Grundlage des Librettos ist Eugéne Sribes Textbuch zu Aubers „Gustave III ou Le bal masqué“, in dem er die Ermordung des sehr kunstsinnigen schwedischen Königs im Jahr 1792 durch den jungen Adeligen Johan Anckarström auf einem Maskenball verarbeitete. Für Verdi verfasste Antonio Somma eine stark verdichtete Fassung. Es ist die lange erwartete Fortsetzung der „Verdi-Maschine“ von Regisseur Sir David Poutney mit dem versierten Verdi-Dirigenten Will Humburg. Alle Erwartungen an einen saftigen Verdi der mittleren Schaffensperiode mit zahlreichen anspruchsvollen Arien und Ensembles, die in opulenten Schlussszenen gipfeln, werden erfüllt, wobei schon das Bühnenbild von Raimund Bauer keinen Zweifel lässt, dass es sich hier um ein Theater im Theater handelt. Poutney hat nicht umsonst „Les vêpres siciliennes“, „Un Ballo in Mashera und „La forza del destino“, Opern über schicksalhafte Verstrickungen mit tödlichem Ausgang, in den gleichen Bühnenbildelementen – von Bühnenarbeitern geschobene bühnenhohe riesige Wände, diesmal mit integrierten Opernlogen, und zwei Hochsitzen – angesiedelt. Thema ist die Maskerade mit allen ihren Konsequenzen. (Rezension der Premiere v. 11.12.2022)
Schon das Eröffnungstableau stilisiert die Grundkonstellation mit Gothic-Elementen: Auf einem Podest aufgebaut ist ein Sarg, auf dem Lada Bočkova als der Page Oscar liegt, und dem später Arthur Espiritu als Riccardo in einem schwarzen barocken Gehrock entsteigt. Der Chor der Höflinge stellt die frivole Atmosphäre an Riccardos Herrschaftshof dar. Unter dem Aufbau kauern maskierte Verschwörer. An einer Seite des Sargs sitzt die junge Nana Dzidziguri als die unverkleidete Ulrica im schlichten schwarzen Kleid.
Riccardo entsteigt dem Sarg, hält seine Morgenaudienz ab und freut sich sehr über ein Schriftsück, das den Namen „Amelia“ enthält. Er ist offenbar von dieser Dame fasziniert. Der Gatte dieser Dame, sein Sekretär Renato, warnt ihn vor einer Verschwörung, die gegen Riccardo geplant sei. Der oberste Richter (Tae Hwan Yun) erscheint und verlangt vom Herrscher, die Wahrsagerin Ulrica zu verbannen, weil sie das Volk in Unruhe versetze. Der Page Oscar, Mittler zwischen Herrscher und Volk, spricht dagegen, indem er sich übertreibend über sie lustig macht. Riccardo bestellt die Hofgesellschaft zum Lokaltermin bei Ulrica ein. Man möge verkleidet und verschleiert bei ihrer Hütte erscheinen, er wolle sich selbst ein Bild machen.
Ulrica beschwört den Teufel und prophezeit dem jungen Soldaten Silvano (Carl Rumstadt) ein Wunder, das sich mit Riccardos Hilfe prompt erfüllt. Als Amelias Diener (Justo Rodriguez) Ulrica um eine Unterredung bittet versteckt sich Riccardo und belauscht, dass Amelia Heilung von einer verbotenen Liebesleidenschaft sucht. Ulrica empfiehlt ihr ein Vergessenskraut, Amelia sie in einer Mondnacht an der Hinrichtungsstätte pflücken müsse. Als die Hofgesellschaft wieder hereindringt mischt sich der verkleidete Riccardo darunter und lässt sich von Ulrica unerkannt aus der Hand lesen. Sie prophezeit ihm den nahen Tod von der Hand der Person, die ihm als nächste die Hand gebe. Als dies Renato, sein Freund ist, gibt er nichts auf diese Prophezeiung.
An der gruseligen Hinrichtungsstätte sucht Amelia nach dem geheimen Kraut, Riccardo stößt dazu und umwirbt sie leidenschaftlich. Die Konstellation Primadonna und Spinto-Tenor blüht in einem hinreißenden Liebesduett auf. Sie wirft das Vergessenskraut weg, denn sie hat sich ernsthaft in Riccardo verliebt. Die Hofgesellschaft mit Renato ist aber Riccardo gefolgt. Renato übergibt Riccardo seinen Mantel, damit sich dieser unerkannt entfernen könne, denn die Verschwörer seien ihm auf den Fersen. Riccardo will Amelia nicht kompromittieren. Er übergibt sie Renatos Schutz und beschwört beide, ihr Inkognito durch den Schleier, den sie trägt, zu wahren.
Die Verschwörer stellen sich jedoch Renato in den Weg, denn sie wollen das Inkognito der Unbekannten lüften. Um Renato nicht in Gefahr zu bringen, entschleiert sich Amelia und kompromittiert sich dadurch als Ehebrecherin und Renato als betrogenen Ehemann. Die Verschwörer spotten nicht schlecht, und Renato ist schwer erzürnt. Zunächst weist er Amelia zurecht und droht ihr, sie umzubringen. Als sie das Zimmer verlassen hat besinnt er sich anders: der Verführer muss büßen! Er schließt sich den Verschwörern an, und die drei losen aus, dass Renato Riccardo töten soll. Oscar tritt ein und überbringt Renato und Amelia die Einladung zu einem Maskenball – die beste Gelegenheit, die Tat unerkannt auszuführen! Amelia ahnt den Plan ihres betrogenen Gatten und warnt Riccardo vor dem bevorstehenden Anschlag. Der hat beschlossen, seiner Liebe zu Amelia zu entsagen und Renato mit seiner Frau nach England zu entsenden.
Auf dem Maskenball treffen die Verschwörer zusammen, und Amelia warnt Riccardo erneut vor der Gefahr, in der er schwebt. Oscar verrät Renato, in welcher Maske Riccardo steckt. Als der vermeintliche Riccardo mit der maskierten Amelia tanzt ersticht Renato den Maskenträger. Der Getötete wird aus dem Saal getragen, und – Überraschung! – der unmaskierte Riccardo tritt ein und singt die mehr als fünf Minuten lange Arie des sterbenden Herrschers, die in einer Generalamnestie gipfelt, und übergibt Renato die Urkunde über dessen Entsendung nach England. Nachdem die Hofgesellschaft ihrer Bestürzung über den Mord Ausdruck verliehen hat, steigt Riccardo wieder in seinen Sarg – der Herrscher hat seinen eigenen Tod inszeniert und hinterlässt den Zuschauer mit dem Rätsel, wer denn nun getötet wurde und wer Komplize Riccardos war.
Im Original-Libretto stirbt der Herrscher, aber die von Poutney gewählte szenische Umsetzung geht auf Distanz zu diesem Königsmord. Er entlarvt das Stück als Oper, die es ist. Es gibt attraktive schwarze barocke Kostüme (Marie-Jeanne Lecca), üppige Ensembles, bekannte emotionale Melodien und zeitlose Konfliktstoffe. Es fehlt allerdings, wie Arnold Jacobshagen im „Verdi-Handbuch“ schreibt, eine Individualisierung oder eine psychologische Vertiefung der Charaktere. Die fünf Minuten dauernde Sterbearie Riccardos ist so ein Teil der Inszenierung des Todes des Herrschers durch Riccardo. Musikalisch ist „Un ballo in maschera“ eine typische große Oper in der Tradition der „Grand opéra“, aber dramatisch stark verdichtet. In zweieinhalb Stunden Aufführungsdauer mit einer Pause treffen typische Operngestalten aufeinander, und vor allem haben sie Gelegenheit, große Gefühle in populären Arien auszudrücken. Auch in Bonn wird hervorragend gesungen und musiziert.
Ensemblemitglied Yannick Muriel Noah als Amelia ist die Primadonna, die Frau zwischen zwei Männern, die zwischen ihrer Liebe für Riccardo und der Treue zu ihrem Gatten schwankt. Sie gestaltet diesen Konflikt mit großartigen lyrischen Momenten und virtuosen Ausbrüchen und steigert sich am Schluss in die Rolle der von ihrem Mann bedrohten um Gnade flehenden Ehebrecherin hinein. Der auf den Philippinen geborene Tenor Arthur Espiritu als feuriger Liebhaber und aufgeklärter Herrscher steht ihr in nichts nach. Er ist als einer der raren Spinto-Tenöre in der Tradition eines Pavarotti, die sichere Höhen mit lyrischem Schmelz und großer Virtuosität verbinden, an großen Häusern weltweit unterwegs. In den Duetten der beiden sprühen die Funken. Die einzige Figur, die eine dramatische Entwicklung durchmacht und auch schauspielerisch überzeugend umsetzt, ist Verdi-Bariton Giorgos Kanaris als Renato, der sich vom loyalen Freund und Sekretär zum rachsüchtigen gehörnten Ehemann und Mörder seines Herrn wandelt. Kanaris gestaltet den charakterlichen Umschwung mit stimmstarken Szenen. Ungewöhnlichste Figur in Verdis Schaffen ist die wunderbar leichtfüßige Lada Bočkova mit ihrem flexiblen hohen Sopran als Page Oscar, eine Hosenrolle, wie sie bei Verdi sonst nicht vorkommt. Ungewöhnlich ist auch Nana Dzidziguri als Ulrica, die erste echte Altistin in Verdis Schaffen wie Preziosilla und Azucena, die die dämonische Wahrsagerin mit tiefen Tönen sehr beeindruckend gestaltet. Sie wird auf einem Hochsitz mit wallendem langen Kleid und mit einer üppigen weißen Perücke auf die Bühne gefahren. Es fehlt ein Bass als Vaterfigur, dafür sind die Köpfe der Verschwörung, Samuel (Andrei Nioara) und Tom (Martin Tzonev) Bässe. Wie immer großartig agiert der Opernchor zunächst in höfischer Kleidung, dann in einheitlichen Skelettdominos nicht nur als Sänger, sondern auch als Tänzer unter der Leitung von Marco Medved. Großen Anteil am süffigen Verdi-Sound hat Dirigent Will Humburg als ausgewiesener Verdi-Experte. Er führt die Sängerinnen und Sänger mit dem Verdi-erprobten Beethoven-Orchester zu dramatischen Höchstleistungen. Am Ende der Tableaus gab es regelmäßig begeisterten Szenenapplaus, und der Schlussbeifall wollte nicht enden.
David Poutney kreiert mit dieser Selbstinszenierung seines Todes durch Riccardo eine schlüssige Version, in der man selbst vor der Herausforderung steht, zu raten, wer denn nun tatsächlich von Renato erstochen wurde, wer alles mit Riccardo unter einer Decke steckt und wer, wie das Publikum, getäuscht wurde. Durch die Rolle Riccardos als Regisseur, der seinen Tod inszeniert, geht allerdings die dramatische Fallhöhe weitgehend verloren. „Tutto nel mondo e burla,“ möchte man am Ende mit Verdis Falstaff sagen.
- Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Oper Bonn / Stückeseite
- Titelfoto: Oper Bonn/Un ballo/Mitte: Arthur Espiritu (Riccardo), Ensemble/Foto © Thilo Beu