Es ist DIE große Oper über Liebe und Tod, die in ihrer kühnen Tonsprache den Rahmen des bis 1865 geltenden sprengt. Patrick Hahn, der junge GMD der Stadt Wuppertal, erzeugte mit seinem Sinfonieorchester Wuppertal eine Spannung, wie ich sie noch in keiner anderen Inszenierung erlebt habe. Bereits die ersten Takte des Vorspiels, beginnend mit dem berühmten Tristan-Akkord, elektrisierten, und erst nach Isoldes Abgesang löste sich die Spannung und langer Applaus brandete auf. „Tristan und Isolde“ ist von Wagner musikdramatisch gedacht, und viele kennen nur die Musik. Umso spannender ist das Konzept der Inszenierung. Es wird vieles in Rückblenden erzählt. (Rezension der besuchten Vorstellung am 12. November 2023)
Es fängt an wie ein Naturfilm. Der Video- und Multi-Media-Künstler Martin Andersson illustriert bereits das Vorspiel mit Bildern von der bewegten See und von der schroffen Küste Cornwalls auf der großformatigen Leinwand. Das Medium Film wird hochprofessionell eingesetzt. Die See setzt sich als Hintergrund eines stilisierten Schiffsdecks mit beweglichen, auch als Raumteiler eingesetzten Segeln fort. Im zweiten Akt blüht bei der Liebesszene Tristans und Isoldes im Hintergrund ein exotischer Garten mit Farnen und fleischfressenden Pflanzen, der bei der Entdeckung der Liebenden durch die Jagdgesellschaft in Flammen aufgeht, die sich live auf der Bühne fortsetzen. Tristans Krankenzimmer im 3. Akt könnte eine Grotte oder Höhle sein, die sich zum Meer hin öffnet. Tristans Krankenlager ist eine Pelzdecke. Mit einigen kargen Elementen von Lukas Noll – einer dreieckigen Plattform, einer fahrbaren Treppe und ein paar segelartigen Paravents im ersten Akt, einer zweiflügeligen goldenen Tür, die später gekippt zum Liebeslager wird, und ein paar angedeuteten Felsen im dritten Akt ist die Bühne komplett.
Die Kostüme von Dorothee Joisten zitieren mittelalterliche Elemente, sind aber im Grunde moderne Kleidung – Kleider mit weiten Röcken, ein königlich prächtiges rotes für Isolde, das bei ihrer Ankunft in Cornwall noch um eine goldfarbene Schärpe ergänzt wird, und ein dienstbotenhaft-schlichtes cremefarbenes für Brangäne. Tristan trägt über moderner Hose und weißem Hemd einen stilisierten kragenlosen Gehrock in hellblau, Kurwenal eine dunkelblaue kragenlose schräg geknöpfte Jacke und Hose etwas schlichter, Melot einen schwarzen kragenlosen Gehrock und König Marke eine stilisierte Uniform mit einen großen goldenen cornischen Emblem auf der linken Brust. Man kann die soziale Stellung der Personen an der Kleidung ablesen. Die Handlung spielt eindeutig im Mittelalter zur Zeit des Gottfried von Straßburg, der Wagners literarische Vorlage schrieb.
Die überlegte Personenführung von Edison Vigil folgt exakt dem Klavierauszug und verdeutlicht im besten Sinne die Konflikte und Leidenschaften der handelnden Personen. Es ist eine Inszenierung, die einfach nur Wagners Idee vom Gesamtkunstwerk folgt. Im ersten Akt ersten Akt agieren Isolde, Brangäne, Tristan und Kurwenal auf dem Schiff, als Requisite das Kästchen mit den Zaubertränken. Es wird unmittelbar klar, dass Isolde, die Heilerin, sich in den Held Tristan verliebt hat, obwohl der ihren Verlobten im Kampf getötet hat. Sie will eine Aussprache mit Tristan, der sie seinem König Marke als Brautwerber zuführt. Im Hintergrund deuten Meereswogen starke Emotionen an. Tristan, der Isolde eigentlich aus dem Weg gehen wollte, akzeptiert den gemeinsamen Sühnetrank, einen Doppelselbstmord. Statt des Todestranks reicht Brangäne den Liebestrank. Er wird zum Todestrank, denn sein Genuss hat die Folge, dass die Liebe der beiden zueinander sie alle Konventionen über Bord werfen lässt und sie damit ihren Tod provozieren.
Im zweiten Akt ist zunächst nur eine goldene zweiflügelige Tür auf der Bühne. Nachdem die Liebenden allein sind, wächst im Hintergrund ein üppiger Urwald, und die Tür neigt sich nach hinten und wird zum Liebeslager. Die ekstatische Musik sagt eindeutig, dass es hier nicht nur um romantische Liebe, sondern auch um körperliches Begehren und seine Erfüllung geht. Die Entdeckung der Liebenden auf dem Höhepunkt ihrer Ekstase: „Rette dich, Tristan“ wird auch szenisch zum dramatischen Höhepunkt der Oper. Der intrigante Melot triumphiert, er hat Tristan überführt. König Marke ist zutiefst getroffen: „Tatest du´s wirklich?“. Tristan kann sein Verhalten nicht erklären. Als Melot sein Schwert gegen ihn erhebt, nimmt er zwar das von Kurwenal gereichte, lässt sich aber mit den Worten „Wehr dich, Melot“ von diesem eine schwere Wunde beibringen, an der er letzten Endes stirbt.
Der dritte Akt ist in der Natur angesiedelt. Das Krankenlager Tristans mit der Pelzdecke könnte in einer Höhle sein, die sich zum Meer hin öffnet. Ein großer Felsbrocken dient als Ausguck. Der vom Tode gezeichnete Tristan wird von seinem treuen Freund Kurwenal versorgt. Nur die Sehnsucht nach Isoldes Ankunft hält ihn am Leben. Die elegischen Melodien des Englischhorns ertönen vom Hintergrund der Bühne.
Man erkennt den blutgetränkten Verband seiner tödlichen Wunde, den er sich abreißt, als die Nachricht von Isoldes Ankunft kommt. Isolde findet Tristan tot vor. König Marke erscheint mit Melot, um Tristan zu verzeihen und ihm seine eigene Entsagung zu verkünden – zu spät! Melot und Kurwenal erstechen sich gegenseitig mit ihren Schwertern. „Isolde verliert sich im Todeswunsch, um für immer mit Tristan vereint zu sein“ – so formuliert man im Programmheft Isoldes „Liebestod“. Die gezeigte szenische Umsetzung habe ich für mich selbst anders interpretiert: Am Ende, nach Isoldes Verklärung, schreitet sie in eine bessere Zukunft dem Licht entgegen.
Bemerkenswert ist das elektronische Programmheft, das man sich auf das Smartphone laden kann.
Der junge in Australien geborene Heldentenor Samuel Sakker als Tristan macht die Entwicklung des Charakters deutlich. Eigentlich als Kriegsheld und Gebildeter erzogen will er Isolde Gutes tun, indem er sie seinem König Marke vermählt. Als Isolde dafür, dass er ihren Verlobten Morold im Kampf getötet hat, Vergeltung fordert, trinkt er mit ihr den Sühnetrank – nicht wissend, dass es ein Liebestrank ist. Im Grunde nimmt er seinen Tod billigend in Kauf, durchlebt aber noch alle Komplikationen eines Liebesverhältnisses, vor allem den Loyalitätsbruch zu seinem Ziehvater König Marke, die überbordende Liebes-Lust in der Nacht der Liebe, den Schock der Entdeckung durch Marke mit dem von ihm provozierten Todesstoß von Melot und das unerträgliche Sehnen nach der Geliebten im Todeskampf. Physisch ist Sakker der attraktive Held, der dem Darsteller des Tristan der Uraufführung, Ludwig Schorr von Carolsfeld, verblüffend ähnlich sieht. Stimmlich hat er die scheinbar unerschöpflichen Ressourcen eines strahlenden Heldentenors, der im Fieberwahn das erlittene Leid mit den farbigsten Tönen besingt. Samuel Sakker ist ein Heldentenor am Beginn seiner Karriere, der nach kurzer Zeit im Ensemble der Royal Opera Covent Garden weltweit in schweren Heldenpartien auftritt. Seine Stimme ist unverbraucht und metallisch strahlend, er hat aber auch die gestalterische Tiefe, die zehrende Sehnsucht des schwer versehrten Verbannten im dritten Akt auszudrücken.
Die junge Neuseeländisch-britische Sopranistin Kirstin Sharpin hat als Isolde in Nordhausen debutiert. Mit ihrem wunderbar homogenen mädchenhaft schönen perfekt geführten Sopran gestaltet sie die an- und abschwellenden Phrasen sehr differenziert. Sie macht die Entwicklung der Königstochter Isolde deutlich. Zunächst wütend auf Tristan, den sie zu sich zitiert, dann bei der Einnahme des Sühnetranks zu allem entschlossen, verliert auch sie den Boden der Konventionen unter ihren Füßen. Sie stellt jegliche Vorsicht hintenan und lebt nur noch ihre Liebe. Nach dem Eklat findet Isolde, die gekommen ist, Tristan zu pflegen, nur seine Leiche und löst sich in der Schlussszene „Mild und leise, wie er lächelt“, von der Welt. Hier zeigt Kristin Sharpin, dass sie auch die lyrische Tiefe hat, die Auflösung: „Ertrinken, versinken, unbewusst höchste Lust“, im „Liebestod“ zu feiern. Danach ist erst einmal Totenstille, dann lange anhaltender frenetischer Jubel mit stehenden Ovationen.
König Marke, Tristans Ziehvater, ist der Hauptleidtragende. Der finnische Bass Erik Rousi, seit 2023/24 Ensemblemitglied, ist ein erstaunlich junger König Marke. Er leidet zunächst an der tiefen Kränkung durch den Treuebruch Tristans, den er wie einen Sohn liebt, will dann aber, nachdem ihn Brangäne von der Schuldlosigkeit Tristans überzeugt hat, großzügig dem jungen Paar seinen Segen geben – zu spät! Er bleibt allein zurück, denn Melot und Kurwenal gehen Tristan und Isolde voran in den Tod. Mit großer Intensität gibt er den Gefühlen des von seinem Ziehsohn verratenen und vor allen bloßgestellten König Marke ergreifenden Ausdruck.
Die Mezzosopranistin Jennifer Feinstein wurde von der Los Angeles Times mit der jungen Marilyn Horne verglichen. Für sie ist die Brangäne eine Paraderolle, in denen sie alle Facetten ihrer farbigen Stimme leuchten lassen kann. Sie macht durch ihre Gestik dem Publikum deutlich, dass sie Isoldes Anweisung, den Todestrank zu reichen, missachtet, und stattdessen den Liebestrank kredenzt.
Der niederländische Bassbariton Martijn Sanders ist ein jugendlicher Kurwenal, der seine Rolle als Tristans Freund auf Augenhöhe mit Hingabe gestaltet, und der mit Tristan leidet. Die Stimme ist eher dunkel timbriert und hebt sich gut von der Tristans ab. Ihnen stehen mit Jason Lee (Melot), Sangmin Jeon (junger Seemann und Hirt) und Andreas Heichlinger als Steuermann sehr gute junge Sänger zur Seite, die mehr sind als nur Stichwortgeber. Der Herrenchor der Oper Wuppertal in der Einstudierung von Ulrich Zippelius verkörpert die Seeleute auf der Überfahrt Isoldes.
Dirigent Patrick Hahn kostet die opulente Instrumentierung Richard Wagners mit großem Sinfonieorchester, das die Gesangslinien nicht nur untermalt, sondern auch ausdeutet, voll aus. GMD Patrick Hahn arbeitet seit 2021/22 mit diesem Orchester in Sinfoniekonzerten und Oper zusammen. Vor allem das Englischhorn, das das Gift verkörpert, das die Liebenden zueinander führt, und die Solo-Bläser beeindrucken auf der ganzen Linie. Hahn macht aus diesem Werk eine sinfonische Dichtung mit Gesang, bei dem die Spannung nicht nachlässt. Zusammen mit der szenischen Gestaltung mit Videosequenzen, Bühnenbildern und singenden und agierenden Sängerdarstellern entsteht ein Gesamtkunstwerk im Sinne Wagners, das Maßstäbe setzt.
Nach einem Wassereinbruch durch Hochwasser der Wupper im Sommer 2021, bei dem die Unterbühne von 2.000.000 Litern Wasser überflutet wurde, konnte am 22. Oktober 2023 erstmals wieder Oper dort gespielt werden. Die Entscheidung, nach so langer Renovierungszeit mit „Tristan und Isolde“ wieder zu eröffnen, war genau richtig, denn mit dieser Produktion zeigt das Haus, dass es musikalisch und szenisch in der ersten Liga der Wagner-Spielstätten mithalten kann.
- Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Opernhaus Wuppertal / Stückeseite
- Titelfoto: Oper Wuppertal /TRISTAN UND ISOLDE/Foto @ Matthias Jung