„Jérusalem“, die französische Version von „I Lombardi“ von Giuseppe Verdi in der Oper Bonn – Die Intendanz der Oper Bonn hatte mal wieder eine pfiffige Idee. Sie brachte am 31.1.2016 die szenische deutsche Erstaufführung von Giuseppe Verdis „Jérusalem“ in der Originalsprache Französisch in Kooperation mit dem Theater ABAO Bilbao auf die Bühne. Diese Oper hat alle Elemente, die eine Grande Opéra braucht: eine Frau zwischen zwei Männern, einen zu Unrecht verfolgten Helden, Tenor, einen richtig bösen Intriganten, Bass-Bariton, der aber geläutert wird und zu einem Heiligen mutiert, Pilgerchöre, Soldatenchöre und spielt zur Zeit der Kreuzfahrer, also im 11. Jahrhundert. Dargestellt wird der mühevolle Weg der Kreuzfahrer und Pilger in das himmlische Jérusalem. Großer Jubel und Standing Ovations beim Schlussapplaus! (Bericht von der Wiederaufnahme am 10.2.2019)
Schon in der reich instrumentierten Ouvertüre kann das Beethoven-Orchester unter Will Humburg glänzen. In wunderbaren Soli, präzise ausgeführten Tutti-Passagen und delikaten Piani agiert das Orchester mit dem Chor und mit den Solisten. Aus gutem Grund hat man die von Verdi für Paris komponierte Ballettmusik gestrichen, denn sie trägt zum Fortgang der Handlung nichts bei. Auch ohne Ballett beträgt die Aufführungsdauer drei Stunden mit einer Pause nach dem zweiten Akt.
Regisseur Francisco Negrin konstruiert als Spannungsbogen die Fahrt des Protagonisten Gaston, Vicomte de Bearn, primo tenore assoluto, in Dantes Inferno. Folgerichtig ist Gastons Demütigung und Fast-Hinrichtung die am aufwendigsten bebilderte Chorszene. Hier treten die Chorsänger als mittelalterliche Folterknechte auf, die einen Menschen fertig machen. Die Musik ist so beliebig, dass man sie schon bebildern muss, um die Dramatik der Szene deutlich zu machen. Kostümbildner Domenico Franchi und Bühnenbildner Paco Azorin entfalten ein großartiges Tableau, das einem Gemälde von Hieronymus Bosch entsprungen sein könnte.
Der stark geforderte Chor unter der Leitung von Marco Medved gestaltet diese bösartige Meute, die der Sarazenen-Schlächterei entgegen sieht und deren Mordlust mit dem christlichen Glauben nur dürftig verbrämt ist, sehr plastisch, kann aber auch im Pianissimo im Walzertakt als verdurstende Pilger mit einer Hymne auf das schöne Frankreich überzeugen. Auch die siegreiche Ankunft in Jerusalem wird vom Chor sehr ergreifend gestaltet.
Felipe Rojas-Velozo als primo tenore assoluto glänzt zu Beginn als Liebhaber im Duett mit Hèlène, um dann als Opfer einer Intrige seines Rivalen mit maximaler Fallhöhe – zunächst Verbannung, dann drohende Hinrichtung – vernichtet zu werden. Seine Unschulds-beteuerungen und das Selbstmitleid des zu Unrecht Verfolgten geben wunderbare Anlässe zu hochemotionalen Koloraturen und Spitzentönen.
Anna Princeva als Hèlène, prima donna assoluta ist eine starke junge Frau, die unverbrüchliche Treue zu ihrem Geliebten in den Harem des Emirs von Ramla führt.
Sie kann mit mädchenhaftem Charme und strahlenden Spitzentönen die Höhepunkte ihrer Auftritte souverän gestalten. Markus Schwering schreibt am 2. Februar 2016 anlässlich der Premiere im Kölner Stadtanzeiger: „Königin der Produktion ist Anna Princeva als Hélène – ein junger dramatischer Sopran von bemerkenswerter Leuchtkraft, Fülle, leichter Anmut bei Bedarf und brennender Sinnlichkeit. Auch … ist es durchaus nachzuvollziehen, dass sie die Herzen ihrer muslimischen Bewacher bricht.“
Princeva hat am 4. November 2018 mit sehr großem Erfolg in Bonn als Elsa im „Lohengrin“ in Bonn debütiert und auch schon Giovanna d’´Arco und Lucrezia Contarini in „I due Foscari“ gestaltet.
Martin Tzonev als Roger, basso assoluto ist die Sensation des Abends. Sein in vielen Mozart- und kleineren Belcanto-Rollen in Ruhe gereifter Bass-Bariton ermöglicht ihm die ganze Bandbreite eines souveränen Sänger-Darstellers: Rache-Arie des verschmähten Liebhabers, Reue-Arie des Auftraggebers, der durch einen gedungenen Mörder an Stelle seines Rivalen irrtümlich seinen Bruder töten lässt, und Todesarie des bekehrten Sünders, der unerkannt das Schicksal seines ehemaligen Rivalen zum Guten wendet und sich selbst ersticht. Er hat die Partie auch schon dreimal im Jahr 2016 als Zweitbesetzung gesungen, die der Premierenbesetzung nicht nachstand. Ganz große Oper! Tzonev, hat in Sofia, in Füssen und im Mai 2018 im Bolschoi-Theater den Wotan in Wagners „Ring“ gesungen.
Die Nebenrollen sind mit Mitgliedern des Ensembles hochkarätig besetzt: Leonard Bernad als päpstlicher Gesandter, der den zu Unrecht beschuldigten Gaston zum Exil, aber nicht zum Tode verurteilt, Giorgos Kanaris als stimmschöner Graf von Toulouse, der sich wider Erwarten von der Messerattacke erholt und den Kreuzzug nach Jérusalem anführt, Ivan Krutikov, Verdi-erprobter Heldenbariton, als Emir von Ramla, der den klugen Diplomaten gibt und Tenor Christian Georg, der Raymond, Gastons Pagen verkörpert.
Musikalisch handelt es sich um eine Nummernoper, die den Protagonisten und dem Chor reichlich Gelegenheit gibt stimmlich zu glänzen. Dirigent Will Humburg, ausgewiesener Verdi-Experte, schafft es, aus der teilweise etwas nichtssagenden Hum-ta-ta- Musik intensive Spannungsbögen zu erzeugen, die in perfekt aufgebauten vierteiligen Arien der Protagonisten bestehen: Rezitativ, primo tempo, secondo Tempo (oder Cavatina) und Cabaletta. In der Cabaletta wird das thematische Material der Cavatina mit Koloraturen und Spitzentönen nach den Fähigkeiten der Protagonisten ausgeschmückt wiederholt. Dabei dürfen die Sänger auch Töne einbringen, die Verdi gar nicht vorgesehen – weil zu schwer zu singen – hat. Tzonev hat zum Beispiel zwei tiefe D´s ergänzt, also eine Oktav tiefer geendet als in der Cavtina. Am Ende einer jeden solchen Nummer steht ein fulminanter Spitzenton und donnernder Applaus.
Diese Dramaturgie entspricht den Rezeptionsgewohnheiten der Pariser Grande Opera des 19. Jahrhunderts: man ging in die Oper, um gesehen zu werden, der Raum war erleuchtet, so dass man sein Libretto lesen konnte, denn Übertitel gab es damals noch nicht, und man war naturgemäß eher abgelenkt. Der dramatische Bogen über das gesamte Stück – perfekt zum Beispiel bei „La Traviata“ – zeichnet dagegen die zeitlosen Opern des aktuellen Repertoires aus.
Jérusalem ist Giuseppe Verdis erste französische Grande opéra. Sie entstand als Umarbeitung der Oper „I Lombardi alla prima crociata“ von 1843 und besteht wie das Original aus vier Akten. Die Uraufführung in französischer Sprache fand am 26. November 1847 an der Académie Royale de Musique in Paris statt. Der Achtungserfolg dieser Oper, immerhin wurde Jérusalem in Paris 40 Jahre lang gespielt, wurde von späteren Werken Verdis in den Schatten gestellt, zum Beispiel von „Rigoletto“, „Troubadour“, „La Traviata“, „Aida“ und „Don Carlos“, von dem es auch eine italienische und eine französische Fassung gibt. Der Grund, warum „Jérusalem“ in Vergessenheit geriet ist vermutlich der zu schwache klassische Spannungsbogen über das ganze Stück und die doch etwas zu unspezifische Melodik, die zwar die großen Gefühle, Schmerzen und Leidenschaften illustriert, aber oft im Vergleich zu späteren Werken Verdis zu vordergründig bleibt.
Trotzdem tragen auch die zwölf frühen Opern Verdis Handschrift – großartige Chorszenen, leidenschaftliche Ensembles und dankbare Arien für die Protagonisten. Der Dirigent Will Humburg, der als absolute Kapazität im Verdi-Kosmos gilt, konnte mit seinen Produktionen auch überregional viele Verdi-Fans in die Bonner Oper locken.
Unter der Intendanz von Bernd Helmich und mit Operndirektor Andreas K. Meyer wurden mit Will Humburg am Pult bisher vier frühe Verdi-Opern aufgelegt. Die Serie von Verdi-Opern wird von Will Humburg am 5. Mai 2019 mit „Les Vêpres Siciliennes“, der ersten von Verdi direkt als französische Oper konzipierte Oper aus seiner mittleren Schaffensperiode fortgesetzt.
- Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer/Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Weitere Infos, Termine und Kartenvorverkauf unter DIESEM LINK
- Titelfoto: THEATER BONN: JÉRUSALEM/Felipe Rojas Velozo und Chor / Foto @ Thilo Beu