„Werther“,diesen Namen verbinden viele heutzutage sicher eher mit schnell vergänglichem, süßen Genuss, als mit nie endenden, bitterem Leid. Bei der Premiere von Jules Massenets gleichnamiger Oper litt der Genuss der Fülle schöner Melodien unter anderen unter der kompletten Leere der Bühne und dessen, was Regisseurin Sandra Leupold dort erzählen ließ. Richtete sie sich doch in ihrer Interpretation eher nach Goethes autobiografisch angehauchten Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“, als nach dem Libretto der Oper, die am 16. Februar 1892 an der Wiener Hofoper ihre Uraufführung hatte, in der deutschsprachigen Fassung von Max Kalbeck. (*Rezension der Premiere vom 16.11.2018)
Goethe, wie Massenet, erzählen in ihren Werken die Geschichte des jungen Werther und seiner unglücklichen Liebe zu Charlotte, der ältesten Tochter des Amtmann, die jedoch ihrer Mutter am Totenbett versprach, einen anderen, nämlich Albert zu heiraten. Sie hält sich an dieses Versprechen, was Werther in die Ferne treibt, von wo aus er ihr immer wieder schreibt. Endlich dann an Weihnachten kehrt er zurück, nur um endlich den Freitod wählen, mit dem er schon lange liebäugelte. Bei Goethe ist Charlottes Liebe zu Werther, die einer Schwester und bleibt dies auch bis zum Schluss, obwohl sie unwissentlich mit ihm kokettiert. Massenet jedoch entschied sich dafür, dass Charlotte wahre Gegenliebe empfindet, dies aber in aller Konsequenz, erst ganz am Ende erkennt.
Leupold geht, wie unter anderem in ihrer selbstverfassten Inhaltsangabe zu lesen, so weit zu sagen, dass Charlotte nicht nur „fürchtet, sondern hofft, Werther würde sich endlich erschießen.“
An dieser Überzeugung hält sie von Anfang an fest. Was zur Folge hat, dass sie da, wo Text und vor allem Musik uns Mitgefühl schenken, uns schweben lassen wollen auf tiefen wahren Gefühlen, die trotz aller Tragik erwärmen, wir uns eher fremdschämen. Denn was da auf der komplett leeren Bühne geboten wird, ist teilweise gelinde gesagt eine Frechheit, da es alles ins Lächerliche zieht. So wirkt Werther bei seinem Liebesgeständnis am Ende des ersten Aktes, wo die Musik voller süßer Qual ist, wie ein hechelnder Hund, was noch dadurch bestärkt wird, dass er neben Charlotte kniet und sich von ihr den Kopf tätscheln lässt. Auch wenn Charlotte, einen Brief Werthers im wahrsten Sinne des Wortes herunter würgt, trägt dies nicht dazu bei sich von der Musik tragen und entführen zu lassen, sondern zerstört die Wirkung. Ja, tritt sie irgendwie mit Füßen. Dass Werther sich erst mit dem letzten Ton der Oper erschießt, hat ohne Frage eine effektvoll dramatische Wirkung, ist aber auch gegen die Handlung.
Ja, normalerweise würden jetzt Erklärungen und Interpretationen folgen, um meine Meinung zu relativieren. Diesmal kann und will ich es nicht, auch wenn es im Konzept sicher Momente gibt, die einen tieferen Sinn haben, doch nur lässt man die Musik außer Acht und übersieht und überhört Ungereimtheiten.
Über Bühnenbild (Hanna Zimmermann) und Kostüme (Jochen Hochfeld) gibt es auch nicht viel zu sagen, denn wie erwähnt, ist der Bühnenraum komplett leer. Rechtecke aus Licht von ca. 1,5 x 2 Metern Ausmaß symbolisieren das Haus. Abgegrenzt ist die Bühne zum Zuschauerraum hin mit einem eisernen Vorhang, in dessen Mitte sich eine Tür befindet und der stark an den Eingang zu großen Lagerhallen erinnert. Werther bedient diesen Vorhang. Auf seine Zeichen hin hebt und senkt er sich. Die Auftritte der Darsteller finden durch die Bühnenseiten oder den Hintergrund statt. Davor hängen semi-transparente Vorhänge, die stark an die Hygieneschleusen in Krankenhäusern oder Schlachthäuser erinnern. Die Kostüme sind an die Entstehungszeit des Romans angepasst. Auch Werther trägt die uns allen bekannte Kombination aus gelber Hose und blauer Weste, ist ansonsten aber ärmellos.
So enttäuschend die szenische Umsetzung war, so sehr überraschte die musikalische, wie auch die gesangliche. Alle Beteiligten geben ihr Bestes den musikalischen und den szenisch oft eher mechanisch als natürlichen Ansprüchen gerecht zu werden.
Dem Philharmonischen Orchester der Hansestadt Lübeck unter der Leitung von Manfred Hermann Lehner gelang vom ersten düsteren dramatischen Akkord an, angenehmen Pathos und Dramatik zu erzeugen. Besonders das Zwischenspiel zum 4. Akt, wenn Werther vor dem heruntergelassenen eisernem Vorhang mit der Waffe spielt, ging unter die Haut.
Auf der Bühne gefielen die Kinder: Thorge Fricke, Fanny Hedde, Julia Lackmann, Johannes und Paul Marquardt, Anton Schulte, Matthea Krause und Mina Wiedemann als Mitglieder der Lübecker Knabenkantorei an St. Marien und des Mädchenchors der Gemeinnützigen, ebenso wie ihre erwachsenen Kollegen in den kleineren Rollen Gerard Quinn (Amtmann), Hojong Song (Schmidt), Yong-Ho Choi (Johann), Caspar Krieger (Brühlmann) und Claire Austin (Kätchen).
Was die Protagonisten Albert, Sophie und Charlotte betrifft, fällt eine Beurteilung ihrer Darstellung und Ausstrahlung besonders schwer, da ihr Spiel von oft unerträglicher Überzeichnung geprägt war. Doch da dies mit großer Sicherheit den Regieanweisungen anzulasten ist, zählt die Leistung doppelt positiv! Also: Bravi Tutti!
Zwar ließ der südkoreanische Bariton Johan Hyunbong Choi (Albert), sich als indisponiert ankündigen, doch Alberts Arie: „Elle m’aime …“, mit geschlossenen Augen gehört, ist einer der Moment, an denen man Massenets Musik vorbehaltlos genießen kann. All ihre wunderbar lyrischen Themen, die fragmentarisch immer wieder in anderen Zusammenhängen auftauchen und so ein stets neues Ganzes erschaffen.
Die Amerikanerin Emma McNairy singt die Sophie mit glockenklarem Sopran, der ein Lächeln auf Gesicht und ein „Was für eine schöne Stimme!“, in die Seele zaubert. Umso bedauerlicher, dass die Art, wie sie zu spielen hat, eine unangenehme Diskrepanz dazu darstellt.
Ähnliches gilt Wioletta Hebrowska als Charlotte, die Polin fasziniert mit einem warmen, leicht rauchige Mezzo, der ideal zu der eigentlich mit beiden Beinen im Leben stehenden, doch durch Werther in sich zerrissenen, jungen Frau passt. Ihre Szene im 1. Akt. „Il faut nous séparer“, wie auch die „Briefszene“ im 3. Akt: „Ces lettres, ces lettres …“, waren von einer Innigkeit, die zumindest für diese Momente das Drumherum vergessen ließ.
Yoonki Baek als Titelheld jedoch gebührt die meiste Anerkennung und eine virtuelle „Standing Ovation“ für seine überragende Leistung. Es gab kaum eine Szene, in der er nicht auf der Bühne war, sogar noch kurz nach dem zweiten Akt zur Pause und vor Beginn des 3. Aktes saß er vor der eisernen Wand auf der Bühne. Dazu kommt, dass er kaum eine Szene, im Stehen sang. Selbst bei den schwierigsten Passagen, wie „O spectacle ideal..“ (1.Akt), oder bei „Lorsque l’enfant revient d’un voyage“ (2. Akt), lag er teilweise auf dem Rücken, auf der Seite oder kniete. Nur bei seiner großen Arie im 3. Akt: „Pourquoi me réveiller“ durfte er stehen. Er machte seine Sache hervorragend und einige wenige stimmliche Schwierigkeiten, besonders in den Hören, seien ihm gerne verziehen. Er hat einen sehr ausdrucksvollen Tenor, der neugierig macht ihn auch in anderen Rollen, wie Turiddu oder Cavaradossi zu sehen.
Das Publikum feierte alle, wirklich alle Beteiligten. Alles in allem bewies der Premierenabend, dass es nicht auf die Größe eines Hauses ankommt, um musikalisch Gutes zu bieten. Ich für meinen Teil freue mich, dass das Theater Lübeck und auch Yoonki Baeks Stammhaus, das Theater Kiel, so leicht von Hamburg aus zu erreichen sind.
- Rezension der Premiere vom 16.11.2018 von Birgit Kleinfeld (Hamburg)
- Alle Fotos @ Theater Lübeck – Fotograf: Olaf Malzahn
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