Liebe Freunde des großen schönen Handlungsballetts,
heuer gilt es über einen wunderschönen Tanztheaterabend zu berichten, bei dem nicht nur dem Rezensenten das Herz aufging.
Auch der finale Jubel des Publikums bewies, dass Intendant Jens-Daniel Herzog mit der Wahl dieser Produktion, die ausnahmsweise nicht vom Ballettchef des Hauses Xing Peng Wang produziert wurde, absolut ins Schwarze getroffen hat. Bravo!
Nun hat das Dortmunder Theater ja schon gute und erfolgreiche Erfahrungen mit populären massentauglichen Inszenierungen – ich erinnere nur an „Jesus Christ Superstar“, wo praktisch alle Termine binnen Stunden ausverkauft wurden und man sogar mit viel Mühe noch Zusatzveranstaltungen einplante, um den Publikumsansturm begegnen zu können; zugegebener Maßen war Vieles auch der Popularität Alexander Klaws zu verdanken.
Ich denke, dass subventioniertes Theater aber durchaus die Aufgabe hat, im Repertoire der Vielfältigkeit solch unterhaltsamen Produktionen auch anzubieten, vor allem da im Konkurrenzumfeld große Häuser existieren, bei denen es ballettmäßig wenig allzu Freudvolles gibt weil schlichte nette Ballett-Unterhaltung (ausgesprochen publikumsverächtlich, wie ich finde) als verpönt quasi verketzert wird.
Ich denke, dass mal wieder sehr viele Ballettfreunde aus dem rheinischen Umfeld der Landeshauptstadt diese kleine Reise nach Dortmund mit ihren Kindern antreten werden, wobei ich Oma und Opa, Tanten, Nichten, Neffen und Cousinen nicht ausschließen würde, denn dies ist wirklich einer jener seltenen Abende, der ein Theater-Erlebnis für die ganze Familie garantiert. Man kommt ohne die üblichen Christmas-Accessoires aus und dennoch passt es. Zentrales Requisit dieser Aufführung ist natürlich die klassische Nußknackerfigur, allerdings mit Kermitkopfund froschig grünen Stiefelchen.
Subtile Humorismen dieser Art, wie im Bild oben auch das Conchita-Wurst-Double, begegnen uns im tollen Bühnenbild von Paul Cox (nebenher noch ein bekannter Kinderbuchzeichner und Maler zeitgenössischer Bilder) am laufenden Band, wobei sein Einfallsreichtum sich auch in den Kostümen widerspiegelt. Die Mäuse, pars pro toto sind einfach umwerfend und die Requisiten, die mich optisch in ihren Pastellfarben an ein Ikea-Kinderzimmer erinnern, präsentieren sich simpel und zeitlos schön. Das Motto lautet weniger ist mehr. Cox kommt mit marginalen Dingen aus und schafft dennoch eine lamettafreie Weihnachts-Atmosphäre.
Die Produktion von Benjamin Millepied (Ballettchef der Pariser Oper) hat seit ihrer UA 2005 ihren Charme keinesfalls eingebüßt. Für Cineasten vielleicht nicht uninteressant: Millepied ist mit der großen Hollywood-Schauspielerin Nathalie Portman verheiratet und hatte damals auch für den mit Filmpreisen (incl. Oscar für die Hauptrolle) geradezu überschütteten Streifen The Black Swan (USA 2010) die Choreografie übernommen.
Für Dortmund haben dieses Ballett Janie Taylor und Kurt Froman einstudiert; natürlich hat es sich Millepied nicht nehmen lassen den finalen Jubel-Applaus in Gesamtverantwortung persönlich entgegen zu nehmen. Dieser war herzlich und kam von einem enthusiasmisierten jungen Ballettpublikum, welches Gott-sei-Dank nicht ins stalinistisch rhythmische Parteitagklatschen verfiel – sehr sympathisch ;-)))
Auch wenn es tänzerisch in den Ensembles noch etwas an Kongruenz mangelte, sprühten doch alle Tänzer eben jene Leichtigkeit des Seins bzw. Tanzes sehr überzeugend aus. Solch scheinbare Schwerelosigkeit hebelt Zeit und Raum aus. Man taucht ein in eine Zauberwelt, die eigentlich fast alltäglich sein könnte. Alices Wunderwelt könnte durchaus einem heutigen Kinderzimmer ähneln.
Ich denke, dass so etwas, wie auch im Film, halt nur die Franzosen dermaßen locker hinbekommen, ohne dabei ins Kitschige zu verfallen, wie z.B. unsere amerikanischen Freunde. In den Staaten ist der Nussknacker quasi ein Synonym fürs Ballett, denn gut die Hälfte aller Tanztheaterabende in den Staaten heißen „Nussknacker“. So etwas erfährt man u.a. in der vorzüglichen Einführung, immer 45 Minuten vor Vorstellungsbeginn, die ich nur ausdrücklich empfehlen kann, denn den charmant, frei und informativ plaudernden Kollegen Christian C. Baier (Chefdramaturg des Balletts) und Tobias Ehinger (Manager des Balletts Dortmund) zu lauschen, war eine rhetorische Freude, auch für Fortgeschrittene und Ballettkenner.
Aus dem großen Kreis der guten Solisten möchte ich die junge Sarah Falk (Clara) mit herrlich klassischer Doris Day-Frisur doch einzeln erwähnen, denn sie strahlte, wie ihr kleiner Prinz Alysson da Rocha Alves, auch tänzerisch, eben genau diese charmante Fröhlichkeit und Natürlichkeit aus, welche das ganze Ballett durchzieht und sich besonders auch in den originell spritzig choreografieren Divertissements bei allen Solisten zeigte. Das Motto „Modern-Dance meets Classical-Choreography“ ist ein roter Faden, der sich von den Ursprüngen von Petipas „antiker“ Urchoreografie schon ziemlich distanziert. Ein Ballett unserer Tage halt für die fröhlichen Menschen unserer Tage, die noch undeprimiert genießen wollen und hier sogar einen Fluchtpunkt aus den Ärgernissen des Alltags finden.
Für einen Ballettabend war die Leistung der Dortmunder Musici unter Gabriel Feltz durchaus akzeptabel; seine flotte Gangart passte sehr gut zur Choreografie. Russische Seelenabgründe, Tiefe oder Bolschoi-Schwere gab es nicht. Ein besonderes Kritikerlob geht in Richtung der beiden Harfenistinnen Nicole Müller und Valeska Gleser, die mich sehr beeindruckt haben. Bravi!
Fazit: Eine weihnachtliche Schneekugel
Ein auf allen Ebenen leichtfüßig überzeugender Nussknacker, der sich aus dem klassischen Einerlei tradierter Klassikschwere oder historischer Kostümorgien wohltuend abhebt. Wir vergeben für diesen außergewöhnlichen Abend zusätzlich unserer raren OPERNFREUND-Stern.
Ich denke, dass solch ein wunderbarer Abend auch ein Motivations-Ansporn für Jugendliche und Kinder ist, sich mehr, vielleicht sogar selber aktiv, mit Ballett zu beschäftigen, was wirklich soooooo schöööön sein kann…
Kritik von Peter Bilsing / Der Opernfreund / 21.10.15 – (Herzlichen Dank dafür, lieber Peter! Detlef Obens/Das Opernmagazin)