Thomas Johannes Mayer rettet den Spielzeitabschluss: Die Dernière der neuen „Meistersinger“ an der Deutschen Oper Berlin (Rezension der Vorstellung vom 09.Juli 2022)
Die Deutsche Oper Berlin bot ihrem Wagner-begeisterten Publikum in der aktuellen Spielzeit 2021/22 hinsichtlich Besetzung und Regie gleich mehrere außergewöhnliche Aufführungen. Zunächst wurde im vergangenen Herbst der hochgelobte „Ring des Nibelungen“ in der spannenden Lesart von Stefan Herheim vollendet und gleich mehrmals zyklisch aufgeführt. Im Frühjahr diesen Jahres stand schließlich mit der Wiederaufnahme des „Parsifal“ das Rollendebüt von niemand geringerem als Anja Harteros in der Partie der Kundry auf dem Spielplan (welches dann leider doch nicht stattgefunden hat). Nun komplettierte die sommerliche Neuinszenierung der „Meistersinger von Nürnberg“ den wahrlich elaborierten Wagner-Spielplan im Opernhaus an der Bismarckstraße. Und doch wäre um ein Haar die letzte Aufführung zum Saisonabschluss am 9. Juli ausgefallen, denn der Sänger des Hans Sachs, Johan Reuter, musste coronabedingt kurzfristig absagen. Es ist nahezu unmöglich für diese mitunter umfangreichste Partie des Wagnerkanons kurzfristig einen adäquaten Ersatz zu finden. Drei Stunden bevor sich der Vorhang hob, gelang es der Deutschen Oper Berlin mit Thomas Johannes Mayer einen Bassbariton zu engagieren, den man als Sachs gar nicht vermutet hätte. Zwar hat „TJ-Mayer“, wie ihn seine Fans nennen, als Fliegender Holländer oder Telramund die Wagnerbühnen der Welt ersungen – den Sachs hat er bislang recht selten verkörpert, im deutschsprachigen Raum seit vielen Jahren nicht mehr!
Jeder anderer Sänger würde als Einspringer unter diesen Umständen die Partie aus der Partitur vom Bühnenrand singen, nicht so Thomas Johannes Mayer: Dieser warf sich mit vollem Einsatz und ohne Probe direkt auch szenisch in die Aufführung. Naturgemäß ist er ein Bühnentier, mit Bart und langer Mähne fand er sich trefflich in die Inszenierung, welche den Schustermeister Sachs als bunten Paradiesvogel und Alt-68er darstellt, ein. Der Regisseur Jossi Wieler baut in der Sachs-Eva Beziehung über längere Zeitspannen hinweg intime und körpernahe Verbandlungen auf, in denen er die Figuren in einer toxischen Dreiecksbeziehung mit Walther interpretiert. Mayer bestach mit einem unglaublichen Improvisationstalent, dank welchem ihm kurze Stichworte ausreichten, um die vertrackten Gefühlsemulsionen- und wandlungen des Sachs auch in dieser Inszenierung glaubhaft zu vermitteln. Doch auch gesanglich füllte er mit seiner rau-herben, besonders in der Tiefe ausgeprägten Stimme die Partie voll und ganz aus. Obgleich er tags zuvor noch den „Walküre“-Wotan in Leipzig sang, zeigte der Bassbariton kaum Ermüdungserscheinungen und wirkte in der Partie gut disponiert, eloquent und textsicher. Selbst in der Schlussansprache klang seine Stimme noch eindringlich und überzeugend. Er bewies sich als Sängerdarsteller mit einem Theatersinn, wie ihn Wagner selbst sich gewünscht haben muss! Auch wenn die Partie des Sachs durchaus mehr Bewusstsein für das Wort-Ton-Verhältnis eines Liedsängers vertragen hätte und Mayer so machen Spitzenton gekonnt umschiffen musste – üblicherweise ist er ja für die dämonischen Bösewichte Wagners zuständig – bejubelte das Publikum seine außerordentliche Gesamtleistung mit tosendem Applaus und Standing Ovations. Der eigentliche Star der Aufführung, Klaus Florian Vogt als DER Walther von Stolzing schlechthin, verblasste zum Schlussapplaus neben ihm fast ein wenig. Und doch war an diesem Abend Vogts helle, schlank- und zugleich sicher geführte Stimme, gesegnet mit dem richtigen Gespür für das Dichtertum, auch noch 15 Jahre nach seinem Rollendebüt wieder eine pure Freud
Ya-Chung Huang glänzte zuletzt schon in der Partie des Mime und übertraf sich als David wieder einmal selbst. Mit ungeheurem Witz und einem Wortverständnis in der Qualität eines Schauspielers verkörperte er die Tenorpartie des David in purer Leichtigkeit und zeigte dabei tiefstes Verständnis für die Dichtung Richard Wagners. Heidi Stober stand als Eva nun erstmals in einer großen Wagner-Rolle auf der Opernbühne. Der Regisseur gab ihrer Partie mehr Raum als üblich, so dass aus Stobers Darstellung der Eva ein Mensch mit differenzierten Gefühlen und Ängsten entstand. Sie verkörperte eine durchwegs selbstbewusste Frau, die ihr Schicksal und auch ihre Liebesbeziehungen trotz patriarchaler Umgebung selbst in die Hand zu nehmen wusste, um nicht nur als Preis eines Sängerwettstreits wahrgenommen zu werden. Stobers Sopranstimme klang zunächst zart und einfühlsam, konnte zugleich in den passenden Momenten, wie etwas bei „Oh Sachs, mein Freund“ zu ungeheurer Dramatik aufsteigen.
Die Neuinszenierung von Jossi Wieler (gemeinsam in alter Tradition mit der Bühnenbildnerin Anna Viebrock und dem Dramaturgen Sergio Morabito) hatte trotz durchwegs negativer Premierenkritiken einige Stärken vorzuweisen. Es waren intensive Einzelszenen, die Wieler überzeugend mit zwischenmenschlicher Personenregie in trefflicher Mimik und Gestik auf die Bühne brachte. Es ist dem Regieteam jedoch nicht gelungen, die im Programmheft versprochene Geschichte von Machtmissbrauch und #MeToo-Skandalen an Musikhochschulen glaubwürdig oder stringent anhand Wagners Dichtung nachzuerzählen. Bedauerlicherweise ließ Wieler die ernsthaften Situationen mit allerlei Klamauk, Klischee und biederem Witz von den Chor- und Lehrbuben unterbrechen – einen roten Faden oder ein Spannungsbogen ließ diese Regiearbeit bis zuletzt leider vermissen.
Umso war erfreulicher jedoch der saftig-kraftvolle Wagnerklang des Orchesters der Deutschen Oper Berlin unter der Leitung von John Fiore. Dieser sprang für den erkrankten GMD Sir Donald Runnicles ein und erzielte musikalisch bessere Ergebnisse als zuvor Markus Stenz am Premierenabend dieser Inszenierung. In lange und wuchtige, zugleich nicht zerdehnte, Phrasen der Streicher webte Fiore die präzise-beflügelten Holzbläser-Einsätze. Auch der Chor der Deutschen Oper Berlin sang kraftvoll und gut portioniert innerhalb der einzelnen Gruppen und im Wechselspiel mit den Soli-Stimmen. Summa summarum waren diese Meistersinger trotz oder gerade wegen der Dynamik des Einspringens von Fiore und Mayer eine musikalisch äußerst lebendig-erfrischende Aufführung und somit ein würdiger Spielzeitabschluss der Deutschen Oper Berlin.
- Rezension von Phillip Richter / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Deutsche Oper Berlin / Stückeseite
- Titelfoto: Deutsche Oper Berlin/“Die Meistersinger von Nürnberg“/ Foto Thomas Aurin