Tschaikowsky für (fast) alle Sinne: Kindgerechter Höllenritt mit den Berliner Philharmonikern

Francesca da Rimini/11.06.2023/ K. Petrenko/Berliner Philharmoniker/Foto @ Monika Rittershaus 

Musikvermittlung – was im ersten Moment etwas sperrig klingt, ist unter dem Begriff Education-Arbeit in vielen Orchestern mittlerweile Teil der Arbeit. Bei den Berliner Philharmonikern ist neues Publikum zu begeistern sogar Chefsache: Unter der Leitung von Kirill Petrenko und mit Hilfe von Regisseurin und Autorin Nina Kupczyk bringt das Orchester Piotr Tschaikowskys „Francesca da Rimini“ auf die Bühne. (Rezension der Vorstellung v. 11.06.2023)

 

 

Ein Sonntagmorgen in Berlin, die gelb-goldene Philharmonie strahlt im Sonnenlicht. In ihrem verwinkelten Foyer flitzen Kinder die Treppen rauf und runter, Familienfotos werden vor den bunten Farbfenstern geschossen – herrscht vor Beginn allgemeine Aufregung, wird es schon bald ruhig im philharmonischen Rund. Als die ersten Töne von Tschaikowskys Tondichtung erklingen, erscheint ein im roten Umhang gekleideter Mann neben der Orgel. Zeigende Finger schnellen in die Höhe, leises flüstern, immer etwas zu entdecken. Tschaikowsky auf allen Ebenen. Schnell wird klar: Hier wird Musik nicht nur gespielt und erklärt, sondern sichtbar gemacht. Eine gemeinsame Entdeckungsreise mit Orchester und Schauspieler:innen (Judith Mahler und Matthias Brenner) durch die Musik, Dantes Geschichte und die eigenen Emotionen erwartet das Publikum während der einstündigen Veranstaltung.

Nina Kupczyk / Foto @ Max van der Rose

Die Geschichte der Francesca da Rimini über Ehebruch, Mord und christliche Moralvorstellungen, erstmals verewigt in Dantes „Göttlicher Komödie“, ist in Tschaikowskys Vertonung ein musikalisch recht eingängliches Werk – Höllenritt und Liebesgeschichte wechseln sich klanglich ab – doch wirkt ihr Inhalt auf den ersten Blick wenig für Kinder geeignet. „In der Vorbereitung bin ich relativ schnell auf die Besonderheit der Geschichte der Francesca gekommen. Warum ist sie innerhalb der „Göttlichen Komödie“ nicht einzureihen in die Bestrafungslust, die allen anderen Sündern widerfährt? Warum wird Dante aus Mitleid ohnmächtig, als er von ihr erfährt? Die Idee war, den emotionalen Gestus der Musik mit einer Erzählung nach Motiven des fünften Gesangs der „Göttlichen Komödie“ zu verknüpfen, in dem das Schicksal von Francesca und Paolo thematisiert wird“, erklärt Regisseurin und Autorin Nina Kupczyk in einem Gespräch nach dem Konzert. „Darüber bin ich auf die Idee gekommen, die Themen Angst, Moral und Hölle aus der Sicht eines fragenden und neugierigen Kindes zu erzählen, quasi einen empathischen und forschenden Ansatz zu verfolgen. Dabei war es für meine Regie- und Textarbeit erstes Gebot, mich Gestus und Form der Musik und den Bedürfnissen des Formates unterzuordnen. In dieser Arbeit geht es für mich um Verantwortung, junges Publikum mit den Dimensionen einer Erlebensqualität anzusprechen, die nur die Musik spürbar machen kann.“

Francesca da Rimini/11.06.2023/ Berliner Philharmoniker/Foto @ Monika Rittershaus

Auch enthält Tschaikowskys Musik, die er kurz vor seinem eigenen Tod schrieb, selbst hoffnungsvollere Elemente, als die Geschichte dahinter auf den ersten Blick erscheint. „In den Orkanen, die Tschaikowsky hier verkomponiert hat, hört man mehrfach sich wiederholende und aufwärtssteigende musikalische Figuren: Windböen-Motive. So, als wenn Tschaikowsky uns sagen will, dass die Kräfte des Orkans nicht in die Hölle führen, sondern zum Ausstieg aus der Hölle verhelfen. Ich lese das bezogen auf die emotionale Dramaturgie der Komposition so, dass nicht der Tod bleibt, sondern das Überleben der Liebe – das ist eine schöne Botschaft gerade auch für Kinder: ‘Es ist das Gute, das siegt‘“, so Regisseurin Kupczyk, die auch das Bühnenstück für den Tag verfasst hat.

Neben der Figur des Dante Alighieri sind es ein junges Mädchen, verkörpert durch eine Schauspielerin, und Kirill Petrenko selbst, die durch die Tondichtung führen. Während durch das Schauspiel die Geschichte verhandelt wird, erklärt der Chefdirigent die Musik. Petrenko lässt Motive von verschiedenen Instrumentengruppen wiederholen, spricht mit dem Solo-Klarinettisten über dessen Liebe zum Instrument oder lässt das Tamtam ohrenbetäubend laut erklingen – und verteilt nebenbei augenzwinkernd Tipps, wie man ähnlich lautstarke Höllenklänge im Umgang mit den eigenen Eltern vermeidet. So wird ganz viel Liebe zur Musik kommuniziert, die sich so hoffentlich auch auf eine neue Generation überträgt.

Francesca da Rimini/11.06.2023/ Berliner Philharmoniker/Foto @ Monika Rittershaus

Das Schauspiel bildet dabei das Rahmenprogramm für die Musik. In ihm stehen sich das neugierige, aber dennoch unsichere Mädchen und der altersweise Dante in etwa so gegenüber, wie das junge Publikum und die Musik. Gibt es zu Beginn noch Berührungsängste, bauen sich diese immer weiter ab. Spricht Dante anfänglich in ungewöhnlich klingenden Versen, wird seine Sprache im Verlauf immer verständlicher. Wortgewandt geht es – manchmal witzig, manchmal ernst – vor allem um die Themen Liebe, Angst und Hölle. „Man sollte Kindern etwas zutrauen und nicht immer alles glattziehen“, so Kupczyk. „Natürlich gibt es Dinge, die man für Kinder auf der Bühne nicht darstellen sollte, wie Brutalität oder psychische Gewalt, aber man kann und sollte natürlich über Hölle, Liebe oder andere philosophische Fragen sprechen. Und man kann in einem Stück auch mehrere Ebenen für unterschiedliche Altersstufen ansprechen.“ Dabei werden auch Fragen aufgeworfen, die sich vor allem an die erwachsenen Besucher:innen richten.

Francesca da Rimini/11.06.2023/ Berliner Philharmoniker/Foto @ Monika Rittershaus

Diese Ernsthaftigkeit überträgt sich auch auf das Publikum. Natürlich wird gelacht und geklatscht, Chefdirigent Petrenko erzählt kurzweilig und stellt den Kindern fragen. Durch diese Einschübe, Einbettung und das Geschehen im Hintergrund, gelingt es aber auch minutenlang zu musizieren, ohne dass Unruhe aufkommt. Wie wichtig es ist, Geschichten weiterzuerzählen, um sie lebendig zu halten – was Dante dem jungen Mädchen in den letzten Momenten mit auf den Weg gibt, das lässt sich auch wunderbar auf die Musik übertragen. Sie neuem, jungem und junggebliebenem Publikum zu vermitteln, zu erklären, am Leben zu halten – das ist heute eine der wichtigen Aufgaben eines Orchesters. Mit ihrer vielfältigen Education-Arbeit, die nicht nur Chefsache sondern Teamarbeit ist und weit über die Familienkonzerte hinaus geht, sondern Orchestermitglieder sowohl in Schulen als auch Gefängnisse führt(e), gehen die Berliner Philharmoniker beispielhaft voran.

 

Berliner Philharmoniker

Kirill Petrenko: Dirigent und Co-Moderation

Matthias Brenner: Schauspieler

Judith Mahler: Schauspielerin

Nina Kupczyk: Regie und Text

Dering van Dieken: Kostüm und Ausstattung

 

  • Rezension von Svenja Koch / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Berliner Philharmoniker/Stückeseite
  • Titel- und Vorstellungsfotos: Francesca da Rimini/11.06.2023/ Berliner Philharmoniker/Foto @ Monika Rittershaus / Berliner Philharmoniker
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