Standing Ovations für Bachs Matthäuspassion in der Kölner Philharmonie / 6. April 2022

Philippe Herreweghe/Foto © Michiel Hendryckx

Nicht enden wollte der Beifall in der Kölner Philharmonie für Philippe Herreweghe und den von ihm gegründeten Chor und das Orchester des Collegium Vocale Gent mit Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion. 2020 und 2021 wegen der Pandemie ausgefallen, lockte Bachs Matthäuspassion trotz hoher Inzidenzen und Maskenpflicht am Platz ein zahlreiches Publikum, das gebannt der Geschichte des Leidens und Todes Jesu Christi in historischer Aufführungspraxis lauschte. In den Generalpausen, vor allem beim Tod Christi herrschten absolute Stille und tiefe Ergriffenheit. Der mit allen erdenklichen Auszeichnungen geehrte Herreweghe hat mit seinem hochkarätigen auf die historische Aufführungspraxis spezialisierten Ensemble den Eindruck erzeugt, wie Bach vermutlich selbst sein Werk dirigiert hätte. (Rezension des Konzerts v. 6.04.2022)

 

 

Bach hat mit seiner am Karfreitag, dem 11. April 1727 in der Leipziger Thomaskirche uraufgeführten Vertonung der Matthäuspassion ein Meisterwerk geschaffen, das einzigartig in der Musikgeschichte war. Die Wahl der musikalischen Mittel, die extrem kühne harmonische Sprache bis hin zu offenen Dissonanzen, immer in der Absicht der theologischen Deutung, wirkt auch heute noch revolutionär. Die beispiellose Kombination von drei Chören, zwei Orgeln, zwei Orchestern, und acht Solisten, die aus den Chören heraus treten, im Dienst der Kernaussage des christlichen Glaubens -Erlösung der Menschheit durch Leid und Tod Christi am Kreuz – ist immer noch ergreifend und schlägt das Publikum auch fast 300 Jahre nach der Uraufführung in seinen Bann.

Johann Sebastian Bach schuf seine Matthäuspassion in seiner Eigenschaft als Kantor der Leipziger Thomaskirche. Sie war wesentlicher Teil der Karfreitagsliturgie. Der Gottesdienst dauerte insgesamt fünf Stunden und reflektierte mit Bachs unfassbar komplexen musikalischen Mitteln den zentralen Inhalt der Passionsgeschichte Christi nach dem Evangelium des Matthäus. Nach dem ersten Teil folgte eine etwa einstündige Predigt, danach der längere zweite Teil. Vermutlich haben Bachs Zeitgenossen die Bedeutung dieses Meisterwerks gar nicht ermessen können, denn es gibt keine Zeitzeugnisse, die von einer Aufführung durch Bach berichten.

Zu Grunde liegt die deutsche Übersetzung des Evangeliums nach Matthäus in Martin Luthers kraftvoller Sprache, die als von der Orgel begleitetes Rezitativ vom Evangelisten vorgetragen wird. Mit seinem unfassbar klaren und klangschönen hoch timbrierten Tenor erweckt Reinoud Van Mechelen den Eindruck, er sei gerade selbst dabei gewesen. Die Erzählung wird noch lebendiger durch Solisten, die die Worte Jesu, des Hohepriesters, des Judas, des Petrus, der Mägde singen, und vor allem durch Choreinwürfe wie: „Er ist des Todes schuldig,“ oder: „Laß ihn kreuzigen“. Herausragend ist Christian Boesch als Jesus, der die Autorität des Religionsstifters, der die Eucharistie einsetzt, die tiefe Panik des Predigers Jesus angesichts der Verhaftung, des Verlassen- und Verraten-werdens durch die Jünger, des todgeweihten Opfers eines Justizversagens, das sich in sein Schicksal ergibt, mit seinem profunden und beweglichen charismatischen Bass ausdrückt. Seine Worte werden von einem Streichquartett begleitet, mit dem Bach Jesu Eigenschaft als Gottes Sohn verdeutlicht und ihm quasi einen Heiligenschein verleiht und bei Jesu letzten Worten: “Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ verstummt ist.

Die Handlung wird ergänzt durch reflektierende Arien, Duette und Chöre des pietistischen Dichters Christian Friedrich Henrici, genannt Picander, die Bach in unfassbarer Variationsbreite vertont hat. Genannt sei exemplarisch die Alt-Arie des Countertenors Tim Mead „Erbarme dich“ im Dialog mit der Konzertmeisterin Christine Busch unmittelbar nach der dreimaligen Verleugnung Jesu durch Petrus anstimmt, wobei die Violine die schlichte Gesangslinie kunstvoll umrahmt. Bei den doppelstimmigen Chören wie:  „So ist mein Jesus dort gefangen“ oder: „Sind Blitze, sind Donner in Wolken verschwunden?“ entfaltet die Musik eine ungeheure Dramatik.

Eingang der Kölner Philharmonie / ©KölnMusik/Matthias Baus

Die Solisten der Rezitative und Arien treten aus den Chören hervor. Die beiden Chöre sind mit je drei Sopranen, zwei Countertenören und einer Altistin sowie drei Tenören und Bässen besetzt, der zusätzliche Ripieni-Chor mit acht Frauenstimmen. Als weitere Solist*innen agieren in den Arien Dorothee Mields und Grace Davidsen, Sopran, James Hall Countertenor, Samuel Boden und Guy Cutting Tenor und Peter Kooij und Tobias Berndt, Bass. So kommt Herreweghe mit 32 Choristen, von denen acht auch Soli übernehmen, und zwei Hauptdarstellern, nämlich Christian Boesch als Christus und Reinoud Van Mechelen als Evangelist aus. Das trägt zur Präzision und Textverständlichkeit erheblich bei. Auch die beiden Orchester sind minimal besetzt, einschließlich der beiden Organist*innen sind in beiden Orchestern zusammen gerade mal 35 Instrumentalist*innen eingesetzt, davon nur eine Viola da Gamba, die mit höchster Transparenz und Präzision spielen. Es entsteht ein filigranes Kunstwerk aus Instrumentalmusik und gesungenem Text, bei dem man ganz genau hingehört hat.

Verwoben ist das alles mit verschiedenen Chorälen, die als Kirchenlieder bekannt sind. Ein immer wiederkehrendes Motiv ist der Choral „Oh Haupt voll Blut und Wunden“ von Paul Gerhardt, der in fünf verschiedenen Sätzen auftaucht und dem Werk eine ungeheure Geschlossenheit verleiht. Der imponierende Eingangschor wird von zwei vierstimmigen Chören gesungen, dem sich noch ein weiterer zweistimmiger Chor anschließt. Das finale Rezitativ von Sopran, Alt, Tenor und Bass sowie Chor 2: „Nun ist der Herr zur Ruhe gebracht“, das in den Schlusschor: „Wir setzen uns in Tränen nieder,“ aller drei Chöre übergeht, entlässt die Zuhörer*innen beinah getröstet.

Die kompositorischen Mittel, die Bach im Dienst der Religion einsetzt, übertreffen in ihrer Vielfalt die meisten Opern, vor allem die beiden getrennten vierstimmigen Chöre, beim überwältigenden Eingangschor noch durch einen weiteren Frauenstimmenchor ergänzt, übertreffen alles, was im Bereich der Chormusik bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts komponiert wurde, um Längen. Auch die Verwendung des Chors als Handlungsträger bei Ausrufen des Volkes wurde erst viel später wieder aufgegriffen.

Es ist komponierte Theologie, und die musikwissenschaftlichen und theologischen Analysen von Bachs Matthäuspassion füllen Bände. Aus Bachs Zeit sind verschiedene Autographe überliefert. Nach Bachs Tod geriet das Werk in Vergessenheit. 1829 führte Felix Mendelssohn-Bartholdy eine gekürzte Fassung des Werks konzertant auf und leitete damit die Karriere dieser Komposition in den Konzertsälen der Welt ein. Die erste Drucklegung erfolgte 1830 durch den Verlag Schlesinger. Für mich ist es der mit musikalischen Mitteln ausgedrückte Kern des christlichen Glaubens: die Erlösung der Menschen durch Christi Leid und Tod, die die Zuhörer*innen in das Geschehen einbezieht. Man kann die Handlung aber auch als Dokumentation eines Justizversagens deuten, dessen Opfer der Prediger Jesus wird.

Die Aufführungsgeschichte der Matthäuspassion reicht von monumentalen sinfonisch geprägten Versionen mit 300 bis 400 Musikern im 19. Jahrhundert bis zu fast kammermusikalischen in historisch informierter Aufführungspraxis. Erst 1912 wurde die komplette Passion aufgeführt. Eine ausführliche Analyse mit zahlreichen Literaturhinweisen findet man u.a. bei Wikipedia.

Haupteingang der Kölner Philharmonie Foto: ©KölnMusik/Guido Erbring

Nikolaus Harnoncourt hat mit seiner Einspielung der Matthäuspassion 1970 in historisch informierter Aufführungspraxis die authentische Version populär gemacht, die die romantischen, fast wie Opern wirkenden Einspielungen abgelöst hat. Die Aufführung der Matthäuspassion von Philippe Herreweghe mit dem Chor und Orchester des Collegium Vocale Gent steht in dieser Tradition und kommt dem mutmaßlichen Originalklang sehr nahe. Es ist zurzeit die Referenzversion, an der sich alle anderen messen lassen müssen. Die szenische Umsetzung in der Live-Aufführung lässt hautnah erleben, wie Solisten, Chöre, Instrumentalisten die Aufgaben aufteilen. Herreweghe steigt mitunter von seinem Podium und tritt ganz nahe an die Sänger*innen heran. Das Team ist überaus perfekt aufeinander eingespielt.

Eine Aufführung im Rahmen eines Gottesdienstes hat es seit der Wiederentdeckung durch Mendelssohn nicht gegeben, aber in einem Konzertsaal wie der fast ausverkauften Kölner Philharmonie findet sich regelmäßig ein kundiges Publikum, das süchtig nach dieser Musik und ihrem Sujet ist. Vielleicht ist die Akustik der Philharmonie etwas trocken, der Nachhall in einer Kirche ist sicher länger. Man erlebt jedoch die Spiritualität dieses Werks hautnah und kann sich dem Sog des Dramas, das sich da abspielt, nicht entziehen. Auch mein Mann, der diese Passion zum ersten Mal gehört hat, war total ergriffen.

Bachs „Matthäuspassion“ unter der Leitung von Philippe Herreweghe mit dem Chor und Orchester des von ihm gegründeten Collegium Vocale Gent wird in der Zeit vom 1. bis 16. April 2022 in 13 europäischen Städten, unter anderem Paris, Wien und München aufgeführt. Informationen unter DIESEM LINK.

 

  • Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Titelfoto: Blick in den Saal der Kölner Philharmonie / Foto © KölnMusik/Guido Erbring
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