Generationswechsel beim WDR-Sinfonieorchester
Erstmalig gibt das Orchester eine Zugabe: Der Jubel über das gelungene Konzert mit dem gewaltigen Schlusschor des „Te Deum“ will nicht verebben, die Blumensträuße an die Solisten sind schon verteilt, da hebt der Maestro noch einmal den Stab und es erklingt eine Melodie, bei der alle rätseln, was das sein könnte: es ist die Legende Nr. 10 von Antonin Dvořák, entstanden 1881 als Klavierstück und 1882 orchestriert. Das kannten die wenigsten Zuhörer. (Rezension des besuchten Konzertes vom 6.9.2019)
Erstmalig schreibt der Dirigent seine Gedanken zu den Stücken, die er ausgewählt hat, in das Programmheft, und erstmalig tritt er in der halbstündigen Einführung vor dem Konzert (mit Nicolas Tribes als Stichwortgeber und Übersetzer) als Moderator auf.
Erstmalig werden die Tonbeispiele nicht von einem WDR-Techniker eingespielt, sondern Mǎcelaru startet sie mit seinem Tablet.
Christian Mǎcelaru eröffnet seine Zeit als Chefdirigent des WDR-Sinfonieorchesters mit einem Referenzstück – Mahlers 4. Sinfonie ist Standardrepertoire des WSO, immer wieder neu interpretiert und gerne gehört, aber das hochromantische „Te Deum“ mit einer Aufführungdauer von ca. 20 Minuten kann man als Bereicherung des Repertoires begreifen.
Die Musik der Zeit kommt zum Tragen mit Jörg Widmanns „Tanz auf dem Vulkan“, das mit einer Foxtrott-Melodie beginnt und endet, während dazwischen der Vulkan, verkörpert durch das Orchester mit fünf Schlagzeugern einschließlich Windmaschine grollt, brodelt und bedrohlich eskaliert. Es ist eine stark rhythmische Eruption von Bläserläufen und perkussiven Explosionen, bei denen auch Strawinskys Ballett „Le Ssacre du printemps“ zitiert wird.
Das Stück wurde von Jörg Widmann als Auftragskomposition zum Abschied Simon Rattles von den Berliner Philharmonikern 2018 komponiert und von Mǎcelaru kurzfristig in das Programm genommen. Er zeigt damit, dass er auch für Musik der Zeit steht und dass er das WDR-Sinfonieorchester als Mitbewerber der Berliner Philharmoniker begreift.
Seine Reflektionen über die Zukunft der klassischen Musik teilt er dem Publikum mit: Mahler sei in seiner 4. Sinfonie wieder zu einer überschaubaren Länge zurückgekehrt, er setzt dagegen im Interview Schönbergs „Verklärte Nacht“ und den Beginn der eher akademischen Zwölftonmusik. Immerhin ist er seit 2017 Musikdirektor des renommierten Cambrillo Festival of Contemporary Music.
Die 4. Sinfonie von Mahler sei eins seiner Lieblingsstücke, er habe schon vor drei Jahren gewusst, dass er damit beginnen wolle, gibt es doch den Stimmführern, allen voran dem Konzertmeister José Maria Blumenschein, dem Cellisten Oren Shevlin, dem Hornisten Bertrand Chatenet, dem Klarinettisten Thorsten Johanns und dem Trompeter Peter Mönkediek wunderbare Gelegenheiten zu glanzvollen Solopassagen.
Mǎcelaru sagt über diese Sinfonie: „Die Komplexität liegt in der Einfachheit des Gedankens.“ Mahler benutzt die Motive des vierten Satzes in den vorhergehenden drei Sätzen. Er erzeugt die Gefühle von Glückseligkeit und Licht, die er in der Kindheit verortet. Im Scherzo im zweiten Satz, das von der um einen Ton höher gestimmten ersten Geige (herausragend: José Maria Blumenschein) akzentuiert wird, beschwört Mahler die Kakophonie von Trinkliedern und schrägen Tanzmelodien mit Militärkapellen in seiner Heimatstadt Jilava als Totentanz.
Im langsamen 3. Satz kommt ein meditativer Aspekt, die Aufhebung von Zeit, dazu, dass man komplett der Zeit enthoben ist, was für ihn Natur repräsentiert. Er möchte dem Publikum das Gefühl geben, „to just be“.
Das naive Kinderlied „Das himmlische Leben“ im 4. Satz, gesungen von der großartigen lyrischen Sopranistin Simona Šaturová, thematisiert die Idee, Glück als den kindlichen Blick auf den Himmel zu verstehen. Er arbeitet mit kindhaft einfachen Mitteln wie mit den Melodien von Kinderliedern, die jedoch durch dissonante Einwürfe konterkariert werden.
Hier steht einer am Pult eines der besten Sinfonieorchester Deutschlands, der eine Geschichte erzählt und dieses Ensemble hochkarätiger Solisten so koordiniert und steuert, dass ein beglückendes Gesamterlebnis entsteht.
In der Pause ist man sich einig, dass man Mahlers Musik lange nicht mehr so dynamisch und perfekt akzentuiert, so ergreifend gehört hat. Mǎcelaru hat eine Botschaft, und er erzählt eine Geschichte.
Christian Mǎcelaru erreicht nach der Pause eine fulminante Steigerung mit Widmanns „Tanz auf dem Vulkan“, als düstere Vision der Unruhe und Hysterie unserer Zeit, gefolgt von Dvořáks eher selten gespielten „Te Deum“ als freudig-festlichem Lob Gottes.
Mǎcelaru bekennt sich damit unmittelbar zur Spiritualität, die Kunst, Musik und Tanz innewohnt. Dvořáks Musik zeichnet sich durch wunderschöne Melodien aus – sein Cellokonzert und die 9. Sinfonie „aus der neuen Welt“ gehören zu den populärsten Konzertstücken überhaupt, seine Oper „Rusalka“ wird an den Opernhäusern in aller Welt, in der letzten Spielzeit auch in Köln, aufgeführt.
Dvořák komponierte das „Te Deum“ für das National Conservatory in New York City, dessen Leitung er 1892 übernahm und das ihm enorme Wertschätzung entgegen brachte. Mǎcelaru: „In einem Jahr in New York verdiente Dvořák mehr als in seinem ganzen früheren Leben.“
Das „Te Deum“, ursprünglich sakrale Musik zum Lob Gottes mit lateinischem Text, entwickelte sich im 19. Jahrhundert zu einem reinen Konzertstück, das Komponisten wie Verdi, Berlioz, Bruckner und Dvořák vertonten.
Dvořáks „Te Deum“ war ein Auftragswerk von Jeanette Thurber, der Gründerin des National Conservatory, New York. Da der ursprünglich vorgesehene Text, eine Kantate auf Amerika, Dvořák nie erreichte, komponierte der gläubige Katholik Dvořák kurzerhand das lateinische „Te Deum“ und drückte darin sein zutiefst empfundenes Glück über seinen erfolgreichen Start in der „Neuen Welt“ aus. Die Partitur, die er noch in seiner Heimat, dem tschechischen Vysoká vollendete, versah er am 28. Juli 1892 mit der Widmung: „Komponiert zu Ehren des Gedenkens an Kolumbus“.
1892 wurde das Werk der Weltöffentlichkeit präsentiert. Die Uraufführung des “Te Deum“ fand mit 250 Chorsängern in der Carnegie Hall statt, in der Kölner Philharmonie waren der Bayerische Rundfunkchor und der WDR-Rundfunkchor aufgeboten, die zusammen mit der Sopranistin Simona Šaturová und dem Bariton Michael Nagy das feierliche Ausdrucksspektrum des Konzertstücks, das mit einem drängenden Paukensolo beginnt und mit einem gewaltigen Schlusschor endet, voll ausloteten. Michael Nagy und Simona Šaturová hoben sich mit ihren starken Stimmen strahlend vom Chor und vom Orchester ab.
Christian Mǎcelaru ist als jüngstes von 10 Kindern einer rumänischen Musikerfamilie 1980 in Temesvar (Rumänien) geboren und debütierte mit 19 Jahren als Geiger in der Carnegie Hall. Für internationale Aufmerksamkeit sorgte er 2012, als er beim Chicago Symphony Orchestra für Pierre Boulez einsprang.
Die Chemie zwischen Mǎcelaru und dem WDR-Sinfonieorchester scheint auf jeden Fall zu stimmen. Als er als Gastdirigent 2017 mit dem Orchester Stravinskys „Le sacre du printemps“ probte war er über das Niveau des ersten Durchspielens angenehm überrascht und hat sich wohl in das Orchester verliebt.
Von ihm kann eine spannende Programmgestaltung erwartet werden. „Wenn Musik Emotionen weckt und das Publikum diese spiegelt, entsteht immer etwas Größeres.“
Mǎcelaru wohnt seit kurzem mit seiner Familie in Bonn-Bad Godesberg, gastiert aber häufig in Europa, Kanada und in den USA mit Orchestern wie dem Philadelphia Orchestra, dem Concertgebouw Orchestra, dem Gewandhaus-Orchester Leipzig und dem Orchestre National de France.
Das Konzert ist bis zum 7.10.2019 im wdr 3 Konzertplayer abrufbar und wird am 15. September 2019 um 8.40 Uhr im WDR Fernsehen ausgestrahlt.
- Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- WDR Sinfonieorchester
- Titelfoto: Cristian Măcelaru / Foto @ Joern Neumann