Eine unbekannte Trilogie
Das in Italien bedeutende Teatro Regio Torino entschloss sich, im Gedenken an den 100. Todestag von Giacomo Puccini eine Hommage an den großen Italiener in Szene zu setzen, und zwar um seine „Manon Lescaut“ herum. Man gesellte in dem herrlichen rot-weißen Saal des Teatro Regio die „Manon Lescaut“ von Daniel Auber und natürlich „Manon“ von Jules Massenet hinzu. So entstand eine Trilogie, die man in dieser Form nicht kannte, die in mehreren Serien im Oktober gespielt und in der eindrucksvollen Regie von Bernard Arnaud zu einem großen Erfolg wurde. (Vorstellungen: 16.-18. Oktober 2024)
Man setzte diese Produktion zusätzlich zum Gedenken an Giacomo Puccini unter ein ganz spezielles Thema, und zwar den Film. Turin ist die große italienische Stadt des Films, seit 1898 d i e Filmstadt Italiens und damals vielleicht sogar weltweit. Hier sind großartige Filme entstanden, und es gibt auch ein äußerst eindrucksvolles Filmmuseum in der Mole Antonelliana, ein charakteristisches, sich hoch über alle Häuser Turins erhebendes Bauwerk (Mole = sehr großes Bauwerk), das auch optisch das Wahrzeichen der Stadt darstellt, ähnlich wie der Eiffelturm in Paris. Auf vielen Stockwerken, die man wie in einem Guggenheim-Museum abgehen kann, werden Sehenswürdigkeiten und Poster aus der Filmgeschichte gezeigt. Im Untergeschoß sind die Anfänge der Kamera und des Films eindrucksvoll dargestellt. So steht also an jedem der drei Abende dezent an der Bühnenseite ein kleines Kamera-Team aus der Zeit, in der diese Opern entstanden sind, und dreht das Geschehen.
Aber auch das Regiekonzept der drei Opern beinhaltet viele filmische Elemente, die aber stets in Einklang mit der Handlung stehen. Die Bühnenbilder von Alessandro Camera sind ebenfalls in allen drei Werken einheitlich in Grau-Schwarz-Tönen gehalten, werden aber immer wieder verändert, so dass es zu keinem Einheitsbühnenbild kommt. Die Bewegung der Figuren wirkte sehr lebhaft und engagiert und auch der von Ulisse Trabacchi einstudierte und sehr stimmstarke Chor wurde von Tiziana Colombo perfekt choreografiert. Die bestens zur Szene passenden Kostüme schuf Carla Ricotti, das Licht kam von Fiammetta Baldiserri und einige Videos, die aber niemals überhandnahmen, von Marcello Alongi. So ergab sich über alle drei Abende eine einheitliche Ästhetik in der Darstellung der drei Opern, die gleichwohl ihre eigene spezifische Thematik bewahrten, die neben Musik und Gesang auch mit filmischen Mitteln interpretiert wurde.
Am ersten Abend gab es „Manon“ von Jules Massenet. Der Inszenierung lag der Film „La Vérité“ von Henri-Georges Clouzot aus dem Jahre 1960 zugrunde, in dem Brigitte Bardot mit erst 26 Jahren die Hauptrolle spielte und ihren ganz großen ersten Film-Erfolg erzielte, in einem der meistgespielten französischen Filme Anfang der 1960er Jahre. Es geht darin um die Wahrheit zu der Anschuldigung, dass diese junge Frau – in der Oper also Manon – einen Liebhaber erschossen hat. Man sieht gleich zu Beginn schon die Verhandlung im
Gerichtssaal, wo nur alte Männer über diese junge Frau zu Gericht sitzen. Clouzot wollte damit die Prüderie und das falsche Sexual-Verständnis seiner Zeit anprangern und dass eben solche Richter über ein Milieu zu urteilen haben, von dem sie gar nichts verstehen. Denn diese junge Dame, im Film Dominique und in der Oper eben Manon, verkehrte in Studenten- und Künstlerkreisen, den Richtern weitgehend unbekannt. So kommt es zu dem harten Urteil, welches schließlich zum Selbstmord der Angeklagten führt. Man sieht hinter der Bühne erhöht den Schwurgerichtsaal, und immer wieder werden Verhandlungsmomente aus dem Film eingeblendet, die die Dramatik auf der Bühne verstärken. Das passt alles sehr gut zusammen, zumal Ekaterina Bakanova mit einem in allen Lagen wohlklingenden lyrisch-dramatischen Sopran und einer umwerfend sinnlichen Darstellung die ganze Oper wesentlich gestaltet. Andrei Danilov als Des Grieux war ein kraftvoller Tenor mit guten und stabilen Spitzentönen. Es fehlte ihm aber das Charisma, um der aufregenden Gestaltung der Bakanova Paroli bieten zu können. Roberto Scandiuzzi überzeugte mit sonorem Bass nachdrücklich als Vater von Des Grieux. Björn Bürger war ein engagierter Cousin der Manon. Sehr gut arbeitete Arnaud den Hang der Freundinnen Manons und auch ihren eigenen zu Luxus und Leichtlebigkeit heraus. Evelino Pidò dirigierte das Orchestra Teatro Regio Torino mit viel Verve und bestechender Einfühlung in die schillernde und oft subtile Musik Massenets. Der Abend wurde so neben der szenischen Seite auch musikalisch zu einem Erlebnis.
Am zweiten Abend gab es dann „Manon Lescaut“ von Daniel Auber, Opéra-comique in drei Akten mit dem Libretto von Eugène Scribe – eine „Manon“ also, die man nicht allzu oft sehen kann auf europäischen Bühnen. Dieser Inszenierung legte Bernard Arnaud den Film „When a Man Loves“ von Alan Crosland aus dem Jahre 1927 zugrunde. Dieser spielt zur Zeit Ludwigs des XV., und man sieht gleich zu Beginn, wie Des Grieux Manon entführt, die von der berühmten US-amerikanischen Schauspielerin Dolores Costello verkörpert wurde. Das war eine ganz andere Schwarzweiß-Filmästhetik, aber wieder sehr passend zum Thema der Oper „Manon Lescaut“. Rocío Perez wartete als Manon Lescaut mit einem sehr beherzten Spiel sowie einem glanzvollen lyrischen Koloratursopran auf, dass es eine Freunde war, sie agieren zu sehen und zu hören. Sébastian Guèze war ihr Des Grieux mit einem gut geführten Tenor und ebenfalls sehr engagiertem Spiel. Francesco Salvadori war mit seinem guten Bass der Cousin von Manon. Guillaume Tourniere dirigierte diesmal das Orchestra e Coro Teatro Regio Torino und betonte die lyrischen Seiten der Partitur, die natürlich mit einer viel leichteren Tongebung aufwartet als jene von Massenet und Puccini. Tourniere wusste auch das dynamische Vorspiel und das Orchesterzwischenspiel im 1. Akt sehr differenziert zu musizieren. Aubers herrliche Musik erklang im Teatro Regio auf feinste Weise, und die Aufführung fand somit auch großen Zuspruch beim Turiner Publikum. Auch hier hatte der Film von Alan Crosland stets engen Bezug zur Oper.
Am dritten Abend kam schließlich der geehrte Puccini mit „Manon Lescaut“ selbst zu Wort und Ton. Die Inszenierung Bernd Arnauds hat eine starke innere Dynamik und lebte auch von zwei großen Sängerpersönlichkeiten, Erika Grimaldi als Manon Lescaut und Roberto Aronica als Cavaliere Renato Des Grieux. Sie sangen prachtvoll und heizten die schließlich ins Verderben führende Handlung der Oper bis zum bitteren Ende an. Im 3. Akt in der US-amerikanischen Wüste nach beängstigender Atlantik-Überquerung, die natürlich filmisch eindrucksvoll gezeigt wurde, wuchsen beide stimmlich über sich hinaus. An diesem Abend wurden mehrere Filme eingesetzt, „Manon“ (1940) von Henri-Georges Clouzot, „Le Quai des brumes“ (1938), „Hôtel du Nord“ (1938) und viele andere, deren Protagonisten manchmal stakkatoartig eingeblendet wurden. Einmal wurde auch nur zu einer filmischen Sequenz musiziert. Die Einschiffung der Frauen und Männer ins Exil nach Amerika war herzzerreißend gemacht und fand vor einem düster drohenden Riesentor zum Hafen in Le Havre mit den Lettern Embarquement statt. Renato Palumbo dirigierte das Orchestra e Coro Teatro Regio Torino mit großer Ruhe und sehr dezidiert auf die Sänger eingehend. Das Orchester schien dem Maestro alles von den Augen abzulesen.
„Manon“ „Manon“ „Manon“ waren drei eindrucksvolle Abende voller Spannung und mitreißendem Musiktheater der feinsten Art. In Italien steht man offenbar noch zu den alten Qualitäten der Oper als Kunstform, die in diesem herrlichen Land ja auch entstanden ist. Sicher nicht aus Zufall!
- Gastrezension von Dr. Klaus Billand für DAS OPERNMAGAZIN
- Teatro Regio Torino
- Titelfoto: Teatro Regio Torino/MANON (Massenet)/Foto: Mattia Gaido & Simone Borrasi