Diesen Sommer geht bei den Richard-Wagner-Festspielen in Bayreuth in „nur“ zwei Durchgängen die Welt unter. Die Inszenierung des Ring des Nibelungen von Valentin Schwarz macht, wie in den Vorjahren, Krach. Nicht alles ist schlecht, aber das wenige Gute ertrinkt hoffnungslos im überladenen Rest. Von der Unfähigkeit, das Publikum teilhaben zu lassen – wenn da nicht die Musik wäre. (Rezension der Vorstellung v. 2. August 2024 )
Das Ende der Welt beginnt im Kinderzimmer. Brünnhildes und Siegfrieds Kind schläft; Nornen, Traumgestalten mit Glitzerhaut und langen, spitzigen Fingern, kriechen aus jedem Spalt des Zimmers, um von lang vergangenen Geschehnissen zu singen. Charmant! Etwas weniger charmant, dass sie nach einiger Zeit beginnen, mit etlichen Gegenständen zu werfen. Daraufhin betritt die Bühne: ein Hausmann in Hosenträgern und Strickjacke (Siegfried) sowie seine zankende Ehefrau (Brünnhilde). Der liebevolle Text ihres Duetts wird lückenlos in Sarkasmus umgedeutet: das funktioniert fast eins zu eins. Der Lösung für das Pferd – Brünnhildes Pferd Grane, hier personifiziert als Bodyguard (Statist Igor Schwab) aus ihrem früheren Leben als Walküre – ist das sichtlich unangenehm. Schließlich wird er doch auf Reise mit dem Hausmann geschickt. Die Gattin behält derweil das gemeinsame Kind, offenbar als Symbol dessen, was man auf dieser Welt am meisten liebt.
Aus bislang ungeklärten Gründen stolpern der Hausmann und die Lösung für das Pferd daraufhin in einen Fiebertraum von Gibichungenhof: Gunther, definitiv alkoholisiert, gewiss sensationslüstern und mit ungeklärtem Kokskonsum, trägt ein T-Shirt mit Schimpfworten darauf (welches man leider nicht im Festspielshop erwerben kann. Schade). Gutrune, eine Figur, der laut eigentlicher Story praktisch zu keinem Zeitpunkt das wahre Geschehen bewusst ist, beaufsichtigt in Neondress den Ausbau einer unfassbar geschmacklosen Wohnzimmerdeko. Irgendwo blinkt ein umgekippter Weihnachtsbaum: ein absolut gottloser Haushalt. Oder wie in der Pause ein Besucher auf der Suche nach Essbarem über den Gibichungensohn grübelt: Gunther sehe aus wie „einer aus dieser deutschen Reality-TV-Serie. Die Geissens! Ja. Diese Serie hat irgendwas noch im Namen, was mit schrecklich… ‚Die Geissens: eine schreckliche Familie‘. Nein, wie denn…“
Die schreckliche Familie im Saal erfreut sich derweil eines weiteren (Halb)Bruders: Hagen, ein sadistischer Messermörder, der die Lösung für das Pferd im Nebenzimmer foltert und dessen Blut als Schlückchen für die Blutbrüderschaft zwischen Siegfried und Gunther serviert. (Gunther selbst scheint erst zu begreifen, welch Monsterchen sein Bruder ist, als er Granes abgetrennten Kopf in einer Plastiktüte ausgehändigt bekommt). Augenscheinlich arbeitet Hagen zudem bei IKEA: dass eine gelb-blaue Polohemd-Jeans Kombi bei einem kleinen Buben funktioniert, aber bei einem gestandenen Bass Assoziationen weckt, fiel seit drei Jahren offenbar niemandem auf; weiterhin lässt Hagen gern seine halbtoten Folteropfer auf einem Metallwagen durchs Wohnzimmer karren, auf dem man bei schwedischen Möbelherstellern normalerweise Regalteile in langen Kisten stapelt. Wie verzweifelt muss ein Ehemann in seiner Ehe (oder wie charakterlich missraten) eigentlich sein, um freiwillig in diesen Haushalt einzuheiraten? Statt Verzauberung durch Liebestrank kippt Siegfried Grane den Willkommenstrunk nämlich über den Kopf und verguckt sich anschließend aus komplett freien Stücken in Gutrune.
Eine anständige, wenngleich überraschend langweilige Unterredung zwischen Zwergenvater Alberich und Mördersohn Hagen im zweiten Akt weicht dem zumindest visuell eindrucksvollen Bild der Gibichsmannen: der schwarz verhüllte Festspielchor, der bedrohlich rote Masken reckt. Gründe für diese Aufmachung ungeklärt; möglicherweise gründete Hagen neben seinen Tätigkeiten im Haushalt ja auch eine Sekte. Und dann das unweigerliche inhaltliche Desaster: Brünnhilde muss Siegfrieds Trug am Ring an seiner Hand erkennen. Den gibt es aber nicht – nur das Kind, das bei Brünnhildes Entführung gleich mitverschleppt wurde. Dessen Anwesenheit reicht aber per se nicht aus, um Brünnhildes Erkenntnis zu erklären. Aus weiterhin ungeklärten Gründen ähneln die Rheintöchter im dritten Akt nun eher Walküren und sind zudem noch ordentlich angeschickert. Sie weilen in einem trockengelegten Pool, in dessen Pfützen Siegfried angelt (Pfützentiefe: maximal 3cm). Man sitzt auf dem Trockenen. Einzig das Kind verschwindet am Ende am Horizont der Szenerie.
Der Ring hingegen als Ganzes ist ordentlich ertrunken: einerseits in einer schieren Ideenflut, die schlichtweg des Guten zu viel ist und zweitens in der absoluten Unfähigkeit der Inszenierung, sich begreiflich zu machen. Ein wenig naturwissenschaftliche Maxime täte dieser Inszenierung gar nicht schlecht: bekanntlich kennt jeder sein eigenes Ideenkonstrukt am besten – die Zusammenhänge anderen Menschen zu vermitteln, die von diesen Ideen noch nie gehört haben, ist jedoch die Kunst, bei der sich Spreu vom Weizen trennt; bei der sich herausstellt, wer die innere Weitsicht hat, sich in einen gänzlich ideenfremden Menschen hineinzuversetzen. Dass sich die Story des Rings nacherzählt in der Version des Regisseurs mittlerweile im Programmheft findet, spricht Bände über die Nicht-Verständlichkeit dieser Inszenierung. Was im Theater einer Bedienungsanleitung für das absolute Grundverständnis bedarf, ist gescheitert. Besonders tragisch: der Zuschauer hechelt derart dem inhaltlichen Verstehen nach, dass ein mögliches Mitfühlen mit den (größtenteils ins Unsympathische gezogenen) Figuren schier unmöglich ist. Zudem offenbart die Schwarz’sche Synopsis glatt versehentlich die Untauglichkeit des Ideenkonstrukts für eine Ring-Inszenierung: die Kindsymbolik, die die Anwesenheit eines physischen Rings ersetzen soll, ist nur im Rheingold angedacht, die Macht zu symbolisieren, die der Ring über die Welt hat – das fiktive Kind Siegfrieds und Brünnnhildes entbehrt jeder Machtsymbolik. So verläuft sich das ohnehin schwammig definierte Kindersymbol allzu schnell, wechselt je nach Kind die Bedeutung und versickert ganz in der Götterdämmerung, da das gestohlene Kind aus dem Rheingold, der kleine Hagen, nun eine Figur des Geschehens ist. Wer sich einem Grundthema des Stoffes entsagt – dem Zwiespalt zwischen Liebe und Macht – handelt sich schlichtweg Themenverfehlung ein. Auch in der Kunst gibt es solche.
Zu diesem Bühnengeschehen spielte und sang man also rein zufällig die Partitur von Wagners Götterdämmerung. Und wie! Klaus Florian Vogt als Siegfried trumpft mit segelndem Tenor auf; der reine Klang täuscht glatt über die hundsmiserable Persönlichkeit dieses Siegfries hinweg. Heldentenor ist Vogt nicht, und doch liegt genau darin eine einmalige Eignung: eine Stimme, über die der rationale Verstand sagt, diese Lautstärke könne mit diesem Timbre eigentlich nicht möglich sein, und doch fliegt der Klang pfeilgleich in den Saal. Die zackigen Sprünge auf „froh zur Hochzeit […] wonnige Lust lache nun auf!“ bis „meinem frohen Muthe tu es der Glückliche gleich“ meistert er – und am Ende am Ende erscheinen auch einige Piani, die durchaus noch stärker eingeflochten werden dürften.
Catherine Foster singt eine Brünnhilde von lichter Schönheit: eine Rächerin in der farblichen Aufmachung eines Erdbeer-Sahne-Bonbons, dessen „Ruhe! Ruhe, du Gott!“ am unteren Ende der Stimme frei schwingt wie ein tiefer Holzbläserklang, das Mittelregister zeigt Fülle ohne Schwere, eine Stimme wie sich bäumender, sonnengefluteter Stoff. Der äußerst willkommene Klang wird zu flacheren, bissigeren Tönen moduliert, um dem Zorn ihrer Figur an den passenden Stellen gerecht zu werden, und begeistert bis zuletzt.
Hagen (Mika Kares) ist allein stimmlich vom Glanz seines Basses her bereits der intellektuell Überlegene am Gibichungenhof: glatt und geschmeidig tönt sein schmieriger Rat, sein Mannenruf erhält gerade auf dem häufig vorkommenden „o“—Vokal einen Klang, der wie durch eine dunkle Höhle schallt. Am Ende schleicht sich minimal Erschöpfung ein, aber geschenkt: der stimmlich würdige Hagen wird bejubelt. Erfreulich auch der Elan beim Morden: Kares spart nichts aus und sticht seinem Siegfried sechsmal in den Rücken.
Wenngleich die Konzeption der Gibichungenzwillinge per se wenig Freude bereitet, erfreut wenigstens der offensichtliche Spaß der Darstellenden: Michael Kupfer-Radeckys natürlich leicht krächzender Ton unterstreicht eine gewisse innere Rohheit des Charakters und bäumt sich bei Bedarf kräftig auf. Gabriela Scherer leiht Gutrune eine noch-mädchenhafte Wendigkeit mit erwachsenem, doch nicht zu gesetztem Klang für diese Rolle und steuert in den ersten beiden Akten eine passend rotzig-freche Aussprache bei. Alberich (durchdringend: Olafur Sigurdarson) und Waltraute (Christa Mayer eindringlich im Klang, gut im Zusammenspiel mit dem Orchester) fügen sich bestens ein. Der Festspielchor unter Eberhard Friedrich, flink und leichtfüßig im Klang, wird bereits nach dem zweiten Akt bejubelt. Unter drei sehr guten Nornen (Noa Beinart, Alexandra Ionis und Christina Nilsson) sticht besonders die zweite hervor, Ionis mit schönem Mezzo; die Rheintöchter (Evelin Novak, Natalia Skrycka und Marie Henriette Reinhold) tönen weich, harmonisch und geradezu gruselig in ihren „Siegfried!“-Rufen.
Letzteres vermutlich nicht zuletzt dank Anweisungen vom Dirigentenpult. Simone Young frönt im Graben dem kleinen Grusel: Passagen wie Hagens düstere Ratschläge kostet sie aus, lenkt die Aufmerksamkeit immer wieder in die kleinen Gefährlichkeiten der Partitur, die auf der Bühne sonst nicht zur Geltung kommen würden. Einzig im zweiten Akt dürften mehr Akzente auf die frappierenden Staccati gesetzt werden. Mit etwas Schwung ging es im ersten Akt über den Rhein, im dritten Akt erzeugt sie einen drahtigen Drohklang in der Rheintöchter-Szene dank präziser Kontrolle über das Trio und stark angewiesene Crescendi. Ganz filigran beginnt der Trauermarsch, ganz weich, wie noch die warme Haut eines gerade Verstorbenen.
Gegen den inhaltlichen Kopfschmerztrigger Deluxe hilft demnach zweierlei: ausgesprochene Dankbarkeit und Freude gegenüber den erbrachten musikalischen Leistungen sowie das rasche Anheben des Blutzuckerspiegels durch eine anständige Zuckerzufuhr. Wer die Beine in die Hand nimmt, schafft es vielleicht nach der Vorstellung gar noch in die Stadt für einen Eisbecher auf die Hand. Die weniger Schnellen bilden in der Pause Schlangen vor einem Eiscremestand, die Ohren gespitzt Richtung Garderoben, ob man vielleicht Brösel des kommenden Aktes erlauschen kann: „das war das ‚Hoiho‘! Ich hab’s gehört!“. Bayreuth eben, im Guten wie im Schlechten.
- Rezension von Lynn Sophie Guldin / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Bayreuther Festspiele 2024
- Titelfoto: Bayreuther Festspiele 2024/Catherine Foster (Brünnhilde), Klaus Florian Vogt (Siegfried), Kinderstatisterie/Foto: Enrico Nawrath