Längst haben Premieren nicht mehr den Glanz und Zauber, der ihnen früher anhaftete: die Damen in großen Roben, die Herren in Smoking, der ganze Saal erfüllt von edlen Düften und der Spannung der Erwartung. Auch gestern, bei der deutschen Erstaufführung von George Benjamins Oper Lessons In Love and Violence an der Staatsoper Hamburg, herrschte eine weniger elegante auf das eigene Prestige bedachte Atmosphäre. Die Besonderheit lag hier darin, dass der Komponist selbst anwesend war und zusammen mit allen ausführenden Künstlern, Jubel und Applaus entgegennehmen konnte. (Rezension der Deutschen Erstaufführung in der Staatsoper Hamburg v. 7.4.19)
Lessons in Love and Violence hatte am 10. Mai 2018 Uraufführung am Londoner Royal Opera House Covent Garden. Eine weitere Besonderheit an diesem Werk ist jedoch, dass es ein Auftragswerk mehrerer Opernhäuser ist (London, Hamburg, Amsterdam, Lyon, Chicago, Barcelona und Madrid), die es mit Unterstützung der Stiftung zur Förderung der Hamburgischen Staatsoper auch gemeinsam produzierten.
Der Inhalt der Oper lehnt sich an das Theaterstück Edward II von Christopher Marlowe an. Es geht um einen namenlosen König, der aufgrund seiner Liebe zu Emporkömmling Gaveston, seine Pflichten dem Volk gegenüber vernachlässigt. Um den herrschsüchtigen Mortimer, der Königin Isabel dazu benutzt erst Gaveston und dann den König loszuwerden. Und letztlich auch um den Sohn des Königs, der Mortimer hinrichten lässt und so den Weg frei macht für Ordnung im Sinne des Volkes.
George Benjamin und Librettist Martin Crimp, die bereits bei Benjamins ersten beiden Opern zusammenarbeiteten, bieten einen vielschichtigen, zeitlos gültigen Einblick in die menschliche Seele und ihre Konflikte. Crimps Texte sind knapp und schnörkellos, selbst dann noch, wenn er Metaphern benutzt. Und immer verdeutlicht der Texter uns, wie sehr wir doch mit uns und unseren Befindlichkeiten beschäftigt sind, sogar im Dialog mit anderen. Das geht unter die Haut, sickert langsam ein, beharrlich tröpfelnd, statt zu überfluten. Oder vielleicht ist es doch eine Überflutung, die sich langsam setzen muss. Auf jeden Fall lässt es nicht kalt und unberührt, was zu einem an der Inszenierung von Katie Mitchell (Regie), Vicki Mortimer (Bühne, Kostüme), James Farncombe (Licht) und nicht zuletzt der szenischen Einstudierung durch Dan Ayling liegt. Als Schauplatz dient ein mit dunklem Holz getäfeltes Schlafgemach, in das wir je nach Szene aus einem anderen Blickwinkel schauen. Einmal füllt ein riesiges beleuchtetes Aquarium den Bühnenhintergrund ein anderes Mal das große Bett, dass sonst rechts oder links platziert ist. Dieses Bett ist der Handlungsort, um den sich vieles dreht. Nicht allein im herkömmlich, erotisch- sinnlichen Aspekt, doch auch als Ort der Machtausübung: Einmal sehen wir ein blutiges Kissen, das auf die Hinrichtung Garvestons hinweist und im Finale harrt Mortimer dort der eigenen Hinrichtung. Ein anderes Mal streut eine Mutter aus dem Volk die Asche ihres Babys auf die Tagesdecke und diese wird umgehend von dienstbaren Händen routiniert entfernt und ersetzt. Ein weiteres intensives Stilmittel, neben diesen subtilen Gesten ist es das Mitchell Darsteller sich oft in Zeitlupe bewegen lässt, um jene in den Vordergrund zu rücken, um die es in diesem Moment gerade geht.
Aber natürlich, dreht sich auch bei einer zeitgenössischen Oper alles um die Musik und ihr Zusammenspiel mit Handlung, Text und Künstlern. Benjamin konnte das Werk direkt auf die Stimmen der Darsteller der Uraufführung abstimmen, da sie auch schon in seinem Werk davor mitwirkten, er sie und ihre Ressourcen also kannte. Seine Musik ist ähnlich mitreißend, berührend wie Crimps Texte und ebenso vielschichtig. Seine Musik enthält keine ins Ohr gehende und dort verbleibende Arien, wie jene von Verdi oder unzählige Leitmotive mit Wiedererkennungswert, wie bei Wagner. Dennoch mag man sie ohne Zögern auf vielen Strecken doch melodisch nennen. Nicht eingängig, doch eindrücklich und bild- wie auch „emotionenmalerisch“ und manchmal an Filmmusik erinnernd. Hier und da gibt es auch eine interessante Widersprüchlichkeit. Zum Beispiel, wenn der König davon spricht, dass er Trommeln hört, aber ein gezupftes Cello erklingt. Überhaupt wechselt Benjamin oft von Orchesterpassagen zu solchen, in denen der Gesang nur von ein oder zwei Instrumenten begleitet wird. Er verwendet auch oft Blechbläser und viel Schlagwerk, womit der die Bedrohung, das nahende Unglück geschickt untermalt.
GMD Kent Nagano beschäftigt sich laut eigener Aussage seit mehr als 30 Jahren intensiv mit Benjamins Arbeiten, was sicher die Souveränität, ja, die Leichtigkeit, mit der er sein Philharmonisches Staatsorchester Hamburg führt, erklärt. Er lenkt auch uns mit sicherer Hand und Gefühl durch die Dramatik und an sehr wenigen Stellen, etwas fröhlichere Musik. Lehrt uns zusammen mit seinen Musikern, wie faszinierend moderne Klänge wirken können.
Den Leistungen der Sänger in einer modernen Oper gerecht zu werden, ist um einiges schwerer, als es dies bei einer klassischen Oper ist.
Doch allen Beteiligten gebührt für ihre Leistung der höchste Respekt. Das gilt für die Damen und Herren, die den Dienstbotenstab/ das Volk darstellten, ebenso wie für Hannah Sawle und Emilie Renard als die beiden Zeuginnen und Andri Björn Róbertsson, der bereits an der Uraufführung als dritter Zeuge und Madman mitwirkte und sicher schon damals besonders in der zweiten Rolle, in seinen Bann zog, durch seinen wohlklingenden Bassbariton und authentisches Spiel.
Neben den eigentlichen Hauptdarsteller gebührt jedoch ihr, das größte Lob des Abends: der blutjungen Schauspielerin Ocean Barrington-Cook in der stummen Rolle des Mädchens, der Tochter des Königpaares. Wie sie allein durch Gestik und Körpersprache ihr Leid, ihr Entsetzen, ihre Liebe zum Vater zum Ausdruck bringt oder auch der an eine Statue mahnende Ausdruck, wenn sie die Pistole auf Motier richtet, lässt erwarten, dass sie noch viel von sich reden machen wird. Auch sie war bereits in London dabei.
Ebenso wie auch Samuel Boden, dessen Tenor, wie gemacht scheint, besonders für Barockopern und der darstellerisch völlig überzeugend die Entwicklung eines Halbwüchsigen zu einem verantwortungsvollen König zeigt.
Auch Gyula Orendt als Gaveston und Peter Hoare in der Rolle des Mortimer gehören zu denen, denen Benjamin die Rolle auf den Leib schrieb. Orendt ist ein Gaveston, dem der Gratwandel zwischen Liebenden und knallhartem Politiker ohne Mühe gelingt und dessen Bariton warm und wandelbar strahlt. Besonder in der Sterbeszene des Königs wenn er, zwar „Stranger“ genannt wird, doch ohne Zeweifel des Königs Erinnerung an den einstigen Geliebten darstellt, rührt seine Stimme zusammen mit der von Evan Hughes, fast zu Tränen.
Peter Hoare ist ein zielstrebiger Unsympath mit einnehmenden Tenor, der sich für, zwar relativ unpopuläre, doch wichtige Partie, wie Faust (Damantion de Faust) oder auch den Boris (Katja Kabanova) besonders zu eignen scheint.
Evan Hughes, der bei der Uraufführung noch nicht in der Rolle des Königs zu sehen gewesen war, scheint diese Partie dennoch wie auf den Leib geschrieben. Er ist einfach der, an der Liebe verzweifelnde Monarch, der sich seiner Pflicht bewusst, diese dennoch nicht adäquat nachkommen kann. Auch sein Bassbariton ist von ausdrucksvoller Fülle, Modullationsfähigkeit und Wärme.
Sopranistin Georgia Jarman als Isabel ist eine First Lady, Herrscherin, wie man sie sich heute vorstellt: Nach außen hin überlegen cool, bis arrogant-ignorant doch innerlich völlig innerlich zerrissen. Sie meistert die manchmal, unmöglich scheinenden Höhen oder auch Tonunterschiede gerade zu meisterlich.
Alles in allem ein Abend nicht für jedermann, aber auch einer, der den Mut verdient, sich auf ihn einzulassen. Gestern jedenfalls, gab es auch von jenen die sich zuvor skeptisch äußerten, großen Applaus.
- Rezension der besuchten Vorstellung von Birgit Kleinfeld / Redaktion DAS OPERNMAGAZIN
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- Titelfoto: Staatsoper Hamburg/ LOVE AND VIOLENCE/ Emilie Renard, Gyula Orendt, Evan Hughes, Ocean Barrington-Cook, Samuel Boden, Georgia Jarman, Hannah Sawle/Foto @ Forster
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