
Wenn man das Libretto liest, denkt man, dass „Nabucco“ ein Oratorium ist. Das ist auch nicht abwegig, weil es sich um eine große Choroper und um ein Sujet des Alten Testaments handelt. Dass man „Nabucco“ auch actionreich als Thriller inszenieren kann, beweist Regisseur Roland Schwab. Er betont mit seiner Inszenierung die politische Dimension: Der Fanatismus ist das tödliche Metronom, ohne das die Wiegenlieder des Terrors nie erklängen ist zur Ouvertüre bühnenbreit eingeblendet. Schwab und sein Bühnenbildner Piero Vinciguerra finden für das Dramma lirico in der Premiere am 3. Oktober 2025 starke Bilder. Hit der Oper ist der Gefangenenchor Va pensiero sull´ali dorate, der die Sehnsucht des unterdrückten Volkes nach Heimat ausdrückt. Das Aufblitzen von immer mehr Lichtern in den Händen des Chors visualisiert, wie eine Botschaft die Masse erreichen kann und erinnert unmittelbar an die Bürgerbewegung der DDR, die am 3. Oktober 1989 zur Wiedervereinigung Deutschlands führte. Will Humburg führt das Beethoven Orchester zu differenziertem Verdi-Klang, Chor und Extra-Chor unter der Leitung von André Kellinghaus und zahlreiche Statisten verkörpern das hebräische Volk und die babylonischen Krieger. Nicht nur die Hauptrollen sind erstklassig besetzt. (Rezension der Premiere v. 3. Oktober 2025)
Mit der Uraufführung seines Dramma lirico „Nabucco“ begründete Giuseppe Verdi am 9. März 1842 im Teatro alla Scala in Mailand seine Weltkarriere als Opernkomponist. Das Libretto von Temistocle Solera gibt Verdi die Steilvorlage, in einer grandiosen Nummernoper eine rasante Abfolge von Affektumschlägen in vier großen Tableaus zu steigern. Die musikalische und szenische Umsetzung fokussiert die Handlung auf den Kampf des hebräischen Volks für die Befreiung aus der babylonischen Gefangenschaft und begeistert auf der ganzen Linie.
Vorlage der Handlung ist die Geschichte des babylonischen Königs Nebukadnezar, der 587 v. Chr. Jerusalem zerstörte und das hebräische Volk verschleppte, aus dem Buch Daniel des Alten Testaments, naturgemäß aus der Sicht der Hebräer. Sie erleben den Usurpator als Tyrann, der sich nach seinem erfolgreichen Feldzug selbst überhöht und zum alleinigen Gott erklärt. Dafür wird er durch Gott vom Blitz getroffen und verfällt dem Wahnsinn.
Regisseur Roland Schwab und Bühnenbildner Piero Vinciguerra haben 2022 in Bayreuth eine hochgelobte Inszenierung von Tristan und Isolde erarbeitet, im April 2022 in Bonn Ernani, 2024 in Köln eine fulminante Elektra. Sie zeigen die Handlung in einer zeitlosen Gegenwart mit Kostümen von Renée Listerdahl und scheuen sich nicht, die Hebräer durch ein Ensemble von sechs Cellisten als Volk mit einer hohen Kultur und den Oberpriester mit einer Bibel in hebräischer Schrift auch mit einer überlegenen Religion zu visualisieren. Nabucco und die Babylonier sind dagegen eher grobschlächtig, und die Zerstörung eines Cellos durch einen der Kriegsknechte geht einem näher als die herumliegenden Gefallenen, die die Eroberung des Tempels von beiden Seiten gefordert hat. Zum Entsetzen der Hebräer reißt Nabucco Seiten aus dem heiligen Buch und zerfetzt sie. Der hebräische Oberpriester Zaccaria trägt einen eleganten schwarzen Anzug, der Oberpriester des Baal einen violetten Gehrock. Fenena wirkt in ihrem schlichten Kleid durch ihre Haltung wahrhaft königlich, während Abigaille in schwarzem Lederoutfit mit einer kronenähnlichen Tiara overdressed wirkt, denn die Macht, die sie sich anmaßt, steht ihr nicht zu.

Der fensterlose Raum, in dem sich das Drama abspielt, könnte eine Fabrikhalle sein und ist seitlich begrenzt, die hintere Wand ist als schiefe Ebene angewinkelt und wird bei der Eroberung des Tempels hochgeklappt, so dass sich ein Gefängnis ergibt, in dem die Hebräer auf engstem Raum gefangen sind. Der siegreiche Nabucco sitzt auf einem Thron über der hinteren Wand und raucht eine Zigarre, während seine Schergen – schwarz gekleidete Statisten – aus grünen Benzinkanistern Brandbeschleuniger auf die gefangenen Hebräer ergießen.
Nabuccos Tochter Abigaille, die als Kind einer Sklavin keinen Anspruch auf den Thron hat, ergreift die Macht, weil sie glaubt, Nabucco habe den Feldzug nicht überlebt. Aber er kehrt unversehrt triumphierend zurück und erklärt sich in seiner Hybris zum einzigen Gott. Ein Blitz trifft Nabucco, hier eine zackige rote Lichtinstallation mit den Namen einiger Despoten wie Hitler, Idi Amin, Stalin und Trump, und Abigaille lässt ihren Vater einkerkern, nachdem er die Götter der Babylonier dadurch beleidigt hat, dass er sich selbst zum einzigen Gott erklärt. Der babylonische Oberpriester verbündet sich mit Abigaille und redet ihr ein, man müsse alle Hebräer töten. Abigaille erpresst vom hilflosen Nabucco das Todesurteil über die Hebräer.
Der hebräische Hohepriester Zaccaria ist die charismatische politische Figur, die die Hebräer zum Widerstand aufruft. Die Verschränkung seiner Auftrittsarie mit dem Chor ist ein Beispiel für Verdis frühe Meisterschaft. Zaccaria führt die babylonische Königstochter Fenena als Geisel mit sich. Dabei spielt ihm in die Hände, dass Fenena, Nabuccos Lieblingstochter und designierte Thronfolgerin, sich zum Judentum bekannt hat, weil sie in Ismaele, den hebräischen Prinzen und Feldherrn verliebt ist. Zaccaria prophezeit das Ende der Knechtschaft und den Untergang Babylons.
Der geistig umnachtete Nabucco hört den Trauermarsch zur Hinrichtung seiner Tochter Fenena, die mit den Hebräern getötet werden soll. Er bittet in seiner Sorge um seine Lieblingstochter den hebräischen, einzigen, Gott um Hilfe, worauf sich sein Wahnsinn zu lösen scheint und mobilisiert mit Hilfe seines Vertrauten Abdallo einige Soldaten, mit denen er knapp vor der Exekution buchstäblich in letzter Minute die Vollstreckung des von ihm erpressten Vernichtungsbefehls verhindern kann. Der Scherge, der sein Messer an Fenenas Hals hält, fällt als erster. Abigaille, von Schuldgefühlen geplagt, vergiftet sich selbst und stirbt. Zu ihren letzten Atemzügen spielt der Solo-Cellist des Beethoven Orchesters, Grigory Alumyan, barfuß auf der Bühne das Cello-Solo. Nabucco bietet dem hebräischen Volk eine friedliche Koexistenz im Schutz des Gottes der Hebräer, die von Zaccaria abgesegnet wird. Der Tempel in Jerusalem soll wieder aufgebaut werden.
Der erfahrene Verdi-Dirigent Will Humburg, seit 2011 Stammgast in Bonn, schuf einen perfekten Verdi-Klang mit dem brillant aufspielenden Beethoven Orchester. Der Chor in der Einstudierung von André Kellinghaus agierte, auch szenisch, auf sehr hohem Niveau. Vor allem den Gefangenenchor, er beginnt ganz leise und steigert sich in einem Crescendo, um dann wieder zu ermatten, wurde selten so suggestiv bebildert. Kein Wunder, dass später der Mythos entstand, er sei die Hymne des Risorgimento, der nationalen Einheit Italiens, gewesen, denn er ist einstimmig und leicht nachzusingen. Die schmissigen Melodien und mit den mehrteiligen Arien verschränkten Einwürfe des Chores zeigten beeindruckend die frühe Meisterschaft des 29-jährigen Verdi, in vier Bildern jeweils zündende Spannungsbögen mit zahlreichen Affektumschwüngen zu komponieren. Mit der Figur der Abigaille schuf er einen neuen Typ der hochdramatischen Antiheldin, Vorstufe seiner Lady Macbeth.

Alle Solisten sangen und agierten auf sehr hohem Niveau. Die Gaststars Erika Grimaldi als Abigaille und Aluda Todua als Nabucco lieferten sich im Duett im zweiten Akt einen fulminanten Machtkampf, bei dem Grimaldi mit fast unsingbaren Oktavsprüngen und halsbrecherischen Koloraturen über fast drei Oktaven mit dramatischer Wucht die Machtgier der gedemütigten abservierten Thronfolgerin ausdrückte. Aluda Todua gab den siegreichen Feldherrn und den gebrochenen Herrscher mit allen Facetten von Triumph bis Resignation. Er stellte den abgehalfterten König ergreifend dar, auch, weil man ihm mit seiner Kleidung die Würde genommen hatte. Derrick Ballard als hebräischer Hohepriester repräsentierte den Gott der Hebräer mit raumfüllendem tiefem Bass, der die ganze Autorität des besonnenen Oberhirten der Hebräer in seine tiefe Stimme legte. Ion Hotea als Ismaele machte in der undankbaren Partie des Manns zwischen zwei Königstöchtern mit seinem strahlenden Tenor bella Figura, Christopher Jähnig als babylonischer Hohepriester des Baal füllte die Autorität mit beeindruckender Körpergröße und tiefem Bass. Am Schluss ist er derjenige, der verspielt hat, denn er hat auf Abigailles Herrschaft gesetzt. Ensemblemitglied Charlotte Quadt als Fenena, legitime Thronerbin, gibt ihrer Liebe zum hebräischen Feldherrn Ismaele mit wunderschönem Belcanto Ausdruck, und auch ihr Bemühen um die Versöhnung beider Völker besingt sie in berückenden lyrischen Passagen. Leider ist auch Abigaille in den smarten Ismaele verliebt, und das findet spannenden Ausdruck in einem Terzett, dem sich ein wütender Racheschwur der eifersüchtigen Abigaille anschließt. Ralf Rachbauer als Abdallo, Nabuccos Vertrauter, und Marie Heeschen als Anna, Zaccarias Schwester, sind aus dem Ensemble hochkarätig besetzt.
Roland Schwab hat das Dramma lirico so umgesetzt, wie es im Libretto steht. Abigaille, die aufgrund ihrer nicht ehelichen Geburt Stigmatisierte, führt den Machtkampf mit ihrem Vater und scheitert. Aber sie bereut und richtet sich selbst. Auslöser der Tragödie ist die persönliche Kränkung Abigailles durch die Bevorzugung ihrer Halbschwester durch Ismaele und die Offenbarung ihrer illegitimen Herkunft durch ein fatales Dokument. Nabucco hat sich durch seine Hybris angreifbar gemacht und wird von seiner Tochter eingekerkert, kann sich aber befreien und mit den Hebräern versöhnen. Ismaele und Fenena scheinen als seine Nachfolger in der Herrschaft prädestiniert.
Man erlebt eine saftige Verdi-Oper die der Bezeichnung Dramma lirico alle Ehre erweist: Gefühlsbetonte Arien und Chöre, ein geläuterter Usurpator und eine rachsüchtige und machtgierige Primadonna. Die Umsetzung durch das Regieteam zeigt ein zeitloses Beispiel von Machtmissbrauch und ein Plädoyer für die Versöhnung verfeindeter Völker unter einer gemeinsamen Idee. Das buchstäblich von einem Deus ex machina herbeigeführte Happy End bedient die Sehnsucht nach einer heilen Welt. Unbedingt sehenswert!
- Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Oper Bonn / Stückeseite
- Titelfoto: Oper Bonn/NABUCCO/Chor und Extrachor, Statisterie, Charlotte Quadt, Aluda Todua/Foto: © Matthias Jung