„Wahrhaftige Emotionen“ – so lautet die Überschrift für das Gespräch zwischen dem Dramaturgen Johannes Blum und Ballettdirektor John Neumeier über dessen inzwischen vierte Inszenierung von Christoph Willibald Glucks Oper Orphée et Eurydice. Die beiden frühen Produktionen, einmal Frankfurt und auch bereits in Hamburg, waren geprägt von der eher prunkvollen Atmosphäre, die man von griechischen Sagen erwartet. Es gab streckenweise sogar Theater im Theater. Laut eigener Aussage lag Neumeiers Fokus damals auf der Form des Stückes, auf der musikalisch bedingten Spannung, die dadurch entsteht, dass die Ouvertüre, wie auch das finale Divertissement, einer Reformoper, zu denen Glucks Werk zählt, entgegenwirken. Denn zu den Merkmalen dieser Opernform gehört unter anderem, dass auf Nebenhandlungen und zu viele Hauptcharaktere verzichtet wird und das eigentliche Drama und die Authentizität des Textes stärker in den Vordergrund treten. (Bericht der Premiere v. 3.2.19)
2015 in Chicago dann, wie nun auch hier in Hamburg, geht es Neumeier, der neben Regie und Choreografie auch für Bühnenbild, Licht und Kostüme verantwortlich zeichnet um das zeitlos Menschliche in der Handlung. Eben um die „Wahrhaftigkeit der Emotionen“.
Dazu verlegt er die Geschichte um den Sänger aus der Antike ins Heute. Orphée ist nicht länger der Sänger, der die Götter durch die Sanftheit seiner Musik davon überzeugt, ihn die tote Gemahlin zurück ins Leben holen zu lassen. Auf dem Weg nach oben verliert er sie ein zweites Mal, nur um zu erfahren, alles war ein Spiel der Götter, eine Prüfung, und die Geliebte lebt. Nein, John Neumeier macht aus dem Sänger einen Choreografen, dessen Gattin der Star der Ballettcompagnie ist und nach einem Streit einen tödlichen Autounfall erleidet. Von L‘Amour/der Liebe begleitet, macht auch der moderne Orphée sich auf, die schmerzlich Vermisste zurückzuholen. Doch ist das Ende subtiler, philosophischer und realistischer. Als Orphée sich alleine in seinem beengten Zimmer wieder findet und seinem Leben mit Eurydices Schal ein Ende setzen will, erscheint L’Amour. Er appelliert an Orphée „diesen düsteren Ort zu verlassen“ und führt ihn zurück an den Ort, wo er und Eurydice Liebe und Kunst lebten: ins Theater. Hier schafft er ein Ballett, das eine Hommage an seine Liebe ist. So lebt diese und Eurydice in diesem Werk auch nach dem Tod weiter.
Neumeier setzt auf klare, grafisch schöne Linien bei den dreh- und verschiebbaren, oft verspiegelten Raumelementen, wie bei den Kostümen der Tänzer und auch weitgehend bei deren Bewegungen. So liegt der Fokus ganz auf dem klaren, fast mathematischen Aufbau der Musik, die nur hier und da durch Koloraturen und anderen, komplizierten Tonfolgen faszinierende „Bruchstellen“ hat. Und natürlich auf der Tiefe der Emotionen, die hinter der sichtbaren Handlung liegen.
In seiner unverkennbaren Art schafft es der langjährige Chef des Hamburg Balletts, alle jene in den Bann zu ziehen, die sich gern darauf einlassen, dass er aus Sagen und Märchen, lebensnahe Geschichten macht. Passend zu Glucks Musik, die neben Trauer und Wut auch immer wieder himmlische Sphären skizziert, entführt Neumeier uns sanft in seine Welt, die ja auch die unsere ist. Reißt uns bei seinen Balletten mit der Musik von Mahler oder Schostakowitsch ein Strom von Leidenschaft fort, so lässt er sein Publikum hier auf den sanften Wellen von Trauer, die doch immer voller Hoffnung und Lösungen ist, wohlig dahintreiben.
Wie schon in Chicago, entschied sich Neumeier für die dritte von insgesamt vier Versionen, die Gluck verfasste. Es handelt sich um die französischsprachige, die am 2. August 1774 in Paris zur Uraufführung kam. Es ist die Fassung, in der ein Tenor die Rolle des Orphée singt und nicht, wie auch gebräuchlich, ein Countertenor, Alt oder Bariton.
In den USA wie hier übernahmen Dmitry Korchak und Andriana Chuchman die Titelrollen und bewältigen die ihnen gestellten Aufgaben mit viel Engagement und Bravour.
Dmitry Korchak ist fast die gesamte Aufführung über präsent auf der Bühne, auch wenn er nicht im Mittelpunkt des Geschehens steht. Aber dies ist nur ein Tropfen in dem Fass der Anforderungen, die diese Mammut-Partie verlangt. Besonders seine Arie/Rezitativ im ersten Akt ist eine Kampfansage des Komponisten an die Stimmbänder und die technische Virtuosität des Sängers. Ein Kampf, aus dem er durch lyrischem Schmelz, meist gut dosiertem Kraftaufwand, und nur hier und da hörbarer Anstrengung, als Sieger hervorgeht. Seine Arie „J’ai perdu mon Eurydice …“ ist voller Innigkeit und Schönheit.
Die wohl anspruchsvollste Rolle an diesem Abend hat Andriana Chuchman. Mit Mühelosigkeit verwandelt sie sich der von erbosten Primaballerina zu Eurydices ätherischem Schatten. Sie beweist dabei viel tänzerische Grazie und auch leicht erotische Ausstrahlung, wenn sie ihren Gatten sich räkelnd auffordert, „die Freuden der Hochzeit und der Liebe zu erneuern“. Ihr Sopran ist von beseelter Klarheit, sie versteht es durch Ausdruck und Stimmmodulation, alle Höhen und Tiefen der Gefühle auszudrücken und so zu berühren.
Marie-Sophie Pollak ist als L’Amour die Dritte im Bunde der Protagonisten. L’Amour ist als Hosenrolle konzipiert, als sehr junger Mann. In Jeans, Hoodie und Jacke gekleidet, mag sie das jüngere Ich des erwachsenen Orphée verkörpern oder auch seine, ihn an die Liebe auch zum Tanz mahnende Muse sein. Ähnlich wie Niklas in Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“. Die Darstellung der jungen aus Bietigheim-Bissingen stammenden Sopranistin ist voller natürlicher Anmut. L’Amour schützt, beobachtet und ermutigt Orpheus mit einnehmender Spielfreude. Pollacks Stimme ist von erfrischender Leichtigkeit in allen Tonlagen, besonders auch in den schwierigen Höhen und scheint wie gemacht für Barockmusik.
Die Ersten Solisten des Hamburg Ballett Edvin Revazov und Anna Laudere bilden von der ersten Szene an das tänzerische Pendant von Orphée und seiner Eurydice. Sie verdeutlichen das, was das Paar im gemeinsamen Leben und auch auf der Suche nach der verlorenen Liebe ausmacht. Hier werden sie in federleichter Harmonie und Zärtlichkeit sichtbar: die wahrhaftigen Emotionen.
Auch das Ballettensemble beweist ein Mal mehr seine Vielseitigkeit, Eleganz und Homogenität, die dennoch Raum lässt für Individualität, die für dieses Ensemble typisch ist, sei es als Furien, selige Geister oder im Divertissement, das als Ballett Orphées inszeniert ist.
Besonders die Leistung von Alex Martinez, Ricardo Urbina und David Rodriguez als Cerberus verdient viel Anerkennung: Ihre Sprünge sind gewohnt kraftvoll, ihr gemeinsamer, kampfähnlicher Tanz beeindruckt und fasziniert.
Der Chor der Hamburgischen Staatsoper singt in dieser Aufführung aus dem Orchestergraben heraus fast unsichtbar, sorgt jedoch mit dem ausgezeichnet und einfühlsam von Alessandro De Marchi geführten Philharmonischem Staatsorchester Hamburg dafür, dass alles zu einem Begeisterung hervorrufenden Ganzem wird.
War auch hier und da Kritik an Neumeier zu vernehmen, so lassen Jubel und Applaus für wirklich alle Beteiligten, keinen Zweifel daran: Hamburg hat einen „Orphée“ den zu sehen und hören sich lohnt!
- Rezension der besuchten Aufführung v. 3.2.19 von Birgit Kleinfeld/RED. DAS OPERNMAGAZIN
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- Titelfoto: Staatsoper Hamburg/ Orphée et Eurydice / Foto @ Kiran West