
Die Sonntagnachmittagsvorstellung am 22.10.2023 war gut besucht, viele Schulklassen und jüngeres Publikum waren gekommen. Es gab lebhaften Applaus, am Schluss stehende Ovationen für die hervorragenden Solistinnen und Solisten, den Opernchor, die zahlreichen Statistinnen und Statisten und das Beethoven-Orchester unter der Leitung des Kapellmeisters Hermes Helfricht. Das zeigt, dass Mozarts Musik so ziemlich alles aushält. (Gesehene Vorstellung v. 22.10.2023 / 16.00 Uhr)
Mozarts „Entführung aus dem Serail“ ist eine dankbare Oper für Musikkurse, denn es gibt keine Sprachbarriere, und Mozart hat für die Uraufführung im Wiener Burgtheater am 16. Juli 1782 alle Register gezogen, der im 18. Jahrhundert verbreiteten italienischen und französischen Oper etwas entgegenzusetzen. Mit der damals modernen Janitscharenmusik – man ergänzte das Orchester der Wiener Klassik um Becken, große Trommel, Piccoloflöten und Triangel – schuf Mozart türkisches Lokalkolorit und schon mit der Ouvertüre einen Allzeit-Hit.
Die erfolglos gebliebene Belagerung Wiens durch die Türken im Sommer 1683 hatte ein Problembewusstsein bezüglich der Bedrohung Wiens durch die osmanische Kultur erzeugt, in das die Geschichte der von Piraten entführten Konstanze, Blonde und Pedrillo, die von Belmonte gerettet werden sollten, hervorragend passte. Der junge Mozart schuf mit diesem zu seinen Lebzeiten erfolgreichsten Werk eine Huldigungsoper für den Kaiser Joseph II. (1768-1834), die in ihrer musikalischen Komplexität, in der Tiefe der dargestellten Gefühle und in der Vielfalt der Ensembles alles in den Schatten stellt, was bis dahin auf der Opernbühne gezeigt wurde. Es ist ein deutsches Singspiel, eine Komödie mit gesprochenen Zwischentexten in deutscher Sprache und einem Happy End. Kaiser Joseph II. war der Prototyp eines aufgeklärten Monarchen, der in der Donaumonarchie die Aufhebung der Leibeigenschaft, die Abschaffung der Zensur und die Einführung der Religionsfreiheit für Protestanten, orthodoxe Christen und Juden durchsetzte. Sein Anliegen war es, das Deutsche durch erfolgreiche Bühnenwerke zu fördern.

Dieser Ansatz wurde von der Regie kräftig konterkariert. Alle gesprochenen Dialoge wurden gestrichen, die Gesangsnummern wurden in eine Revue im Stil des französischen Jahrmarkttheaters mit viel Klamauk und deftigen Bildern verwandelt und mit abstrakten philosophischen Texten eingeleitet. Der Charakter des heiteren Singspiels wurde komplett zerstört.
Aufgesetzt und übermäßig belehrend wirkte der von Tobias Schabel mit Grabesstimme vor der Ouvertüre vorgetragene Text von Bartolomé de las Casas über die „Verwüstung der Westindischen Länder“, in dem es um Gemetzel geht, die christliche Seefahrer unter der indigenen Bevölkerung der Westindischen Inseln anrichteten.
Bühnen- und Kostümbildner Hank Irwin Kittel bebilderte die Ouvertüre mit einem pavillonartigen Raum, in dem österreichische Herren und Damen unter aufgespießten Türkenköpfen (aus Pappmaché) tafelten. Ein Trupp exotisch Gekleideter dringt ein, es fließt Blut.
Die philosophischen Texte von Martin Luther, Michel de Montaigne (in französischer Sprache von Konstanze vorgetragen), Karl Marx, Jean Jacques Rousseau, die statt der Dialoge als Ergänzung zu den wundervollen Arien und Ensembles gesprochen wurden, haben den belehrenden Charakter des inszenierten Stücks allzu deutlich herausgestrichen. Dazu kamen zum Teil doch recht drastische Bilder von Massakern an Indigenen, die über der Bühne gezeigt wurden. Es war viel zu ambitioniert und meiner Meinung nach unpassend, mit der „Entführung aus dem Serail“, von Mozart als „Deutsches Singspiel“ konzipiert, die Greuel der europäischen Kolonialgeschichte aufarbeiten zu wollen. Einige nahmen auch Anstoß an den übertrieben großen männlichen Geschlechtsteilen, die den „Barbaren“ angeheftet waren und an den teilweise doch recht deftigen Bildern von wackelnden nackten Hinterteilen. Dass die Arien und Ensembles mit zum Teil hektischen und ablenkenden Pantomimen untermalt wurden (Männer mit pinkfarbenen Trikots, auffallenden Geschlechtsteilen und Pudelköpfen springen durch einen brennenden Reifen zu Blondchens Arie) trug auch nicht zur Akzeptanz bei.
Die Schülerinnen und Schüler und auch die meisten erwachsenen Besucher nahmen es gelassen und unterhielten sich lebhaft über die unerwartete Aktualität der jeweiligen Bilder und Szenen. Es entstand ein vielfältig, teilweise drastisch, bebildertes Lehrstück über Terrorismus, Vorurteile, Feindbilder, Geschlechterrollen und den „Tod als Übergang zu Ruh“, das fünf Protagonisten in Grenzsituationen mit Mozarts Musik verklärte. Ich fand es als Theaterevent durchaus aufrüttelnd und ansprechend.
Mich hat der Brief Mozarts an seinen Vater über den Tod, der von Konstanze vorgetragen wurde, besonders berührt. Dadurch bekam das Singspiel eine nie gekannte Ernsthaftigkeit im Duett: „Welch ein Geschick, o Qual der Seele!“ Mit dem Vaudeville: „Nie wird ich deine Huld verkennen,“ löste sich die Spannung im obligatorischen Lieto fine auf.
Musikalisch erlebte man ein bestens geführtes Beethovenorchester mit transparentem Mozart-Klang unter der Leitung von Hermes Helfricht mit einer neuen Ausgabe der Partitur aus dem Bärenreiter-Verlag, die an einigen Stellen ungekannte Verzierungen vorsah.

Da man die gesprochenen Texte gestrichen hatte kam der aufgeklärte Renegat Bassa Selim, Inkarnation des Kaisers Josef II., gar nicht vor. Der Orient wurde einzig vom Janitscharenchor und von Osmin als Haremswächter und zugewiesenem Partner Blondchens vertreten. Tobias Schabel zeigte sich ganz in seinem Element. Den Schmerbauch, den viele Darsteller der Rolle von Natur aus haben, schnallte er sich kurzerhand um, und mit einer wilden Rasta-Perücke verwandelte er sich vom sonoren Sprecher des Eingangstextes zum herrschsüchtigen und durch das Eindringen der Fremden verunsicherten Muselmanen. In der Konfrontation mit Blondchen („Ich gehe, doch rate ich dir, den Schurken Pedrillo zu meiden“,) und Belmonte („Solche hergelaufne Laffen“,) entfaltete sich der Unterschied zwischen den Kulturen. Die Arie: „Oh, wie will ich triumphieren,“ wurde bebildert mit Osmin, der in der Intendantenloge kunstvoll einen riesigen Schweinskopf tranchierte – eine köstliche Szene („… wenn sie euch zum Richtplatz führen und die Hälse zu schnüren zu,“) und ein wenig eklig. Schabel hatte zwar nicht die mühelose Tiefe und die Wucht eines Franz-Josef Selig oder Martti Talvela, aber einen sehr beweglichen Bass und große Spielfreude.

Die belgische Sopranistin Lisa Mostin als Konstanze hat die drei großen Arien mit einem gut geführten lyrischen Sopran ergreifend gestaltet. Mit Trippelschrittchen wie ein Püppchen im Reifrock mit weißer Perücke gab sie die adelige Dame. Die halsbrecherischen Koloraturen der Marternarie dienten dem Ausdruck des Aufbegehrens. Ihr zur Seite stand Manuel Günther als Belmonte als Liebender mit einem feinen jugendlichen lyrischen Tenor, dem auch die Baumeisterarie gut geriet und dem man die Zweifel an Konstanzes Treue nicht übelnehmen konnte. Diesem hohen Paar, das typische Opernarien mit Koloraturen sang, stand mit Cathrin Lange als Blondchen und Tae Hwan Yun als Pedrillo das Buffo- Paar mit schlichten Strophenliedern gegenüber. Lange zeigte dabei mit pinkfarbener Perücke im Minikleidchen à la Mary Quant großes Durchsetzungsvermögen als Mozart-Soubrette mit: „Welche Wonne, welche Lust“. Sie zeigte dem ruppigen Osmin deutlich die Zähne in der Szene: „Durch Zärtlichkeit und Schmeicheln“. Tae Hwan Yun füllte den gefährlichen Wächter Osmin mit Wein ab: „Vivat Bacchus, Bacchus lebe,“ und motivierte alle zur Tat: („Frisch zum Kampfe..“). Höhepunkte waren das Quartett am Ende des zweiten Aktes mit dem Wiedersehen: „Ach, Belmonte, ach mein Leben,“ und das Vaudeville: „Nie werd´ ich deine Huld verkennen,“ am Schluss, bei denen die Stimmen prächtig harmonierten. Der von Marco Medved einstudierte Bonner Opernchor glänzte als Janitscharenchor, das Beethovenorchester unter Hermes Helfricht produzierte erlesenen Mozartklang. Ein besonderes Lob gebührt den Bonner Theaterwerkstätten, die so viele Pappmaché-Köpfe, Folterinstrumente und phantasievolle Kostüme für Protagonisten und Statisten fertigten.
Es war ein Theaterspektakel mit sämtlichen Gesangsnummern aus Mozarts „Entführung aus dem Serail“, das die Vorurteile und Feindbilder zwischen den verschiedenen Kulturen, aber auch zwischen Männern und Frauen, und die Verbrechen der christlichen Seefahrer an den indigenen Völkern problematisierte. Die anwesenden Schülerinnen und Schüler haben es offensichtlich so verstanden.
Mit dieser Produktion hat die Regisseurin jedoch die Erwartungen des Premierenpublikums, das sich auf ein unterhaltsames Singspiel mit der moralischen Überlegenheit der aufgeklärten Europäer über einen tumben und giftigen türkischen Haremswächter gefreut hatte, gründlich konterkariert. „Regisseurin Katja Czellnik musste sich einen Buh-Orkan gefallen lassen, nachdem zuvor Darsteller und Musiker ausgiebig bejubelt worden waren,“ so Bernhard Hartmann im Bonner Generalanzeiger vom 19. September 2023. Der Protest des Premierenpublikums muss so massiv gewesen sein, dass man kurzerhand die letzten beiden Vorstellungen gestrichen und durch die Wiederaufnahme von „Madama Butterfly“ in einer „klassischen“ Inszenierung von Marc Daniel Hirsch ersetzt hat.
- Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Oper Bonn / Stückeseite
- Titelfoto: Oper Bonn/ENTFÜHRUNG A.D.SERAIL/Lisa Mostin, Ensemble/Foto © Emma Szabó