
Rossinis „La Cenerentola“, eine auf Charles Perraults „Cendrillon“ basierende Fassung der Aschenputtel-Geschichte mit Libretto von Jacopo Ferretti, in der zwar alle magischen Elemente entfernt, dafür umso mehr Witz und Heiterkeit ergänzt wurden, ist wohl bekannt. Als Märchen, dem es grundsätzlich zu eigen ist, eine gewisse Zeitlosigkeit zu besitzen, vermag es diese Oper, in eine andere, über alles Zeitliche hinausgehende oder dieses sogar aufhebende Welt zu entführen. Aufgrund neuerer, teilweise in sich durchaus gelungener Regieansätze, die bewusst alles Märchenhafte zu abstrahieren versuchen, ist es jedoch selten geworden, die Geschichte der Cenerentola in einer solch unverstellten, bezaubernden Weise zu sehen, wie es an der Bayerischen Staatsoper der Fall ist. Die ebenso wie das zugrundeliegende Werk zeitlose Inszenierung von Jean-Pierre Ponnelle, die seit vielen Jahren zum Repertoire des Hauses gehört, sorgt, belebt durch eine herausragende Besetzung in allen Rollen und ein vor Energie sprühendes Orchester, für einen wahrlich magischen Abend. (Besuchte Vorstellung am 6. April 2025)
Una volta c’era…
…Jean-Pierre Ponnelle, dessen Inszenierung von „La Cenerentola“ zu Weihnachten des Jahres 1980 in München Premiere feierte und seitdem, nach zwei Jahrzehnten Pause, beinahe in jeder Spielzeit am Programm steht. Anders als Clorinda und Tisbe angesichts des von Angelina in schier ewiger Wiederholung gesungenen Liedes möchte man darauf aber nicht mit einem genervten, sondern einem begeisterten „E due, e tre!“ reagieren, denn es handelt sich um eine Produktion, die durch ihre märchenhafte, dabei aber nicht überzogene Ästhetik, ihr großes Gespür für Witz und Komik, vor allem aber durch ihre geschmackvolle, authentische und tatsächlich zeitlose Art der Erzählung des Märchens überzeugen, begeistern, zum Lachen bringen, aber auch berühren und Wärme verspüren lassen kann. Authentisch ist Ponnelles Inszenierung nicht nur, weil sie sehr genau entlang des „authentischen“ Librettos und dessen Regieanweisungen vorgeht, sondern vor allem aufgrund ihres hohen Maßes an Natürlichkeit, die zwar in diesem Werk gelegentlich auch gewollte Exaltiertheit bedeutet, selbst dabei aber nie zu einer geschmacklosen Übertreibung verkommt. Dieser Eindruck entsteht zwar auch maßgeblich durch die entsprechende Gestaltung des Ensembles, wird aber bereits durch das Bühnenbild erweckt, das Ponnelle, wie auch die Kostüme, selbst entworfen hat. Die Szenerien, ob Don Magnificos im Verfall begriffenes „Schloss“, Don Ramiros romantisches tatsächliches Schloss, dessen Einfahrt oder der prunkvolle Ballsaal, bestehen aus kunstvoll gestalteten dünnen Wänden, die im Stil detaillierter, fantasievoller Zeichnungen die jeweiligen Räume zeigen und sofort das Märchenhafte dieser Geschichte spüren lassen. Es verfällt jedoch nicht dem puren Kitsch – schließlich ist man in der Oper und nicht im Disney Land –, die zweidimensionale Gestaltung, die durch geschicktes perspektivisches Spiel auch Raumtiefe und -struktur entstehen lässt, macht mit dem Inhalt des Märchens zugleich dessen Wesen als erzähltes deutlich und weckt so die Impression, man würde in einem schön illustrierten Märchenbuch lesen und durch die Lektüre völlig in die Geschichte hineingezogen werden. Ergänzt wird das Bild durch jeweilige Räume, in denen Don Magnifico entrüstet aus seinem Traum geweckt wird, Clorinda ihre unvergleichlich anmutsvollen Tanzschritte ausführt, Tisbe sich an ihrer eigenen Schönheit erfreut – oder Cenerentola mühevoll vor dem Kamin den Haushalt aufrecht zu erhalten versucht, später der fürstliche Weinkeller von ersterem quasi leergetrunken wird oder sich die Hofgesellschaft zum Ball versammelt, um bei Ankunft der schönen Unbekannten in bewunderndes Staunen zu fallen. All dies geschieht mittels durchdachter Regieführung und ausgezeichnetem Spiel mit ebenso großer Natürlichkeit, nie wird die märchenhafte Welt durchbrochen oder gar verlassen. Insgesamt gelingt eine feinfühlige Balance aus Darstellung und Andeutung, in manchem ist gezielt eine Liebe zu den kleinen Dingen zu erkennen, die so besonderen Reiz verliehen bekommen, doch nicht jedes Detail muss konkret sichtbar werden, um das Gesamtbild zu erschaffen. Wirkungs- und stimmungsvoll ist das Temporale, denn es fällt tatsächlich heftiger Regen, durch den sich die Figuren mit großen, vom Wind erfassten Schirmen kämpfen. In beinahe filmischer Manier werden bestimmte, intimere Szenen hervorgehoben, indem sie vor einem ebenso märchenartigen Vorhang spielen. Obgleich dies wohl auch durch gewisse Notwendigkeiten zur Durchführung der Szenenwechsel begründet ist, ergibt sich daraus eine Differenzierung der Perspektive, die das Geschehen, vor allem das ge- und vorgespielte, das wesentlich von Täuschungen und Verkleidungen lebt, von jenem abhebt, das innerhalb der Geschichte Einblick hinter die Kulissen gibt, so zum Beispiel die bewegende Offenbarung Alidoros an Angelina. Es sind Inszenierungen wie diese, die deutlich machen, dass es nicht zwingend eines möglichst realistischen, zur Gänze ausgestalteten Bühnenbilds bedarf, um eine Geschichte zum Leben zu erwecken und eine Wirklichkeit zu erschaffen, die das Publikum zum Träumen anregen kann.
Sposa carissima per lui sarà!

In dieser gelungenen Kulisse entspinnt sich nun die Geschichte der Cenerentola, die sich, anders als ihre eher oberflächlich veranlagten Stiefschwestern, die den für einen solchen gehaltenen Prinzen erobern wollen, in den vermeintlichen Diener verliebt. Durch die Hilfe des weisen Philosophen Alidoro kann sie doch noch auf dem Ball im fürstlichen Lustschloss erscheinen, denn dieser hat ihr gutes Herz erkannt und weiß natürlich, dass der Prinz der Diener und der Diener der Prinz ist, sie also die zukünftige Braut des letzteren sein kann und soll. Dagegen können weder Don Magnifico, dessen Adelsname weit mehr Omen ist als sein gebräuchlicher, denn für ihn, der gerade noch völlig absurd von Reichtum, an Geld wie Wein, geträumt hat, entwickelt sich die ganze Sache doch als ziemliches Fiasko – wobei er dieses immerhin im Sinne der Flasche reichlich erhalten hat –, noch die nicht besonders weit denkenden Schwestern etwas tun. Als die Verwirrung schließlich aufgedeckt wird und Don Ramiro seinen geliebten Engel am Armreif erkannt hat, müssen die drei Verlierer ihren bitteren Stolz schlucken und erkennen, dass sie in diesem nur aus ihrer Sicht ernsten Werben keine Chance hatten – noch mehr aber, dass Liebe nicht mit Schönheit oder anmutigem Tanze errungen, sondern nur als unverhofftes und unverdientes Geschenk empfangen werden kann. Die Kostüme nach Ponnelles Entwürfen vertiefen durch ihre kontrastierende Gestaltung die verschiedenen Figurentypen und -konstellationen. Während Don Ramiro und sein Gefolge in eleganter, romantischer Mode des 19. Jahrhunderts mit starkem Dandy-Einschlag gekleidet sind, dies vom kostümierten Dandini, in spielerischem Anklang an seinen Namen, auf die beinah groteske Spitze getrieben wird, sind Don Magnifico und seine Töchter noch ganz der barocken Adelsmode mit auffälligen Farben, glänzenden Stoffen, weit ausgestellten Röcken und engen, die Vorzüge besonders betonenden Korsetten, Jabots des Rokoko, weiß gepuderten Gesichtern und Perücken zugetan. So wird bereits durch die Mode sichtbar, wie unterschiedlich gesinnt die einzelnen Figuren sind: Den einen geht es mehr um Schein, dem keine Manieriertheit zu viel ist, die anderen beweisen, abgesehen von Dandini in bewusster Übertreibung, um den gewünschten Effekt zu erzielen, schon, aber nicht nur in der Mode wahre Eleganz. Angelina schließlich verwandelt sich auch äußerlich vom Aschenputtel zur Prinzessin und legt die staubigen, einfachen Gewänder ab, um für den Ball in ein traumhaftes Kleid zu schlüpfen. Am Ende erstrahlt sie im edlen Brautkleid, das aber angesichts ihrer Güte, durch die sie denen vergeben kann, die sie zuvor missachtet und unwürdig behandelt haben, in den Hintergrund tritt. Die Wirkung der versöhnenden Liebenswürdigkeit wird auf besondere Weise spürbar, wenn zuletzt alle zusammentreten, um den Moment fotografisch festzuhalten und so seine Dauer unbegrenzt werden zu lassen.
Zauberhafte Töne und strahlende Stimmen

Diese zwar ältere, aber wohl niemals veraltete, eben zeitlose, und äußerst gelungene Inszenierung könnte ihre Kraft jedoch nur bedingt entfalten, wenn es nicht ein Sängerensemble gäbe, das seinesgleichen sucht. Obgleich bei solchen Begriffen Zurückhaltung geboten ist, lässt es sich kaum anders sagen, als dass diese „Cenerentola“ gesanglich auf einem Niveau war, das in dieser alle Rollen umfassenden Fülle selten zu finden und geradezu perfekt ist, dazu außerdem für berührendes wie unterhaltsames Spiel sorgte, in dem allen Beteiligten die Freude anzumerken ist, mit der sie sich diesem Werk widmen. Mit seinem Debut als Don Ramiro hat Jonah Hoskins vollen Erfolg. Als eleganter, zurückhaltender Prinz kann er sich auch passend in die vorübergehend eingenommene Rolle als Diener fügen. Mit stets präsenter, aber fein nuancierter Stimme wechselt er zwischen zarten, schmiegsamen Klängen, leichtfüßigen Rezitativen und kräftig strahlenden Tönen, die nie an Qualität verlieren, in den hohen Passagen sogar noch mehr Kraft gewinnen. Spätestens bei der Arie „Sì, ritrovarla io giuro“, in der er mit scheinbarer Leichtigkeit und gänzlich ohne metallische Force in die Höhen gelangt, dürfte es niemanden mehr verwundern, warum Angelina ihr Herz an ihn verschenkte. Ihm ebenbürtig ist Ensemblemitglied Andrew Hamilton als Dandini, mit großer Heiterkeit und sichtbarem Spaß an der Übertreibung seiner Fürstlichkeit. Schon bei seiner Auftrittsarie überzeugt er mit durchtragenden Phrasierungen und weichem Klang, bevor er die Beweglichkeit seiner Stimme beweist und in höchster Präzision durch Triolen und Koloraturen wandelt. Als großartiger Don Magnifico erweist sich Misha Kiria, der über grandioses schauspielerisches Talent mit hohem Gespür für Komik verfügt und allein mit seiner Mimik für lustige Momente sorgen kann, sodass selbst die eigentlich bedrohlichen Äußerungen des werten Barons nur lächerlich wirken. Diese Gestaltung setzt sich auch in der stimmlichen fort, rasant und mit äußerst genauer Artikulation gelangt er in den Arien zur Höchstform, ebenso verleiht er in den Rezitativen mit gekonnt gewählter Tonsprache seiner Figur weitere Kontur. Elene Gvritishvili, Mitglied des Opernstudios des Hauses, gibt eine beinahe charmante Clorinda, bei der jeder Ton sowohl in der Artikulation als auch der Klangfarbe sitzt und die den Charakter der einen Stiefschwester variantenreich durch das Stück hindurch entwickelt. Die andere, Tisbe, wird von Simone McIntosh gewitzt und in schöner Harmonie mit Gvritishvili gesungen, auch dies ein zur Gänze gelungenes Debüt. In München bereits als ehemaliges Ensemblemitglied bekannt, sprang Tara Erraught recht kurzfristig als Angelina ein, und diesem Umstand ist zu danken, denn sie ist eine hinreißende Cenerentola, die das Bezaubernde des Märchens schon allein in ihrer Figur spürbar werden lässt. Mit zu sowohl dunkler als auch hell leuchtender Färbung fähigem Mezzosopran bietet sie einen stets weichen, gefühlvollen Klang, der die lyrischen Arien ebenso wie die virtuosen Koloraturen zum Leben erweckt. Als Alidoro schließlich durfte man Roberto Tagliavini erleben. In höchster Eleganz und mit einer an Proust erinnernden Ausstrahlung, die ausgezeichnet zu der sich zwar zurückhaltenden, alles beobachtenden und auch verstehenden, zugleich aber bedeutenden Position der Rolle passt, strahlt er eine unaufdringliche Präsenz aus, die durch seine kraftvolle, doch immer warm und sensibel gestaltete Stimme nur verstärkt wird. Beeindruckend ist die zentrale Arie des Alidoro, „Là del ciel nell’arcano profondo“, die Tagliavini mit solcher Tiefe und Feinfühligkeit singt, dass die Töne und Worte unmittelbar berühren. Selten ist eine in allen Rollen so hervorragende Besetzung zu hören, die auch in den Ensemblestellen von ihrer höchsten Qualität überzeugt und so das Sextett „Siete voi?“ zu einer der faszinierendsten Stellen des Abends macht.

Nicht weniger beeindruckend sind der klangvolle Herrenchor der Staatsoper und besonders das Bayerische Staatsorchester, das unter der Leitung von Gianluca Capuano die sowohl ausgelassen freudige als auch zarte, emotionale Musik Rossinis mit größter Energie und Flexibilität in Dynamik und Artikulation erklingen lässt. Bereits die Ouvertüre startet in rasantem Tempo, das das gesamte hindurch Werk beibehalten wird, jedoch ohne je zu eilig und flüchtig zu werden. Zugleich bewahrt das Orchester eine beeindruckende Wendigkeit, die nur durch wirklich gemeinsames Musizieren zu erreichen ist. Beinahe selbstverständlich wirkt das hellhörige und fein gestaltete Zusammenspiel mit den Sängerinnen und Sängern, wodurch eine Homogenität gerade in der Differenziertheit entsteht, die die Partitur lebendig werden und den Witz Rossinis hören lässt. Jeder Ton besitzt eine spritzige Vitalität, niemals wird es unkontrolliert oder beliebig, stattdessen ist das gesamte Werk unter Bewahrung von größter Natürlichkeit durchgestaltet, welche auch Capuano selbst ausstrahlt, wenn er präzise und fein nuanciert das Orchester leitet. Dabei wird dennoch der Eindruck erweckt, als würde niemand den anderen lenken, sondern aufmerksam und hellhörig gemeinsam gestalten. Hervorzuheben ist zudem Fabio Cerroni am Hammerklavier, der den Orchesterklang färbt und virtuos durch die Rezitative führt. Auch in diesen verliert die Aufführung nie an Esprit und Witz, immer wieder bereichern einfallsreiche Gestaltungen und die Erzählung unterstreichende Interpretationen den Gesamtklang.
Una grazia, un certo incanto…
Wenn eine solch hervorragende, vielseitige und interpretationsreiche gesangliche Darbietung im Verein mit einem sich zu höchster Lebendigkeit aufschwingenden Orchester auf eine Inszenierung trifft, die das Märchen als solches erkennt und erzählen will, dabei weder der Überformung durch von außen herangetragene Ideen noch einer kitschigen Überzeichnung verfällt, sondern in feiner, ästhetisch ansprechender, edler Gestaltung einen bezaubernden Rahmen für das Geschehen bietet, entsteht eine Aufführung, die tatsächlich als magisch zu bezeichnen ist. So wird es möglich, gänzlich in die Welt des Märchens einzutauchen und diese zu genießen, ohne sich selbst und die Realität darin zu verlieren, sondern stattdessen zu erfahren, dass darin vieles zu finden ist, das zeitlos etwas zum Schwingen bringen kann. Es benötigt deshalb wohl keiner Zauberei in Gestalt von guten Feen oder wundersamen Tieren: Die wahre Magie der „Cenerentola“ liegt in ihrer unterhaltsamen wie berührenden Geschichte, an deren Ende mit der Güte auch die Liebe triumphiert, und in ihrer Musik, noch viel mehr aber in der Wirkung, die diese im Herzen entfalten kann.
- Rezension von Elena Deinhammer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Bayerische Staatsoper / Stückeseite
- Titelfoto: Bayerische Staatsoper München/LA CENERENTOLA/T. Erraught/La Cenerentola 2025 | Foto: © Geoffroy Schied