Wenn es wagnert, ist der Saal wohlgefüllt – Lise Davidsens Hausdebüt wollen sich die Berliner in der Staatsoper Unter den Linden nicht entgehen lassen, selbst bei erhöhten Kartenpreisen. Doch selbst für die Inszenierung ist es eine Art Hauspremiere: im eigentlichen Premierenjahr 2014 erblickte die Inszenierung nur das Schillertheater, Außenposten von Berliner Opernhäusern in Renovierungszeiten, von innen. Nun sind alle konzentriert am angedachten Platze: Sänger, Solisten, Tänzer und Staatsopernwagnerianer. (Rezension der gesehenen Vorstellung v. 07. Mai 2023)
Regisseurin und Choreografin Sasha Waltz nutzt die Ouvertüre bereits, um ihr recht klassisches Venusberg-Konzept vorzustellen. Die Bühne birgt ein Gebilde, das an ein Auge erinnert, durch dessen Pupille sich leicht gekleidete Tänzer und Tänzerinnen der Compagnie Sasha Waltz & Guests in die Szene schwingen. Das kühl-weiße Gewölbe mit den kaleidoskopischen Schatten, geworfen durch die Tanzenden, lässt Spielraum für Assoziationen offen – das Auge, wie so oft, als Tor ins Inneres, als Tor zum Es aus der Freud’schen Psychoanalyse, das nach körperlicher Liebe schreit? Schließlich bequemt sich auch Tannhäuser in seine eigene Psyche, die bekannterweise redlich unzufrieden ist, denn er giert nach der Welt außerhalb dieses erstickenden Venusbergs. Fast schon schade, denn Marina Prudenskaya gibt eine verführerische Venus mit durchaus erotischen Klängen, wenngleich die Textdeutlichkeit etwas leidet. Als selbstbewusste, elegante Herrscherin über ihr Reich fügt sie sich bewundernswert nahtlos in die Tanzenden ein sowie in den Orchesterklang, wo sie besonders im letzten Überzeugungsversuch im Einklang mit den hohen Geigen ein musikalisch schlagkräftiges Argument liefert, in dieser Welt zu weilen. Tannhäuser überzeugt es leider nicht – möglicherweise waren ihm auch die zunehmend lauten Quietscher der Tänzerfüße im Bühnenbild unangenehm; so genau lässt Vincent Wolfsteiner das leider nicht durchblicken – denn der Sänger macht sich aus dem Staub.
Regina Konczs junger Hirt kommt da zum Weltenübergang gerade recht: ihr beinahe altersloser Sopran scheint gleichfalls zwischen den Geschlechtern zu schweben. Ob Junge oder Frau, wer weiß das schon; welche die bessere Welt ist, Wartburg oder Venusberg, wer weiß das schon? Verbindungen zwischen den Welten gibt es durchweg in Form der Tänzer, die auch die Rittergruppe begleiten, die Tannhäuser schließlich am Wegrand auffindet. Ein Bläsertrupp gibt die Fanfaren im Frack auf der Bühne – Abmarsch der bürgerlichen Gesellschaft.
Diese gedenkt im zweiten Akt, in einem modernen Saal einen Ball mit Sängerwettstreit zu halten. Die omnipräsenten Tänzer verfallen zwischendurch während zeitrafferhaften Sequenzen in sinnbefreite Höflichkeitsgesten wie Verneigungen und Handküsse, die sie an die leere Luft vor sich richten. Dieser etwas bissige Kommentar über die übermäßig manierierte Wartburg-Gesellschaft zählt zu den besseren Einfällen der Choreografie, die ansonsten zu allzu bildhafter Illustration neigt. Bei „andächtig sinkt die Seele“ fallen sämtliche Tänzer zu Boden, bei Erwähnungen von Gestirnen und Engeln wird stets jemand hochgehoben und während Tannhäusers Preislied an die Venus bricht ein skandalöses Grapschen zwischen Männlein und Weiblein aus. So würde es immerhin vielleicht die spießige Gesellschaft auf der Wartburg formulieren, die stellenweise durchaus treffend portraitiert wird in ihrer moralischen Strenge und ihrer Neigung, Jungfrauen einzig um ihrer Jungfräulichkeit Willen zu Gottesbotschafterinnen zu ernennen (mögen die Jungfrauen sonst auch Recht haben).
Dennoch – es mutet ironisch an, dass ausgerechnet das Biedere und Rigide am natürlichsten getroffen wird in einer Inszenierung voller fließendem Tanz. Darin liegt schließlich der Kern des Problems: der Tanz läuft stets Gefahr, schlimmstenfalls eine Art Auslagerung der Schauspielerei der Sänger und des Chores zu sein, die die eigentlichen Hauptakteure der Oper tatenlos stillstehen lässt. Dadurch fällt manch ein emotionaler Moment flach, auch weil manche Sänger sich wohl etwas zu sehr an das „Outsourcing“ der Gefühlsdarstellung gewöhnt haben. Am Ende betrauern die feinen Damen und Herren die Verstorbenen, Elisabeth und Tannhäuser, nach einer arg konventionell geratenen Rückkehr der Venus im roten Schein von Höllenfeuer. Echte Rührung kommt am Ende höchstens durch die Musik auf. In einer Instanz beißender Ironie ist die Inszenierung in ihrer Kreativität ähnlich steif geraten wie die Gesellschaft, dessen Unsympathie sie aufzeichnet; die Tänzer und Tänzerinnen sind nur eine scheinbare Konventionsbrechung, die im Herzen genauso konservativ ist wie die Herren im Ballsaal.
Nicht, dass das einige sängerische Leistungen schmälern würde – allen voran ist Lise Davidsen als Elisabeth zu erwähnen, die mit ihrem metallisch-durchdringenden Sopran in einer ihrer zurzeit bekanntesten Rollen ihr Hausdebüt begeht. Denn während ihr Stimmvolumen wie immer beeindruckt, betören die Piani fast noch mehr: bei „dass auch für ihn einst der Erlöser litt“ kommt die Gänsehaut; „Heinrich! Was tatet Ihr mir an?“ war zuvor eine ehrliche Frage, gestellt von einer jungen, offenherzigen Frau, der Tannhäusers Kniefall durchaus peinlich ist. Ihr Gebet im dritten Akt gelingt eindringlich – ab da ist das Desaster ohnehin vorprogrammiert.
Weitergeführt wird besagtes Desaster von Andrè Schuen als Wolfram von Eschenbach, der zunächst nicht als Sympathieträger punktet. In einem Anfall von selbstquälerischem Voyeurismus belauscht er Elisabeths Gespräch mit Tannhäuser vor dem Sängerkrieg und gestaltet sein „Blick’ ich umher“ bereits zu einem gesanglichen Ereignis, das nicht nur den Spießbürgern auf der Bühne bestens gefällt. In einem langsamen Tanz während seines lieblichen „O du mein holder Abendstern“, den er ganz selbst ausführt, in langsamen Bewegungen, die sich eine Zweite vor ihm wünschen und doch so allein bleiben, offenbart sich schließlich die ganze Bitterkeit dieser Existenz, zärtlich gekleidet in dunkles, samtiges Timbre.
Tannhäuser selbst bleibt ärgerlich blass – Vincent Wolfsteiner singt durchweg mit der Umsicht eines Minnesängers und überwindet drei kleine stimmliche Hopser im ersten Akt, um in seinen besten Momenten saubere Verzierungen in seinen Liedern ertönen zu lassen in einem unangestrengten, strahlenden Tenor. Während der Rom-Erzählung hält ein begrüßenswerter, galliger Zorn Einzug in die Stimme, der jedoch leider nicht übertünchen kann, dass die hohen Noten im Laufe des Abends eher hölzern werden und es arg an Ausstrahlung und darstellerischer Entschiedenheit mangelt.
Landgraf Hermann (Grigory Shkarupa) begrüßt seine Nichte und dann seine Gäste derweil mit liedhaft singendem Bass, der in allen Registern als äußerst gleichmäßig und textdeutlich beeindruckt. Unter den Rittern ist Siyabonga Maqungos Walther von der Vogelweide hervorzuheben, der sich durch einen verheißungsvollen, charakteristisch silbern leuchtenden Klang hervortut. Der Staatsopernchor, zunächst etwas ungünstig platziert, was dem ätherischen Klang im ersten Akt Schwierigkeiten bereitet, beweist sich im Laufe des Abends mit genauem Rhythmus und einem getragenen Pilgerchor.
Die Brücke zwischen Sängern und Inszenierung schlägt Sebastian Weigle am Dirigentenpult der Staatskapelle Berlin. „Gemäßigt“ ist das Wort der Stunde; eine Abwechslung der Akzentuierung zwischen Blechbläsern und Streichern bekommt der Ouvertüre gut sowie präzise Staccati allerseits und strahlende Fanfaren. Das Tänzerische im Einzug der Edlen ist auch im Orchestergraben bestens herausgearbeitet. Insgesamt bewährt sich Weigle besonders im dritten Akt: dieser gelingt endlich, endlich berührend, voll schöner Zerbrechlichkeit wie Glas mit Rissen, das noch buntes Licht reflektiert. Das kontrastiert schmerzhaft mit der biederen Welt dargestellt auf der Bühne – fast eine Kritik der dortigen unmenschlichen Moral, sperrt sie doch Teile der menschlichen Natur einfach weg, ganz leise aus dem Orchestergraben.
Mangels akustischer Ausraster besiegelt das Dirigat die Betitelung des Abends als „gutbürgerlich“ – eine Veranstaltung, die man auch den Wartburggästen zumuten könnte, diese im Ganzen leicht zahnlose Inszenierung mit einer Musik, die sich eher zurückzieht. Doch die Stimmung legt sich einem im Herausgehen über die Schultern wie eine bestickte Tischdecke aus gutem Hause. Wer weiß das schon, die Antwort nach der besseren Welt – niemand. Am Ende scheint alles beim Alten geblieben. Schlauer ist keiner geworden, nur trauriger, vielleicht.
- Rezension von Lynn Sophie Guldin / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Staatsoper Berlin / Stückeseite
- Titelfoto: Staatsoper Berlin/TANNHÄUSER/Foto @ Bernd Uhlig