Die Figur der Manon, welche Antoine-François Abbé Prévost d’Exiles in seinen Roman Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut 1731 erschuf, weist zeitlose Züge auf, denn das Streben nach Glück ist in uns allen allgegenwärtig, gehört quasi zur Erbmasse des Menschen. Àlex Ollé, der Regisseur und einer der sechs künstlerischen Leiter des katalanischen Theaterkollektivs La fura dels baus, hat deshalb die Oper Puccinis auf deren Aussagekraft für die Gegenwart befragt und eine stringente, gegen Ende dann auch wirklich beklemmende Lösung gefunden. In einem kurzen Film vor dem Einsetzen der Musik zeigt er eine junge Frau, welche dabei ist, einen Drahtzaun (z.B. an der ungarischen Grenze) zu durchschneiden und illegal in ein (wohlhabenderes …) Land einzureisen. Kurz sieht man auch, welchem Schicksal sie entflieht: Arbeit an der Nähmaschine, begrapscht vom Aufseher. Armut. Sie macht also das, was sogar die amerikanische Verfassung den Menschen garantiert: The pursuit of happiness. Wenn dann die Musik einsetzt, befinden wir uns im Fast Food Restaurant an einem Bahnhof, Menschen aller Hautfarben begegnen sich, ärmere, reichere, viele Studenten, gesündere und kränkere. (Rezension der Premiere v. 6.10.2019)
Manon kommt mit ihrem Bruder hier an, erregt Aufmerksamkeit in ihrem billigen Flittchenoutfit (Kostüme: Lluc Castells). Ihr Bruder ist mit dabei, auch er auf der Suche nach Glück (im Spiel). Bei ihm hat der Kostümbildner ebenfalls kein Klischee ausgelassen: Lederjacke, Trainingshose, Markensneakers. So, wie man sich Illegale aus dem Osten halt so vorstellt. Klischeehaft auch der reiche Geronte de Ravoir, fett, widerlich, Sonnenbrille, Glatze mit schwarzem Haarkranz, schlecht sitzender Anzug. Der Schnellimbiss ist überdeckt mit einer Kassettendecke, gestützt von riesigen Betonbuchstaben L O V E. Schnell verguckt sich der Student Des Grieux in Manon, mit Hilfe Edmondos klauen sie den Minivan und hauen zusammen ab Richtung Paris. Später dann finden wir Manon in einem Animierdamenclub, der Geronte gehört. Die offene Verwandlung der Bühne (Alfons Flores hat sie entworfen) ist ein Meisterstück. Die Kassettendecke senkt sich und darauf ist der gigantische Club aufgebaut, mit Treppen, Stangen für die Tänzerinnen, Bar. Und die ehemalige graue Betonpfeiler-Skulptur LOVE leuchtet nun in erotischem Rot. Zwar schleppt sich dieser Akt – trotz viel nackten Fleisches – etwas dahin, das ganze passt jedoch erstaunlich gut zur Musik und zum Text. Aus dem barocken Tanzmeister wird halt ein Instruktor für Stripdance. Manon hat sich also dem Clubbesitzer Geronte an den Hals geworfen – allein das Glück findet sie auch hier nicht, weil sie sich halt doch nach Liebe sehnt und sich erneut Des Grieux zuwendet. Die Gier, beides zu erhalten wird ihr zum Verhängnis, denn sie plündert noch die Clubkassen und wird verhaftet.
Doch dann nach der Pause kommen die beiden Hammerakte: Hier nun gewinnt die Inszenierung eine geradezu unheimliche Dichte. Manon ist in Ausschaffungshaft. Die Menschen sind in Gitterkäfige gesperrt, das erinnert von den Bildern her stark an Guantanmo. Als Überleitung zum Schlussakt sehen wir eine Wellenprojektion, die Fahrt übers Meer – Ausschaffung. Wenn dann das fahle Bühnenlicht angeht, ist die gigantische LOVE-Skulptur gespiegelt. Erschöpft stützen sich die beiden Liebenden an die Buchstaben und so wie die Musik immer stärker ausdünnt, so erlischt auch das Leben Manons. Sehr stark und unter die Haut gehend, gerade auch weil der Dirigent, Lorenzo Viotti, zusammen mit dem Frankfurter Opern- und Museumsorchester die Modernität, das Impressionistische und Geschärfte in Puccinis Partitur herausstreicht und nicht das Süßlich-Süffisante. Der designierte Chefdirigent des Netherlands Philharmonic Orchestras und der Nationale Opera Amsterdam spürte Puccinis Klangvorstellungen mit feinfühliger Neugier nach und gestaltete eine sehr differenzierte Auslegung der Partitur.
Selbstverständlich braucht es für so eine Inszenierung die geeigneten Sängerdarsteller*innen. Der Oper Frankfurt ist es gelungen, die Sängerin des Jahrs 2019 (Opernwelt), Asmik Grigorian, für die Titelrolle zu verpflichten, die vor einem Jahr als Salome bei den Salzburger Festspielen für Furore gesorgt hatte. So inszeniert scheint ihr auch Puccinis Manon auf den Leib UND in die Kehle geschrieben worden zu sein. Sie bewegt sich mit einer Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit sowohl im billigen Outfit am Bahnhof, als auch bloß mit sexy Unterwäsche bekleidet im Club. Stimmlich vermag sie dabei mit leicht verruchtem (im besten Sinne) Timbre zu glänzen, bleibt den dramatischen, leidenschaftlichen Aufschwüngen, aber auch den verhaltenen, nach innen gewandten Passagen (Sola, perduta, abbandonata) nichts an Ausdruckskraft schuldig. Mit Joshua Guerrero hat sie einen jungen, blendend aussehenden Tenorpartner an ihrer Seite, der mit tenoralem Schmelz, Kraft und Leidenschaft, Ungestüm und Empathie restlos überzeugt, dem Bild des Latin Lovers total entspricht. Ganz grandios auch Iurii Samoilov mit schön gerundetem Bariton als leichtlebiger Lescaut, der sich so schnell und glaubhaft in die Halbwelt einfügt, dass man kaum glauben kann, dass er die Rolle nur spielt. Wunderbar schmierig agiert Donato Di Stefano als Geronte und begeistert mit profunden Bassqualitäten.
Michael Porter holt aus der Rolle des Edmondo das Maximum an Charakterzeichnung heraus und überzeugt mit seiner Bühnenpräsenz. Die kleineren Rollen sind ausgezeichnet und glaubhaft besetzt, so Bianca Andrews als Musiker, Santiago Sánchez als Laternenanzünder (hier eine Transe im Gitterkäfig) und Jaeil Kim als Tanzmeister. Ein Kompliment gebührt auch der Statisterie der Oper Frankfurt, welche den ersten drei Akte mit ihren vielfältigen Figuren pralles Leben verleiht. Verdienter und enthusiastischer Applaus des Premierenpublikums für alle Ausführenden und das Inszenierungsteam.
Fazit: Gelungene Aktualisierung des unsterblichen Stoffes, herausragende Protagonisten, exzeptionelles Dirigat.
- Gast-Rezension von Kaspar Sannemann/Vielen Dank dafür, lieber Kaspar!
- Oper Frankfurt / Stückeseite
- Titelfoto: Oper Frankfurt/Manon Lescaut/Iurii Samoilov (Lescaut) und Asmik Grigorian (Manon Lescaut)/Foto @ Barbara Aumüller
Hallo, eine großartige Oper , aber nur ein paar mal gespielt. Wo bleibt die Wiederaufnahme in den Spielplan?gruss