Jürgen R. Weber macht aus dem eher akademischen Libretto von Mauricio Kagels „Staatstheater“ einen bunten Bilderbogen, der die Bonner Kulturpolitik durch den Kakao zieht. Im Bühnenbild von Hank Irwin Kittel mit prachtvollen Kostümen von Kristopher Kempf spielt er lustvoll mit Versatzstücken des Opernbetriebs. Das Ensemble glänzt in wundervollen Rollenklischees und brilliert mit auf den Leib geschriebenen Arien und Ensembles, die weitgehend a capella die Faszination des Stimmfachs charakterisieren. (Rezension der Vorstellung v. 27.09.20)
Die Uraufführung 1971 in der Ära Liebermann an der Hamburger Staatsoper wird im „Spiegel“ vom 19.4.1971 ausführlich beschrieben. Mauricio Kagel habe 500 Seiten Libretto abgeliefert, das nicht nur die Sprache abschafft („Mana Ana Nanan, Nama, Mana Takapu“) und das Orchester auf sieben Solisten reduziert, sondern in abstrakten Annäherungen und absurden Szenen den Opernbetrieb vorführt. Es sei, wie Kagel zitiert wird: „nicht nur die Negation der Oper, sondern des herkömmlichen Musiktheaters schlechthin.“
Dass eine solche Dekonstruktion von Oper bei Publikum und Kritik auf Unverständnis stoßen musste liegt auf der Hand. Und marktgängig ist Kagels Musiktheater auch heute noch nicht, auch wenn die Musik weitgehend tonal bleibt.
Umso erfreulicher, dass Intendant Dr. Bernhard Helmich und Operndirektor Andreas K. Meyer das Stück, das lange in der Versenkung verschwunden war, Ende April 2020 auf die Bühne bringen wollten. Regisseur Jürgen R. Weber und Dirigent Daniel Johannes Mayr entwickelten aus den zehn Stunden Handlungsanweisungen Mauricio Kagels gut 100 Minuten Bühnenaktion, die sich abwechselnd live und in Farbe auf der Bühne, in schwarz-weißen Bauhaus-Kostümen auf der Unterbühne und als Video-Projektion auf einer Leinwand abspielen.
Die von Kagel vorgesehenen Orchestereinspielungen („Musik für Lautsprecher“) konnten schon im März vor dem Lockdown aufgezeichnet werden.
Jürgen R. Weber, erfahrener Fernseh- und Theaterregisseur und in Bonn bereits mit „Der Traum, ein Leben“, „Holofernes“, der Welt-Uraufführung „Marx in London“ und dem „Winterreise“-Projekt des Kinder- und Jugendchors erfolgreich, weiß, wie Musikdrama funktioniert und konterkariert Kagels (Anti-) Konzept nach Kräften.
Als erstes braucht man einen Konflikt – hier die unselige Konfrontation zwischen Kultur und Sport im Kampf um die knappen Ressourcen des Bonner Haushalts-, eine tragische Liebesgeschichte mit tödlichem Ende – hier verliebt sich der Sohn des Oberbademeisters in die Tochter der Intendantin und beide lassen im Lauf des Konflikts ihr Leben – und ein Happy End – hier kann die unabhängige Ärztin als Deus ex Machina die scheinbar Toten wieder zum Leben erwecken.
Dazu kommt als Inkarnation des Bösen die Sprechrolle des verrückt gewordenen Oberamtsleiters, der nicht nur die Beethoven-Büste zertrümmert, sondern auch den schönen bunten Wasserball zersticht.
In dieser Rahmenhandlung entfalten sich die Stars der Bonner Oper mit ihren Rollen, die sie sich mit dem Dirigenten Daniel Johannes Mayr auf den Leib geschrieben haben. Die auf sinnfreie Silben gesungenen musikalischen Phrasen wirken jedoch a capella und ohne Text seltsam blutleer, auch wenn sich der Konflikt dramatisch steigert und sich eine zarte Romanze entwickelt.
Dabei tragen Yannick Muriel Noah als Diva und Intendantin, Giorgos Kanaris als Regisseur und Tobias Schabel als Oberbademeister den Konflikt zwischen Hochkultur und Sport aus. In Vokalisen und Nonsens-Silben mit sichtlicher Spielfreude lassen sie die Konfrontation mit immer größeren Intervallen und schrilleren Tönen eskalieren.
Der junge Tenor Kieran Carrel und die koloraturversierte Marie Heeschen verkörpern sehr poetisch die vorsichtige Annäherung des Liebespaars, das im Eifer des Gefechts plötzlich erschossen wird – große Betroffenheit stellt sich ein, und man arrangiert sich.
Mezzosopranistein Anjara Bartz als „unabhängige Ärztin“ und im weißen Kostüm Verkörperung des Guten kann die beiden wieder zum Leben erwecken. Sie ist mit dem durchgeknallten Oberamtsleiter, den Jürgen R. Weber unter dem Pseudonym Ludwig Grubert selbst verkörpert, mit langen Gummibändern verbunden.
Im Zentrum steht eine drehbare drei Stockwerke hohe Kulisse, die von der einen Seite ein Theater mit fantastisch kostümierten Statisten, auf der anderen ein Schwimmbad mit Sportlern in neonbunten Kostümen und vorbei schwimmenden Haifischen zeigt.
Mauricio Kagel lässt seinen Akteuren sehr viele Freiheiten, so dass eine Adaption an Corona-bedingte Abstandsvorschriften mit Hilfe von Greifarmen, mit denen die Figuren in Kontakt miteinander treten, nicht weiter stört. Auch die Plexiglaskäfige, in denen sich die Orchestermusiker abmühen wirken im Vergleich zu den absurden Szenen auf der Unterbühne fast schon normal.
Dirigent Daniel Johannes Mayr im Kostüm eines jungen Mauricio Kagel mit wilder Lockenperücke und überlangen Frackschößen dirigiert nicht nur die Live-Musik, er steuert auch die Einspielungen der „Musik für Lautsprecher“ und des von Ekaterina Klewitz einstudierten hervorragenden Kinder- und Jugendchors im Stil eines Madrigals, die im Vorfeld aufgezeichnet wurden.
Schmerzlich vermisst habe ich das Orchester, das von Kagel auf sieben in Plexiglaskäfigen auf der Bühne herum gefahrene Solisten, die hin und wieder kammermusikalische Einwürfe beitragen, reduziert wurde. Am Schluss spielen sie alle zusammen als Trauermusik für das getötete Liebespaar die Pavane „Ballett für Nicht-Tänzer“, zu dem Statisten in den aufwändigsten Opernkostümen einherschreiten. Die Rahmenhandlung endet mit der Wiederbelebung des Liebespaars.
Besonders verstörend sind die Video-Einblendungen mit unter Wasser stehenden Metronomen und der zertrümmerten Beethoven-Büste, die sogar Theaterblut hervorbringt, und Actionfiguren von Beethoven und Lara Croft, die nach frivolen Spielchen am Schluss mit einer Schere zerschnitten werden – eine Metapher für das Schicksal der Oper und des Sports in Zeiten der Pandemie?
Ursprünglich am Ende einer mit Reißern wie „West Side Sorry“, dem „Rosenkavalier“, Beethovens „Fidelio“ in der umstrittenen, aber ständig ausverkauften Inszenierung von Volker Loesch und einer überaus flotten „Fledermaus“ sehr erfolgreichen Spielzeit vorgesehen sollte „Staatstheater“ eine Reverenz an das moderne Musiktheater sein, die treue Abonnenten durchaus schätzen.
Für mich ist es ein Gedankenexperiment, das auslotet, wie viel Reduktion und Dekonstruktion der Opernbetrieb verkraftet. Jürgen R. Weber selbst hat ja schon mit der Rahmenhandlung wesentliche Elemente zu Kagels Konglomerat von Szenen beigetragen, die ohne diese Klammer vermutlich sehr ermüdend gewesen wären. Ein Theaterskandal ist jedenfalls in Bonn ausgeblieben.
Der unmittelbare Sog, der von den erfolgreichen Opern des 19. und 20. Jahrhunderts, den Cashcows des Repertoirebetriebs, ausgeht, und der von virtuosen Sängerdarstellern in Begleitung eines satten Orchesters und farbigen Chören mit enormen Steigerungen geprägt ist, will sich jedenfalls nicht einstellen.
Lässt man sich auf das provozierende Spektakel ein, merkt man allerdings, wie Oper grundsätzlich funktioniert. Das erkannten auch die knapp 30 Studenten, die zu einer Befragung des Regisseurs im Anschluss an die Vorstellung eingeladen waren.
- Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Theater Bonn / Stückeseite
- Titelfoto: Theater Bonn/Staatstheater/Yannick-Muriel Noah, Statisterie/ Foto © Thilo Beu
Ein Gedanke zu „Oper Bonn: „Staatstheater“ – Corona-taugliche Dekonstruktion von Oper als buntes Spektakel“