Rigoletto – Film wird Oper in der Opéra de Lyon

Opera de Lyon/RIGOLETTO/ Foto ©Stofleth

In der voll besetzten Opéra Nouvel in Lyon, ohne Corona-Kontrolle und Maskenpflicht, ist die Erleichterung darüber, dass endlich wieder große Oper gespielt werden darf, mit Händen zu greifen. Die zu Herzen gehende Geschichte des Hofnarren des Herzogs von Mantua wird vom Publikum enthusiastisch gefeiert. Mit einer Rahmenhandlung als eingespielter Videofilm, der die gesungenen Szenen doppelt, versteht man das zeitlose Drama. Es gibt paar schüchterne Buhs wegen des schmucklosen Ambientes, aber große Begeisterung über Ensemble und Musik. Für die folgenden Vorstellungen gibt es schon eine Warteliste. (Rezension der Vorstellung v. 18.93.2022)

 

In der Opéra de Lyon wird „Rigoletto“ auf ein zeitloses Problem fokussiert: auf den Vater, der nicht verkraften kann, dass seine über alles geliebte Tochter sich in einen jungen Mann verliebt und ihn allein zurücklässt. Die Rahmenhandlung mit Hugo (vielleicht eine Assoziation an den Autor von „Le Roi s´ amuse“, der literarischen Vorlage?), dem Opernfan, der sich mit einer Videokassette von „Rigoletto“ und einer Pistole auf sein Sofa setzt und sich bald darauf als stummer teilnehmender Beobachter in der Handlung von „Rigoletto“ befindet, doppelt mit Videosequenzen zu Verdis Musik die Handlung. Film wird Oper, Oper wird wie ein Film erzählt, zum Beispiel mit Großaufnahmen Gildas.

Zum Duett Gilda-Rigoletto im ersten Akt wird die Vorgeschichte eingespielt: Der junge Hugo bringt seine hochschwangere junge Frau mit dem Auto in die Klinik, und sie überlebt die Geburt nicht. Mit dem Baby – Gilda – im Arm wird er entlassen.

Die unzeitgemäßen Besonderheiten der Handlung wie die Tatsache, dass Väter, Ehegatten und Brüder für die Tugend der Frauen verantwortlich waren, dass der gehörnte Ehemann auch noch verspottet wurde und dass der Graf Monterone, der Vater einer vom Herzog geschändeten jungen Frau, Rigoletto wegen seines Spotts verflucht, können in dem Zusammenhang als typischer Opernstoff abgehandelt werden.

Opéra de Lyon/RIGOLETTO/ Foto ©Stofleth

Regisseur Axel Ranisch lässt „Rigoletto“ im Berlin der 1990er Jahre in der LGBT-Szene und in einer spießigen Plattenbausiedlung spielen. Die Party am Hof des Herzogs findet in einem Lokal mit Spielautomaten und Table Dance statt, in dem Transvestiten und tätowierte Männer in Lederkleidung den Ton angeben. Die Kostüme von Alfred Mayerhofer sind sehr fantasievoll gestaltet, mit Tutus und transparenten Mänteln. Gilda trägt zerrissene Jeans und könnte eine der jungen Besucherinnen sein, der Herzog von Mantua tritt im stahlblauen Dreiteiler und Wollmantel auf und ist ungeheuer attraktiv, der typische Latin Lover.

Das Bühnenbild und die Videosequenzen von Falko Herold zeigen die Trostlosigkeit runtergekommener Berliner Plattenbauten, ein spießiges Wohnzimmer und eine Schaukel.

Dirigent Daniele Rustioni mit dem Orchester der Oper Lyon lässt musikalisch keine Wünsche offen. Mit sattem Verdi-Klang lässt er die Trostlosigkeit des Ambientes vergessen. Der bestens von Benedict Kearns einstudierte Chor ist aufmerksam choreographiert von Daphné Mauger.

Es geht um das Loslassen einer erwachsenen Tochter. Der Schauspieler Heiko Pinkowski als älterer Opernfan, der sich in seiner Plattenbauwohnung im Berlin der 90er Jahre die Videokassette mit Verdis „Rigoletto“ ansieht, eine Pistole bereit, hat offensichtlich nicht verarbeitet, dass seine Tochter ausgezogen ist, um mit dem charismatischen Verkäufer seines Plattenladens zusammen zu sein. Zunächst denkt man, es wird die Vorgeschichte erzählt, aber es ist Hugos Geschichte, zu der die musikalischen Ensembles sehr gut passen. Hugo identifiziert sich mit dem Opernheld Rigoletto, der seine Tochter abgöttisch liebt.

Regisseur Axel Ranisch hat selbst ein Interview zu seinem Regiekonzept gegeben: https://www.opera-lyon.com/fr/media/1084

Opéra de Lyon/RIGOLETTO/ Foto ©Stofleth

Die Besetzung ist sehr jung und ausgesprochen attraktiv. Die Stimmen harmonieren in den Ensembles ganz hervorragend, und alle singen auf sehr hohem Niveau. Dalibor Jenis als Rigoletto lotet die Gefühle des betrogenen Hofnarren mit großem Ausdruck voll aus. Seine leidenschaftlichen Ausbrüche sind ganz große Oper. Absolut anrührend mit perlenden Koloraturen und erlesenen Spitzentönen ist die Armenierin Nina Minasyan sowohl Gilda als auch Hugos Tochter in den Video-Sequenzen. Sie ist die ideale Identifikationsfigur für junge Frauen, die sich vom Elternhaus emanzipieren wollen!

Exquisit ist Gianluca Burato als Auftragskiller Sparafucile. Sein tiefschwarzer Bass hebt sich gut von Rigolettos Bariton ab, eine Traumbesetzung. Enea Scala als Herzog von Mantua hat die Ausstrahlung eines Don Giovanni – mühelos verführt er Gilda und macht auch auf Maddalena so großen Eindruck, dass diese ihren Bruder Sparafucile bewegt, ihn zu verschonen. Er sieht unverschämt gut aus, aber seiner Stimme täte es gut, wenn er nicht so stark forcieren würde. Zusammen mit Maddalena hat er allerdings betörende lyrische Passagen.

Ungewöhnlich gut ist Roman Chabaranok als der Herzog von Monterone, der Rigoletto wegen seines Spotts verflucht – dafür ist ein großer Bass genau richtig! Als Domina gekleidet ist Agata Schmidt als Maddalena, deren samtiger Mezzo die anderen Stimmen perfekt ergänzt. Die übrigen Rollen sind ebenfalls auf hohem Niveau besetzt.

Opéra de Lyon/RIGOLETTO/ Foto ©Stofleth

Gilda ist eine normale junge Frau, die dem Ruf ihres Herzens folgt und sich von ihrem Vater emanzipiert. Tragisch ist, dass sie ausgerechnet dem Charme eines skrupellosesten Womanizers erliegt, der eine Frau nach der anderen umgarnt, benutzt und wegwirft. Verdi hat in dieser 1851 aufgeführten Oper die Zügellosigkeit und Schamlosigkeit an europäischen Höfen gebrandmarkt. Da ist die billige Anmache in einem Berliner Club Clubs mit Table Dancers doch erheblich lebensnäher!

Dem aus Berlin stammenden Regisseur geht es hier darum, die Geschichte in einem Ambiente anzusiedeln, das dem Lebensbereich junger Leute nahekommt, und die Berliner Szene hat einen entsprechenden Ruf. Die Rahmenhandlung schafft die gehörige Distanz zur höfischen Gesellschaft des Mittelalters und zeigt, dass die von Verdi komponierten Emotionen zeitlos sind. Auch Hugo möchte den Verführer seiner Tochter bestrafen – im Video erschießt er ihn. Vor allem der Schluss – Während Rigoletto Gilda beweint, stellt Hugo sich vor, dass seine Tochter ihn beweint, nachdem er sich erschossen hat – macht Sinn.

Eine absolut sehenswerte Adaption eines Repertoire-Renners auf sehr hohem Niveau!

 

  • Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Opera de Lyon / Stückeseite
  • Titelfoto: Opera de Lyon/RIGOLETTO/ Foto ©Stofleth

 

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