„Speculum Maius“ ist eine ganz neue Erfahrung. Zuschauer*innen können sich auf einem Ipad, das jeder in die Hand bekommt, in einem gewissen Rahmen eine eigene Realität schaffen. Die Musik der Komponistin Wen Liu, aufgeführt von vier Sänger*innen aus dem Ensemble der Bonner Oper und vier Streicher*innen unter der Leitung von Pauli Jämsä, ist sehr rhythmisch und suggestiv, es sind eher Collagen von Geräuschen und Klangcluster als Melodien. (Rezension der Premiere v. 09.12.2022)
Mit einer kleinen Besetzung – symmetrisch gegenüber stehen sich je eine Violine (Ji Seon Seo und Elias Feldmann) und ein Cello (Elif Ünlüsoy und Merle Geißler), und Ava Gesell, Sopran, Ingrid Bartz, Mezzosopran, Johannes Mertes, Tenor und Mark Morouse, Bassbariton – wurden Klänge erzeugt, die durchaus die Rezeptionsgewohnheiten von Opernbesuchern bedienten, denn es gab Soli, Ensembles und instrumentale Phasen. Die Tonalität wurde phasenweise verlassen, denn es wurden auch Vierteltöne gesungen und gespielt. Trotzdem klang die Musik nicht schräg, sondern eher wie eine reflektierende Geräuschkulisse. Sie erinnerte ein wenig an Filmmusik, die unheimliche Szenen illustriert. Die Streichinstrumente spiegelten die Gesangslinien. Gesang und Instrumentalmusik wurden mit Mikrophonen aufgenommen und elektronisch verfremdet und verändert und zusätzlich eingespielt. Der Dramaturg Dr. Benedikt Holtbernd erklärte, dass die Aktionen der Zuschauer*innen die von den Mikrophonen aufgezeichneten Klänge veränderten und beeinflussten. So sei jede Aufführung ein Unikat.
Sehr interessant war es, den auf der Treppe platzierten Dirigenten Pauli Jämsä zu beobachten, wie seine Bewegungen in Musik umgesetzt wurden. Der an ein Amphitheater erinnernde Vortragsraum im Keller des Bonner Kunstmuseums, der schätzungsweise 200 Zuschauer*innen fasst, war gut besetzt. Die Musiker*innen und Sänger*innen waren hinter dem Publikum platziert, ebenso das elektronische Equipment. Dadurch wurde man selbst Teil der Aufführung.
Szenisch erblickt man die junge schwarz gekleidete Schauspielerin Maria Stamencović Herranz in einem Arbeitszimmer, die Gegenstände sortierte und beschrieb. Sie zitierte Texte aus der ersten Enzyklopädie Speculum minor und Speculum maius, in der der Mönch Vincenz de Beauvais um 1244 alles gesammelt hat, was dazu dienen konnte, die Welt zu erklären, im Sinne eines Spiegels, der die Welt reflektiert. Sie stellte die „Mönchsfigur“ dar, aber das Geschlecht spielte eigentlich keine Rolle. Sie hatte ein Smartphone wie ein Mikrophon vor sich, tippte auf einem Tablet und verkörperte dadurch unsere eigenen Rezeptions- und Kommunikationsgewohnheiten. Regie führte Martin Butler.
Ausgewählte Texte des Speculum maius wurden in mit Texten erläuterte Bilder von Blumen und Tieren übersetzt und Buchstaben in gestaltbare Objekte verwandelt, die jeder Zuschauer individuell bearbeiten und variieren konnte, zum Beispiel, indem man einen Belugawal drehte und von verschiedenen Seiten betrachtete.
Das Speculum historiale, das den Menschen in seiner historischen Entwicklung beschreibt, wurde durch den Lauf durch einen Tunnel und durch eine Landschaft, den man schneller oder langsamer gestalten konnte, visualisiert. Es war vielleicht nicht allen deutlich, wie man als Zuschauer seine „Extended Reality“ auf dem Ipad beeinflussen konnte, da das Format so innovativ war. Es könnte ein Sinnbild dafür sein, dass viele mit der Digitalisierung und dem Überfluss an Informationen überfordert sind.
Das K8 Institut für Strategie Ästhetik GmbH, Saarbrücken hat mit einem Team von Professoren und studentischen Hilfskräften die App auf dem Ipad realisiert und dadurch den Zuschauer*innen in begrenztem Rahmen die Möglichkeit gegeben, die von ihnen wahrgenommene Wirklichkeit individuell zu gestalten. Durch die Kamera des Ipads konnte man im ersten Teil die Bühne mit der Mönchsgestalt wahrnehmen und Blumen einfügen. Sie hantierte mit Wasser, dem Quell des Lebens, und passend dazu erschien auf dem Tablet eine Wasserwelt, in der man Meerestiere erkennen konnte, die man durch Wischen bewegen konnte. Ich hatte einen Delphin und eine Seekuh, mein Nachbar eine Schildkröte, die Bilder waren also von Gerät zu Gerät verschieden.
Meine Freundin, die praktisch nie Opern gesehen hat, empfand, dass dies ein phantastischer Anfang einer Entwicklung sein könne, die wirklich neu ist. Sie hat als Graphik-Designerin einen ganz anderen Schwerpunkt der Wahrnehmung: „You weren’t viewing it, you were part of it, and it became a complete virtual reality which you had control of along with other members of the audience. It was completely different from other opera experience.“ („Man war kein Zuschauer, sondern man war Teil davon, und es wurde eine komplette virtuelle Realität, die man zusammen mit den anderen Angehörigen des Publikums kontrollieren konnte. Es war völlig anders als jede andere Opernerfahrung.“)
Es könnte ein Zugang zu Oper sein, der Menschen, die nie Oper erlebt haben, erreicht. Es ist ein eigenständiges Format, das ein neues Publikum erreichen kann, zum Beispiel jüngere Menschen, die mit Computerspielen aufgewachsen sind. Die Live-Musik war ein wirklich belebendes Element, denn bei klassischen Computerspielen ist die Musik ein eher untergeordneter Aspekt.
Diese innovative Verknüpfung von Theater, Oper und virtueller Realität geht in ihrer Individualität deutlich über Videoprojektionen hinaus und hat meiner Begleiterin, die kein Deutsch spricht, sehr gut gefallen. Wir bekamen beide den Denkanstoß, über die „Wirklichkeit“, die durch (elektronische) Medien vermittelt wird, nachzudenken. Der Transfer des Wissens des Mittelalters vom Buchstaben zum vom Zuschauer gestaltbaren Bild mittels einer programmierten App führte uns vor, dass jede(r) Teilnehmer(in) an diesem Abend eine andere Wirklichkeit wahrgenommen und gestaltet hat, bei der die Musik und der von einer Schauspielerin gesprochene Text die gemeinsame Klammer waren. Es stellen sich Fragen nach der Manipulation der wahrgenommenen Realität durch Medien: Wer wählt die Inhalte aus? Wer programmiert die App mit welchen Zielen?
Es war jedenfalls ein spannendes Experiment und eine kurzweilige Stunde interessantes Musiktheater.
- Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Infos auf den Seiten des Theater Bonn
- SPECULUM MAIUS Eine interaktive Live-XR-Oper in zwei Teilen in Kooperation mit dem Kunstmuseum Bonn & der Speculum maius – eine Live VR-Oper GbR
- Titelfoto: Maria Stamenkovíc Herranz (Mönchsgestalt)/Foto © Thilo Beu