namen kaum verdient. Für den Auftritt kauft der Sänger Partituren und studiert sie ein, oft mit einem Repetitor, der auch bezahlt werden will. Nach Reisekosten, Unterkunft und Verpflegung bleibt ein erbärmliches Taschengeld, das versteuert werden muss. Singen ist schließlich ein Beruf. Da ist eine Festanstellung mit Sozialabgaben ein Fortschritt, egal wie gering bezahlt.
Arbeitsverträge werden üblicherweise für ein bis zwei Jahre abgeschlossen. Jedes Jahr bangt der Künstler um seine weitere Anstellung und hofft auf eine Gehaltserhöhung, sei sie noch so gering. Die scheinbare Sicherheit einer jahrelangen Anstellung kann abrupt enden, wenn die Intendanz wechselt. Ein Sänger kann sich nicht einfach nur auf die Arbeit in der Anstellung konzentrieren, die nächste Bewerbung muss immer im Hinterkopf sein. Er spart für den mit Sicherheit nötigen Umzug, zahlt für Ton- und Videoaufzeichnungen. Die Freude an der Musik wird immer begleitet von der Notwendigkeit, Belege für die eigene Kunstfertigkeit erbringen zu müssen.
Viele Orchester lehnen Video- und Tonaufzeichnungen kategorisch ab. Andere stimmen der Aufzeichnung zu, untersagen jedoch die Veröffentlichung. So bleibt dem Sänger von einer Aufführung neben der Freude am Musizieren und der Liebe des Publikums häufig nur der Bericht der Presse oder des Kulturbloggers. Eine gute Kritik kann den Namen bekannter machen und dessen Marktwert erhöhen. Im Idealfall ergibt sich daraus ein Interview.

In der Kultur gibt es eine paradoxe Situation: Der berufliche Kritiker, bezahlt von einem etablierten Medium, sei es Fachmagazin, Zeitung, Radio oder Fernsehen, genießt das größte Ansehen. Sein Wort hat das meiste Gewicht. Für ihn, nicht für das Publikum, wird inszeniert. Dabei handelt es sich bei diesen Autoren häufig um einen beauftragten gelernten Journalisten, ohne musikalischen und kulturaffinen Hintergrund. Die wahrhaftigsten Rezensionen, die eine echte Publikumserfahrung widerspiegeln, werden vom Amateur verfasst. In vielen kleinen, mittleren und großen Blogs und Online-Magazinen schreiben Menschen, die die Kunst wahrhaft lieben mit Begeisterung und mit oft über Jahrzehnte gewachsenem Sachverstand. Den Sängern gleich, die mit unvernünftig erscheinenden finanziellen Vorleistungen ihre eigene Kunst subventionieren, arbeiten die freiwilligen Autoren unbezahlt und aus Liebe. Der Lohn dafür sind Anerkennung, ab und an eine Freikarte, und persönlicher Kontakt zu Künstlern.
Der Sänger wiederum hat Angst vor dem Kritiker. Sein Wort hat Macht. Ein einzelnes Adjektiv kann eine ansonsten neutrale oder sogar gute Rezension zur emotionalen Fallgrube machen. Gravierender als verletzte Eitelkeiten und Selbstzweifel sind jedoch Konsequenzen für die Karriere. Harsche Worte können das Ende einläuten. Der Sänger schätzt und braucht den Kritiker aber auch und hofft auf dessen Anwesenheit im Publikum. Die Liebe zur Musik verbindet, und wenn ein Kritiker ähnliche musikalische Vorlieben gezeigt hat, ist seine Anerkennung eine Wegmarke, die dem Sänger zeigt, dass er sich noch auf dem richtigen Pfad bewegt. Lobt der Rezensent den Sänger, kann dies den Aufstieg bedeuten.
An jeder einzelnen Stelle in der Karriere eines Sängers gibt es für jeden aufrichtigen, edlen, hilfreichen Wegbegleiter Dutzende, die den Sänger aus Eigennutz übervorteilen. Es ist das Bedürfnis zu Singen, dass es ermöglicht, Sänger mit Almosen abzuspeisen. Es ist die Sucht, die den Sänger dazu bringt, die Ungerechtigkeiten zu ignorieren.
Im COVID-19-Lockdown sind die Sänger nicht verstummt. Sie singen noch, leise. Denn die Nachbarn sind auch zu Hause und Operngesang ist laut. Glücklich ist, wer sich selbst auf einem Klavier begleiten kann. Für die andern haben Apps wie Accompanist Hochkonjunktur, mit denen sie ungeachtet des erbärmlichen Klangs ihre Arien und Rezitative singen können.
Trotz des Abstandes sind Künstler näher zusammengerückt. Sie reden online, tauschen sich aus, versuchen, die Kunst nicht aufzugeben. Und jeden Tag gibt es neue Nachrichten von Betrügern und Scharlatanen, die Künstlern in der Not noch das Geld aus der Tasche ziehen. Ehemals glorreiche Institutionen zeigen ihr wahres, unsolidarisches Gesicht. Aufgrund der Pandemie online abgehaltene Vorsingen und Wettbewerbe können nicht mehr verbergen, dass sie schon immer die ärmsten und schwächsten der Branche ausweiden. Sie haben wichtige Ausreden für ihre Gebührenforderungen verloren, wie die Anreise und Unterbringung der Jury. Die zwangsläufige Öffentlichkeit von online Veranstaltungen hat lange etablierte Muster der Ausbeutung aufgedeckt. Sänger sind erschüttert. Desillusioniert blicken sie auf ihre zerstörten Träume.
Künstler widmen ihr Leben den wunderbaren, teilbaren Momenten der gemeinsamen Erfahrung. Die wenigsten Sänger sind auf lange Sicht damit finanziell erfolgreich. Sie ignorieren lange Zeit das finanzielle Opfer, das sie bringen. Aber die meisten geben früher oder später ihre Kunst auf. In der Pandemie ist das Teilen mit anderen Musikern und dem Publikum in die kalte Anonymität der Onlinewelt verbannt. Gemeinsames Erleben findet nicht statt. Damit fehlt dem Künstler die wichtigste Belohnung, der wichtigste Beweggrund. Das öffnet vorzeitig viele Augen, macht klar, dass keine soziale Absicherung existiert. Den Künstlern wird bewusst, das sie für ihre Opfer an Lebenszeit, Geld und Familienglück nie eine adäquate Belohnung erhalten haben. Wer jung genug ist, sattelt bereits um oder denkt darüber nach. Mit der Ahnung, dass die verlorenen Jahrzehnte im Alter eine miserable Rente bedeuten werden. Ältere haben Angst.
Es ist zu hoffen, dass die Künstler, die die emotionale Ausdauer und finanzielle Kraft hatten, ihre Kunst nicht aufzugeben, mit einer neuen Stärke aus der Pandemie heraustreten und eine neue, gerechtere Kulturlandschaft bestellen. Künstler sind keine zur Dankbarkeit verpflichteten Subventionsempfänger. Sie erschaffen glückliche Momente, aus Liebe zum Publikum, für die Liebe des Publikums. Sie verdienen es, dass die Gesellschaft, die Gemeinschaft, sich an diese Liebe und das Glück erinnert, wenn Künstler in Not geraten.
Die größte Subvention in der Kunst ist die Aufopferung der Künstler.
- Gastkommentar für DAS OPERNMAGAZIN von Maris Morgentau
- Titelmotiv: Trouble Clefs, © Stefan Romero Grieser 2021
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Ein Gedanke zu „Ars gratia artis?“