Richard Wagners Frühwerk „Tannhäuser“ in der Regie von Tobias Kratzer ist die erfolgreichste Produktion der diesjährigen Bayreuther Festspiele. Die sechs Vorstellungen waren im Handumdrehen ausverkauft. Katharina Wagners Anliegen, die Festspiele inklusiver und diverser zu machen, ist hier eingelöst. Mit dem kleinwüchsigen Manni Laudenbach als Oscar, aus dessen Perspektive die Handlung erzählt wird, der Dragqueen Le Gateau Chocolat, die als dicker gelber Tüllfarbklecks durch die Wartburg-Gesellschaft tanzt, und der französischen Dirigentin Natalie Stutzmann am Pult war selten so viel Diversität. Kratzer holt die Handlung in die Gegenwart und macht daraus mit den Mitteln des Films ein spannendes Roadmovie mit Bezug zum Sängerkrieg auf der Wartburg und zu Wagners Biografie. (Besuchte Vorstellung am 22.8.2024)
Katharina Wagner hat 2019 mit dem 1980 geborenen Tobias Kratzer, der 2025 Intendant der Hamburger Staatsoper werden soll, einen jungen Regisseur verpflichtet, um in der neunten Tannhäuser-Produktion seit Beginn der Festspiele 1876 eine andere Sichtweise des Stücks zur Diskussion zu stellen. Das zeigte sich auch in der ersten Pause, in der Le Gateau Chocolat, eine Dragqueen und Bass-Crooner, auf dem See im Park ein für alle offenes Gesangsprogramm performte. Manni Laudenbach hat sich mit seiner Darstellung des scharfsinnigen teilnehmenden Beobachters Oscar (Matzerath) mit seiner Blechtrommel, der einfach nicht weiterwachsen wollte, zu einem Star der Festspiele entwickelt, ebenso wie Gateau Chocolat.
Die französische Dirigentin Nathalie Stutzmann, die schon 2023 das Werk dirigierte, bekam für ihr zupackendes, dynamisches Dirigat besonders großen Applaus, denn sie trug die Sängerinnen und Sänger auf Händen und gewann der Partitur mit straffen Tempi vielfältige Nuancen ab. Weiblicher sind die Festspiele auf jeden Fall geworden, denn diesmal dirigieren mehr Frauen als Männer in Bayreuth.
„Der Sängerkrieg auf der Wartburg“ findet im zweiten Akt als Theater auf dem Theater tatsächlich in den klassischen Kostümen statt. Über der Bühne wird in einer schwarz-weißen Video-Projektion gezeigt, wie Venus, Oscar und Gateau Chocolat das Festspielhaus entern und sich auf die Bühne schleichen. Katharina Wagner selbst wählt in einer Video-Einspielung den Notruf 110, und man sieht, wie zahlreiche Polizeifahrzeuge zum Festspielhaus fahren. Polizisten stürmen auf die Bühne und führen Tannhäuser in Handschellen ab, während Venus, Oscar und Gateau Chocolat entkommen können. Bühnenbild und Kostüme gestaltete Rainer Sellmaier.
Tannhäuser ist wie Faust ein suchender, zutiefst zerrissener Mensch, was sich vordergründig in seinen Beziehungen zu zwei Frauen, einerseits der behüteten Elisabeth, mit der ihn eine reine freundschaftliche Liebe und Zuneigung verbindet, andererseits der lebenslustigen und verführerischen Venus, in deren Theatertruppe er mancherlei, auch sexuelle, Abenteuer erlebt hat. Kratzer stellt ihn als einen erfolgreichen etablierten Sänger dar, der sich einer Straßentheater-Truppe à la Marina Abramović mit Live-Performances als Clown angeschlossen hat. Venus, eine normale zupackende Frau von Fleisch und Blut, ist offensichtlich die Chefin der Truppe, denn sie steuert, wie Abramović in den 1968-ern, das alte Citroën-Wohnmobil, mit dem das Quartett unterwegs ist. Als das Auto der Truppe von einem Polizisten angehalten wird, fährt Venus den jungen Polizisten einfach über den Haufen und begeht Fahrerflucht. „Zu viel, zu viel“, selten war der Ruf so passend wie der Kommentar Tannhäusers, der ja eigentlich zur etablierten Gesellschaft gehört und nach diesem Vorfall die Truppe im Streit verlässt. Zufällig kommt Landgraf Hermann mit seinen Rittern dazu, und Wolfram von Eschenbach erkennt den lange verschollenen Tannhäuser.
Besucher, die auf den Grünen Hügel zum Festspielhaus pilgern, sind der Pilgerchor – passend, denn für viele Wagnerianer hat die Reise nach Bayreuth zu den Festspielen den Charakter einer Pilgerfahrt. Tannhäuser nimmt die Einladung, wieder zur Wartburg zurückzukehren an, weil Wolfram ihn daran erinnert, dass dort Elisabeth, des Landgrafen Nichte, wartet.
Die erotische Komponente, die Wagner Jahre später mit der Pariser Fassung noch stärker aufgetragen hat, spielt bei Kratzer keine große Rolle. Tannhäuser hat durch seinen Weggang und noch mehr durch sein Bekenntnis zur freien Liebe und lustvollen Erotik beim Sängerstreit die keusche Elisabeth zutiefst verletzt. Die hier gespielte zweite Dresdner Fassung, die Wagner noch 1847 nach dem Fiasko der Uraufführung am 19.10.1845 schrieb, gestattet diese Reduktion auf den Mann zwischen zwei Frauen durchaus.
Im dritten Akt sehen wir Oscar vor dem kaputten Wohnmobil. Gateau Chocolat hat Karriere im Establishment gemacht und ist auf einem riesigen Werbeplakat für teure Uhren zu sehen, Oscar ist allein zurückgeblieben. Die deprimierte Elisabeth sucht Tannhäuser vergebens in der zurückkehrenden Pilgergruppe. Wolfram kommt dazu und verkleidet sich mit Clownskostüm und Perücke als Tannhäuser. Er verführt sie zum Geschlechtsverkehr im Wohnmobil, den sie über sich ergehen lässt, bevor er sein Lied vom Abendstern singt.
Elisabeth nimmt sich nach Wolframs Lied das Leben. Sie ritzt sich ein letztes Mal und verblutet, und Wolfram bleibt allein zurück, da erscheint Tannhäuser. In seiner Rom-Erzählung, die er Wolfram berichtet, gesteht Tannhäuser sein Scheitern. „Hast du so böse Lust geteilt? Dich an der Hölle Glut entflammt?“ gewinnt für Wolfram eine ganz neue Schärfe. Tannhäuser hat vom Papst keine Absolution bekommen und bleibt wie eine Pieta mit Elisabeths Leiche zurück. Keine Erlösung, nirgends!
Die Video-Einspielungen von Manuel Braun nutzen die volle Breite und vor allem Höhe der Bühne und gestatten auch Großaufnahmen der Protagonisten, vor allem von Klaus Florian Vogt als Tannhäuser. Er ist ein Heldentenor, der die lange anspruchsvolle Partie souverän gestaltet, die Stephen Gould ursprünglich 2019 kreiert hat. Den Tannhäuser als Clown darzustellen und ihm einen Oscar Matzerath als scharfsinnigen Beobachter mit seiner Blechtrommel an die Seite zu stellen, schärft den Blick für Wagners Engagement für die 1848-er Revolution, deren Ziel die Überwindung der Fürstenherrschaft und das Ende der Kleinstaaterei waren. Dass damit Anarchismus einhergehen würde, konnte er sich eigentlich denken, er hat es selbst formuliert: „Frei im Wollen, frei im Thun, frei im Genießen“.
Die eigene Freiheit findet jedoch ihre Grenzen an der Freiheit anderer, und die etablierte Gesellschaft konnte sich gegen die Revolutionäre mit Polizeigewalt wehren. Wagner wurde steckbrieflich gesucht und konnte mit Hilfe seines späteren Schwiegervaters Franz Liszt in die Schweiz fliehen, wo er Jahre im Exil verbrachte.
Klaus Florian Vogt, in diesem Jahr auch als Siegfried in Bayreuth verpflichtet, steht im Zenit seiner Karriere. Er hat wohl alle großen Wagner-Tenorpartien gestaltet und macht nicht nur als Sänger, sondern auch als Schauspieler eine sehr gute Figur. Ihm glaubt man den Wanderer zwischen der bürgerlichen Idylle der Wartburg und der Anarchie des Venusbergs, die Zerrissenheit zwischen dem Temperament und der Erotik der Venus und der reinen Liebe und Anbetung der Elisabeth. Die Romerzählung nach fast drei Stunden auf der Bühne kommt als resignierte Bankrotterklärung eines im Leben Gescheiterten. Wie er die Altmännerstimme des Papstes nachmacht – große künstlerische Gestaltung!
Elisabeth Teige ist eine sehr lyrisch angelegte Elisabeth, die nicht nur ihre überbordende Freude über Tannhäusers Rückkehr in der Hallenarie überzeugend zum Ausdruck brachte, sondern auch die tiefe Resignation darüber, dass er nicht aus Rom zurückkommt.
Ekaterina Gubanova als hochdramatischer Sopran stellte die durchgeknallte amoralische Venus, die Tannhäuser mit ihrer temperamentvollen Erotik fesselt, schon bei der Premiere am 25. Juli 2019 überzeugend dar. Sie verkörperte perfekt das anarchische Element und ist, vor allem auch im zweiten Akt als Besetzerin des Festspielhauses, Handlungsträgerin. Mich hat diese Venus mit ihrer kriminellen Energie fast schon an Mitglieder der Rote Armee Fraktion erinnert.
Markus Eiche gestaltete die langen Melodiebögen des Wolfram von Eschenbach perfekt. Wolfram liebt Elisabeth auf keusche Weise, nutzte aber dann doch die Gelegenheit für einen Geschlechtsverkehr in der Verkleidung als Tannhäuser im Wohnmobil – ohne Sexualität ist Liebe schwer denkbar. Günter Groissböck ist mit volltönendem tiefem Bass der ideale Landesvater und Vormund Elisabeths. Der farbige Südafrikaner Siyabonga Maqungo als Walther von der Vogelweide ließ aufhorchen, Olafur Sigurdarson (Biterolf), Martin Koch (Heinrich, der Schreiber), und Flurina Stucki als junger Hirte komplettierten das Ensemble.
Der groß besetzte Festspielchor in der Einstudierung des jetzt scheidenden Eberhard Friedrich und das Orchester der Bayreuther Festspiele unter der Leitung von Nathalie Stutzmann vervollkommneten den perfekten Opernabend.
Die Inszenierung wurde kurzweilig durch die Filmeinblendungen von Manuel Braun, die einerseits die historische Wartburg zeigten, die aufgesetzte Rahmenhandlung bebilderten und mit Großaufnahmen der Protagonisten wie großes Kino wirkten.
Tobias Kratzer hat moderne Videotechnik genutzt, um die Handlung zu illustrieren und zu fokussieren. Den Grundkonflikt, dass jemand, der sich außerhalb der Gesellschaft stellt, von dieser bestraft und ausgegrenzt wird, hat er mit der Verhaftung Tannhäusers durch die Polizei bildstark visualisiert. Nicht logisch wirkte jedoch der Anschluss im dritten Akt. Wie kommt Tannhäuser aus der Haft nach Rom? Absolut klar wird allerdings, dass Tannhäuser durch sein Verhalten die naive Elisabeth tödlich tief verletzt hat.
Diese Inszenierung hat mit einer zugefügten Handlung als eine Art Spielfilm den Tannhäuser in die Gegenwart geholt. Die Faszination dieses Musiktheater-Ereignisses liegt für mich darin, dass der zentrale Konflikt der Ausgrenzung von Abweichlern mit modernen Mitteln der Visualisierung spannendes Theater ist. Auch Besucher, die Wagners Tannhäuser noch nie gesehen hatten, waren von der Umsetzung begeistert, denn es war ist einfach gutes Musiktheater mit überraschenden Details für Kenner.
- Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Bayreuther Festspiele 2024 / Stückeseite
- Titelfoto: Bayreuther Festspiele/TANNHÄUSER 2024/ Foto: ©Enrico Nawrath