Mit seinem Gesang rührte Orpheus, als er seine geliebte Eurydike wieder ins Leben zurückführen wollte, selbst die Götter der Unterwelt. Und wer könnte dieser mythischen Figur größere Glaubwürdigkeit verleihen als die Stimmvirtuosin Cecilia Bartoli? Die Produktion, die Bartoli als Festspielchefin im Mai 2023 anlässlich der Salzburger Pfingstfestspiele mit dem Regisseur Christof Loy auch szenisch mit vierzehn Tänzerinnen und Tänzern im Karl-Böhm-Saal aufführte, wurde ohne Tanz halbszenisch in der Kölner Philharmonie ein beeindruckendes Stück Musiktheater. (Rezension der Aufführung v. 22.11.2024)
Cecilia Bartoli verkörpert den Sänger Orpheus in jener Fassung von Glucks „Orfeo ed Euridice“, die der reformfreudige Komponist nach der bestaunten Wiener Uraufführung für den Herzoghof zu Parma 1769 neu erstellt hatte: Die Titelpartie wurde in strahlende Höhen versetzt, ihre Koloraturen virtuos aufgewertet – ein Fest also für die Bartoli ebenso wie für ihre Soprankollegin Mélissa Petit in der Doppelrolle als Eurydike und Gott Amor, den perfekt einstudierten Chor und das auf historischen Instrumenten spielende Instrumentalensemble „Il Canto di Orfeo“ unter der Leitung von Gianluca Capuano am 22. November 2022, dem Freitag vor Totensonntag.
Der griechische Orpheus-Mythos wurde hier in historischer Aufführungspraxis von dem 2005 gegründeten Instrumentalensemble und Chor „Il Canto di Orfeo“ unter der Leitung seines Gründers Gianluca Capuano halbszenisch aufgeführt, wobei der Platz vor und hinter dem Orchester, die Chorempore und der rechte Bühneneingang auch vom 20-köpfigen exquisiten Chor als Spielorte genutzt wurden. Ganz authentisch ist die historische Aufführungspraxis nicht, denn Orfeo war nicht als Hosenrolle konzipiert, sondern wurde einem Alt-Kastraten auf den Leib geschrieben. Heute wird die Partie des Orfeo von Countertenören wie Jakub Józef Orliński und Philippe Jaroussky gesungen, aber auch von weiblichen Mezzosopranen wie Cecilia Bartoli als Hosenrolle. Den Stimmumfang eines Kastraten kann man sich heute nicht mehr vorstellen, denn Kastraten hatten die Stimmen eines Sängerknaben mit der Kraft und Fülle eines erwachsenen Mannes. Sie wurden besonders wegen ihres unendlich langen Atems geschätzt und glänzten durch anspruchsvolle Koloraturen. Cecilia Bartoli hat in den letzten zehn Jahren zahlreiche Kastratenrollen von Komponisten wie Vivaldi und Händel aufgegriffen und gestaltet, jetzt auch von Gluck.
Star der Aufführung ist zweifelsfrei Cecilia Bartoli, die innovative Projekte wie die Orpheus-Oper Glucks in historisch informierter Aufführungspraxis jetzt im Rahmen einer Tournee halbszenisch zur Aufführung bringt und die mit ihrem hochdramatischen Mezzosopran ahnen lässt, wie Kastraten im 17.und 18. Jahrhundert ihre Partien ausgestaltet haben. Dabei ist die selten gespielte Parma-Version des „Orfeo“ von 1769 besonders ungewöhnlich, weil eine lyrische Sopranistin als Eurydike und ein Soprankastrat als Orpheus vorgesehen waren. Dadurch klingen die Arien sehr hell, allerdings trägt der temperamentvolle Chor reichlich dunklere Klangfarben und große Dramatik bei.
Im Gegensatz zu den damals üblichen Barockopern mit ihren virtuosen Da-Capo-Arien schuf Christoph Willibald Gluck seine Reformoper „Orfeo ed Eurydice“ 1762 mit nur wenigen Protagonisten und einer hochemotionalen Handlung. Auf die Wiederholung der Arien mit Verzierungen wurde weitgehend verzichtet. Dafür gab es einen anspruchsvollen Chor und zahlreiche Tänze, die die Aufführung auflockerten.
Orpheus, Sohn der Muse Kalliope und des Gottes Apollon, der mit seinem Lyra-Spiel und seinem Gesang jedes Herz rühren und alles Wilde befrieden konnte, beweint den Tod seiner Gattin, der Nymphe Eurydike. Sein Lied bezwingt die Wächter der Unterwelt und rührt deren Götter so sehr, dass Gott Amor ihm gestattet, Eurydice aus der Unterwelt wieder mit auf die Erde zu nehmen, er dürfe sich nur nicht nach ihr umsehen.
Die Klagen der sich missachtet fühlenden Eurydike bringen Orpheus um seine Beherrschung. Er blickt Eurydike an und verliert sie ein zweites Mal. Während Gluck und sein Librettist Raniero de´Calzabigi ursprünglich ein barocktypisches „Lieto fine“ (Happy End) und ein opulentes Ballett an den Schluss setzten, endete hier der Einakter „Atto d´Orfeo“ mit dem Tod des Orpheus aus Gram über den neuerlichen Verlust.
Cecilia Bartoli ist die Partie des Orfeo in der Parma-Fassung von 1789 anlässlich der Hochzeit der Erzherzogin Maria Amalia mit dem Herzog von Parma in Parma scheinbar auf den Leib geschrieben, denn ihr Stimmumfang als Mezzosopran ist dem des bei der Uraufführung 1769 Soprankastraten Giuseppe Millico vergleichbar, ihre Virtuosität vermutlich mindestens ebenso. Im Gegensatz zur ursprünglichen Wiener Version von 1762 wurde die Partie des Orfeo transponiert, und die Besetzung der Bläser reduziert. Gluck hat in der Parma-Fassung im Hinblick auf seinen Star Giuseppe Millico doch wieder einige Koloraturen und dezente Verzierungen eingeführt. Cecilia Bartoli hat die ganze Bandbreite der Emotionen von Trauer, Verzweiflung, Auflehnung gegen das Schicksal und Flehen um Mitleid mit großem Mut zum Pianissimo, aber auch zum flammenden Furor mit fast schon expressiven Ausrufen mitreißend ausgedrückt. Diese Stimme kann Felsen zum Weinen bringen! Die kleine Partie des Amor übernahm die lyrische Koloratursopranistin Mélissa Petit, die mit großer Dramatik auch die Partie der scheinbar von Orfeo missachteten aus der Unterwelt befreiten Gattin gestaltete und anrührende Akzente setzte. Mélissa Petit als Euridice harmonierte mit ihrem lyrischen Sopran perfekt mit Bartolis dramatischem Mezzosopran und kontrastierte mit ihrem rosa Prinzessinnenkleid perfekt zu Bartolis strengen Männeranzügen und straff zurückgebundenen Haaren.
Es war ein dramatisches Ausdrucksfest, bei dem nur wenige Koloraturen und Verzierungen die großen Emotionen und tiefen Irritationen der Protagonistinnen und des Chors auflockerten. Auch für die Konzertbesucher ein Wechselbad der Gefühle, von Trauer über scheinbare Rettung bis zum tödlichen Ausgang für beide die ergreifende Szene, bei der der Chor zum Schluss als Trauergesellschaft agierte. Der wundervolle 20-köpfige Chor „Il Canto d´Orfeo“ verkörperte Trauernde und Furien der Unterwelt gleichermaßen und entfaltete vielfarbige, absolut präzise Klänge. Das Orchester mit dem Soloflötisten Pablo Sosa und dem Solooboisten Pier Luigi Fabretti klang erheblich rauer als übliche Opernorchester, denn die historischen Instrumente – Naturhörner und -Trompeten und Streichinstrumente mit Darmsaiten – sind erheblich schwieriger zu intonieren als moderne Orchesterinstrumente.
Obwohl die in Parma gespielte Fassung wie die ursprüngliche Wiener Fassung ein Happy End hat, weil die Oper zur Begleitung der Hochzeitsfeierlichkeiten der Prinzessin Anna Amalia am 23. August 1769 als Teil des Gesamtkunstwerks „Le feste d´Apollo“ mit einem triumphierenden Schlussballett endete, hat man sich entschieden, die Oper mit dem neuerlichen Tod Eurydices enden zu lassen. Aus Gram über Eurydices Tod wandelt auch Orfeo ihr nach in die Unterwelt.
Die beiden Sängerinnen und der Chor fokussierten ihre expressiven Arien und Chöre auf ein echtes Memento mori und gaben Denkanstöße über die Verarbeitung von Leid und Tod hinaus. Ich fühlte mich in der Tiefe der Emotion fast an Isoldes Liebestod erinnert.
- Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Kölner Philharmonie / Stückeseite
- Titelfoto: Blick in den Saal der Kölner Philharmonie / Foto © KölnMusik/Guido Erbring
Ursula Hartlapp-Lindemeyer