Auch Götter müssen mal U-Bahn fahren. Oder in Flugzeugen nicht gern gesehene Gegenstände durch die Flughafen-Sicherheitskontrolle schmuggeln. So ergeht es zumindest Wotan in Tobias Kratzers Neuinszenierung von Das Rheingold an der Bayerischen Staatsoper. In dieser Inszenierung darf er Gott sein, mit langem, altertümlichen Gewand, Flügelhelm und Speer – doch in einer Welt, in der fast keiner mehr an ihn glaubt. (Rezension der Premiere v. 27.10.2024)
Außer Wotan trägt in Tobias Kratzers Rheingold niemand mehr einen Speer als Waffe. Die Entstehung der Welt und die mythische Vorzeit, in der das Rheingold laut Libretto spielt, sind in der Münchner Neuinszenierung schon lange vorbei. Schauplatz der Inszenierung ist eine alte Kirche, deren Säulen sich grau aus der verhältnismäßigen Dunkelheit der Bühne erheben, vielleicht ein gotischer Dom. Das Thema des Glaubens ist so vom ersten Moment an gesetzt, nur gilt der eben nicht mehr unbedingt Wotan; das Bühnenbild jedenfalls mutet recht katholisch an. Und doch soll die Kirche den germanischen Göttern geweiht werden: In der Baustelle des Altars haust Wotan mit Gattin Fricka, und Familie. Die Riesen Fasolt und Fafner (Matthew Rose und Timo Riihonen) sind bei Kratzer irgendwo zwischen Priester und Zeugen Jehovas und nicht mit dem Bau einer Burg beauftragt, sondern damit, den Glauben an Wotan unter den Menschen zu verbreiten. Natürlich steckt in diesem Konzept eine Kritik an der ein oder anderen großen Kirchenorganisation: Denn während die beiden sich bei jeder Gelegenheit dramatisch betend vor Wotan zu Boden werfen, geht es ihnen am Ende eben doch vor allem um die Bezahlung.
Kratzer geht es aber vor allem darum, sich mit Wotans Status als Gott auseinanderzusetzen. Der ist schon im Libretto vom Rheingold keinesfalls selbstverständlich, sondern muss durch Verträge abgesichert werden. Verträge, an die Wotan selbst sich auch halten muss: Wenn er sich zum Beispiel von zwei Riesen eine Burg bauen lässt, muss er diese auch angemessen bezahlen, ob er will oder nicht. Das ist die Prämisse von Das Rheingold. Kratzer betrachtet Wotans Verwundbarkeit nun aus einem neuen Blickwinkel: Ein Gott, das wird in seiner Inszenierung immer wieder deutlich, kann nur dann Gott sein, wenn er von seinem Umfeld als solcher akzeptiert wird.
Und schon in der ersten Szene erscheint einer, der das nicht tut: Alberich. In Wagners Libretto ein Zwerg, der keinen Platz in Wotans Weltordnung hat, ist er hier ein Mensch – so wie alle Nicht-Götter in Kratzers Inszenierung – und zwar einer, der dem Glauben und eigentlich dem Leben abgeschworen hat: An die Wand der Kirche hat er „Gott ist tot“ gesprayt und eigentlich möchte er sich umbringen. Doch er kann sich nicht dazu überwinden, den Abzug seiner Pistole zu betätigen, bevor die drei Rheintöchter auftauchen. Die wirken dank Rainer Sellmaiers den aktuellen Modetrends angepassten Kostümen so sehr wie Teenager, dass man fast überrascht ist, als die Sängerinnen Sarah Brady, Verity Vingate und Yajie Zhang dann in perfekter Harmonie und mit erwachsenen Stimmen zu singen beginnen. Und so sieht man dann nicht, wie ein Zwerg Wasserwesen bedrängt, wovon man sich in der Regel noch distanzieren kann, sondern einen Mann mittleren Alters, der sich auf unangenehme Art drei Teenagerinnen nähert und eine sogar mit seiner Schusswaffe verletzt. So ist Kratzers Rheingold von der ersten Szene an nicht schön, aber auf unheimliche Art realistisch und irgendwie auch menschlich. Wie so oft inszeniert Tobias Kratzer nicht nur eine Oper, sondern auch die echte Welt.
Gesungen wird Alberich von Markus Brück. Er portraitiert die Partie perfekt – grenzenlos unsympathisch, aber doch menschlich voll nachvollziehbar – sowohl den Loser-Typ der zweiten Szene, der jungen Mädchen nachstellt und Gold raubt, als auch den mächtigen, reichen Alberich der zweiten. Seine größte Leistung ist zweifelsohne der letzte Auftritt Alberichs. Nackt und gefesselt spielt Brück hier einen gebrochenen Mann, einen, der am Boden liegt und doch weiter schikaniert wird. Die Erniedrigung und Wut, aus der Alberichs Fluch entsteht, sind bei ihm völlig glaubhaft. Manchmal klingt sein Gesang etwas gepresst, einzelne Silben gehen unter, aber das ist letzten Endes egal. Das, was dramaturgisch und musikalisch wichtig ist, kommt an und es gelingt Brück auch stimmlich, einen durchweg runden, tiefgründigen Charakter zu schaffen.
Seine größte Stütze hierbei ist – neben Kratzers gelungener Personenführung – Vladimir Jurowski. Das Rheingold ist in München selbstverständlich Chefsache und so steht der Generalmusikdirektor selbst am Pult des Bayerischen Staatsorchesters. Ohne dass die Musik etwas von ihrem eigenen Kunstcharakter einbüßt, ergänzt er Kratzers Konzept perfekt. Die Götter dürfen feierlich sein, hier hat das Orchester auch reichlich Pathos, doch bei den Menschen, also allen, die keine Götter sind, ist von zu großen, künstlichen Ausbrüchen keine Spur. Besonders die Szenen mit Mime und Alberich dirigiert Jurowski sehr textfokussiert, sodass den Darstellenden ein natürlicher, ja, menschlicher Sprachduktus ermöglicht wird. Die Musik wird an keiner Stelle nebensächlich, und doch wird Das Rheingold unter Jurowski zu einem höchst menschlichen Schauspiel. Sicher, auch in München bleiben die Bläser nicht ganz ohne Intonationsprobleme und Jurowskis stellenweise doch sehr langsame Tempi sind gewöhnungsbedürftig – und doch gelingt Orchester und Dirigenten ein ausgezeichnetes Rheingold.
Ein Rheingold, das bei allem Realismus nicht auf Fantasy-Elemente verzichtet, im Gegenteil. In Kratzers Inszenierung verstehen schon die Rheintöchter die Macht des Rheingolds für sich zu nutzen und wehren sich gegen Alberichs Avancen mittels Verwandlungen und Unsichtbarkeit. An einer Stelle läuft sogar eine echte Ziege über die Bühne, deren Gestalt eine Rheintochter angenommen hat. So sehr das Münchner Publikum die Ziege liebt, so wenig lässt sich aber leugnen, dass der Inszenierung durch die Zaubertricks an so früher Stelle später an Spannung fehlt. Schließlich hat Alberich auch noch seinen Verwandlungsmoment, als er in der dritten Szene Besuch von Loge und Wotan erhält, die das von ihm geraubte Gold stehlen wollen. Doch hier kennt das Publikum dann schon jeden Trick und jeden Effekt: Nebel, der Mensch verschwindet und dann erklingt entweder seine Stimme oder es erscheint ein Tier. Der Effekt von Alberichs Verschwinden geht völlig unter, die Lindwurm-Verwandlung wirkt nur deshalb, weil Mimes Hund die Begegnung mit dem Riesenwurm nicht überlebt – und vielleicht die Tatsache, dass der tote Hund unterstreicht, wie wenig sich die Götter wirklich für die interessieren, denen sie laut eigener Aussage helfen wollen. Denn während Wotan und Loge mit dem gefangenen Alberich abziehen, bleibt Mime (macht jetzt schon Lust auf seinen großen Auftritt im Siegfried: Matthias Klink) mit seinem toten Hund noch mehr allein zurück als sonst.
Und so erzeugt Alberichs Verwandlung in eine Kröte weniger Aufmerksamkeit als der Versuch Loges und Wotans, das Tier durch die Sicherheitskontrolle am Flughafen zu schmuggeln. Weil es in der Inszenierung um Götter und Menschen geht, ist Wotans Reise nach Nibelheim eine Reise durch die Menschenwelt, die Kratzers kongenialer Partner, der Videokünstler Manuel Braun (zusammen mit Jonas Dahl und Janic Bebi), humorvoll und episodisch umgesetzt hat. Auf einer Leinwand sieht man unter anderem: Wotan, der um weniger aufzufallen, einen modernen Anzug angepasst bekommt, aber auf seinen Flügelhelm besteht. Wotan, der auf einer Parkbank aus einer Tupperdose Freias Äpfel isst und natürlich Wotan, der völlig entnervt in einer U-Bahn steht – und nach geglücktem Goldraub Wotan, der eine Kröte in einer Tupperdose herumträgt. Irritierte Blicke von Passanten inklusive. Die Videos sind nicht nur amüsant, sie erzählen auch besser als jede Bühnenhandlung, wie weit entfernt Wotan von den Menschen der heutigen Zeit eigentlich ist. Die perfekte Symbiose aus Szene und Video, die Kratzer und Braun einst im Bayreuther Tannhäuser geschaffen haben, bleibt aber unerreicht. Dort war das Video wirklich Teil der Inszenierung, hier sind Video und Bühnenhandlung trotz aller Bezüge sehr deutlich voneinander getrennt.
Den Wotan gibt auf der Bühne wie im Video Nicholas Brownlee. Als Gott ist er eine Präsenz. Seine dunkle Baritonstimme erfüllt scheinbar mühelos den Saal und fordert durchaus Respekt ein. Auch seine Diktion lässt keine Wünsche offen. Darstellerisch aber entlockt er Wotan durchaus Unsicherheiten und betont so die bei Kratzer herausgestellte Absurdität der Tatsache, dass hier einer ein Gott ist und trotzdem um seine Machtstellung kämpfen muss. Weniger deutlich wird das komische Potenzial des ewigen Geplänkels mit Gattin Fricka, die in Kratzers Inszenierung etwas blass bleibt. Musikalisch überzeugt sie, gesungen von Ekaterina Gubanova, voll und ganz – und Frickas großer Auftritt als Göttermutter und Hüterin der Ehe kommt ja ohnehin erst in der Walküre. Man darf gespannt sein, wie Kratzer die Götterehe da in Szene setzen wird.
Nicht nur Fricka, auch Loge wirkt in Kratzers Inszenierung nicht ganz ausgereift, obwohl er doch eigentlich eine der wichtigsten Figuren ist. Im schwarzen Rollkragenpullover bleibt er ernst und verhältnismäßig unauffällig – dabei hätte er als Halbgott in einer Inszenierung, die Glaube und Gottheiten verhandelt so viel Potenzial gehabt! Dass auch Loge eher Hintergrundfigur bleibt, ist besonders schade für den Tenor Sean Panikkar, der die Partie sängerisch und darstellerisch voll überzeugend gestaltet. Er könnte eigentlich mehr. Die übrigen Götter sind, im Rahmen ihrer Möglichkeiten, charakterlich voll ausgereift und sängerisch sehr gelungen. Mirjam Mesak singt mit feinem Sopran eine überzeugende Freia, Milan Siljanov dröhnt als Donner wie ein zweiter Wotan und Ian Koziara gelingt ein sehr runder Froh voller tenoraler Strahlkraft. Es bleibt zu hoffen, dass alle drei Sänger auch in den weiteren Ring-Opern weiter eingesetzt werden, obwohl ihre Figuren nach dem Rheingold natürlich abgespielt sind.
Nach etwas mehr als zweieinhalb Stunden ist in München alles so, wie es in Wotans Augen sein soll: Die Götter sitzen in ihrem frisch enthüllten, prächtigen Altar, die Menschen beten sie an – die Kirche wird zum Schluss endlich mit Statisterie bevölkert. Doch zu welchem Preis? Die großartige Wiebke Lehmkuhl als Erda lässt durchschimmern, welche Folgen der doppelte Raub des Rheingolds haben wird, Kratzer deutet auf der Bühne bereits den Weltenbrand der Götterdämmerung an. Wie es mit dem Ring wirklich weiter geht, wird sich 2026 zeigen. Erst dann steht die Walküre auf dem Spielplan der Bayerischen Staatsoper. Kratzer ist mit dem Rheingold trotz einiger Schwächen in jedem Fall ein vielversprechender Ring-Auftakt geglückt und es bleibt zu hoffen, dass es ihm gelingt, sein Konzept von Göttern, die vom Glauben der Menschen abhängig sind, auf diesem hohen Niveau weiterzuführen.
- Rezension von Adele Bernhard / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Bayerische Staatsoper / Stückeseite
- Titelfoto: Bayerische Staatsoper/DAS RHEINGOLD/Foto © Wilfried Hösl