Musiktheater Linz: „[D’Homme] je reconnais l’ouvrage!“ – „Guillaume Tell“ als Legende des Übermenschen in einer virtuellen Realität

Musiktheater Linz/Guillaume Tell/Adam Kim/Foto © Herwig Prammer

Mit „Guillaume Tell“, dem einzigen für die Opéra Nationale de Paris neu komponierten Werk, beendete Gioachino Rossini seine Tätigkeit als Opernkomponist. Das dafür gewählte Thema der Legende um Wilhelm Tell, der den Befreiungskampf der Schweizer aus der Unterdrückung durch die Habsburger anführte, erscheint angesichts der damaligen brisanten Umbruchszeit in Frankreich als erstaunlich politisches. So, wie sich dies allerdings in die Wahrnehmung von mehreren Opern Rossinis als Werke mit politischer Signifikanz in dafür erstaunlichen Kontexten fügt, bildet auch die am Musiktheater Linz gezeigte Inszenierung eine sich zwar nicht zur Gänze erschließende, aber dennoch gelungene, politisch, anthropologisch wie moralisch spannende Ausgestaltung des Legendenstoffes, von dem selbst nur mehr symbolische Reste bewahrt wurden. Philosophisch fundiert wird die Geschichte einer Gesellschaft erzählt, die in ihrem Naturzustand, in den Grundlagen des menschlichen Wesens und Zusammenlebens durch eine künstlich-digitale Welt bedroht ist und einer neuen „Menschheit“ im Sinne des Transhumanismus zustrebt. Mit eindrucksvollen Bildern, besonders aber durch packenden Orchesterklang und gesangliche Höchstleistungen entsteht ein Abend, der für hohen Operngenuss ebenso sorgt wie für kritische Gedanken zu einem gegenwärtig beunruhigend relevanten Thema. (Rezension der Premiere am 17. Mai 2025)

 

 

Der Sündenfall des Übermenschen

Bereits das während der Ouvertüre auf den Vorhang projizierte Zitat Friedrich Schillers, das vom Naturzustand der Menschen berichtet, aus dem sie sich durch Nachahmung der Ordnung der Natur zur Kunst erhoben, lässt ahnen, welche Szene sich bei Georg Schmiedleitners Inszenierung hinter jenem verbirgt. Tatsächlich erscheint, als sich der Vorhang hebt, eine ländliche Gesellschaft, die Blumen hegt, Bienen züchtet und die Schönheit ihres Lebens in und mit der Natur preist. In ihrer Mitte ragt der dicke Stamm eines übergroßen Baums empor, der an den Baum des Lebens, vielleicht aber auch den Baum der Erkenntnis denken lässt. Die Schweizer – als solche (noch) nicht erkennbar – stellen die Menschheit in ihrem Naturzustand dar, in dem das Verhältnis sowohl zur Natur als auch zueinander friedlich gepflegt wird. Es ist ein Paradies, in dem es keine Konflikte, keine Unruhen gibt, in dem sich der Mensch in seiner Natürlichkeit genügt, über die hinauszuschreiten er nur so weit wagt, als es eine Fortführung der natürlichen Ordnung und Prozesse ist. In diesem Idyll wird eine dreifache Hochzeit gefeiert, Melcthal segnet die Paare, „sanft und lachend“ ist die Stimmung, doch Wilhelm Tells Freude wird vom Bewusstsein der Unterdrückung, der Begrenztheit dieses natürlichen, gewissermaßen aber auch unfreien Daseins gehemmt. Dass dieses Paradies als Urzustand auch räumlich begrenzt ist, wird an den es umgebenden, ein übergroßes Glashaus erinnernden Wänden sichtbar, die deutlich machen, wie sehr es sich hier um eine zwar perfekte Natur handelt, zugleich aber um ein verschlossenes und sich verschließendes, dadurch in aller Natürlichkeit künstliches Idyll. Dieses wird aufgebrochen, zuerst bildlich, als Leuthold blutüberströmt herbeieilt, danach auch räumlich, indem die ihn verfolgenden „Habsburger“ mit einem grauen, medizinische Untersuchungsgeräte bergenden Container die Glaswand des Paradieses durchstoßen. Keine mächtigen Adeligen betreten hier das Geschehen, sondern dystopisch anmutende Gestalten in Ganzkörperanzügen, die zuvor bereits den Publikumsraum durchstreiften, sich von außen dem Naturidyll der „Schweizer“ näherten und dieses nun steril halten und mit Gasen, Pestiziden und Gewalt seiner Natürlichkeit berauben wollen. Während Leuthold von Tell gerettet werden kann, wird Melcthal gefasst, wohl um einem medizinischen Experiment unterzogen zu werden, wie bereits zuvor drei Frauen der Hochzeitsgesellschaft. In dieser Dystopie wird bald ersichtlich, worum es den mit den historischen wenig gemein habenden „Habsburgern“ geht: Sie wollen einen neuen Menschen erschaffen, ihm das Natürliche austreiben und ihn zu einem Übermenschen formen, der dazu in der Lage sein soll, die Grenzen der Natur in umfassendem Sinne hinter sich zu lassen, bis hinein in eine neue Realität der Virtualität. Während sich der Zwischenvorhang senkt, lassen Geräusche von Motorsägen erkennen, dass der Baum, der Mittelpunkt des bisherigen Lebens, gefällt wird. Statt vom Baum der Erkenntnis zu essen und sich auf diese Weise zu Freiheit und Mündigkeit zu erheben, wird er vernichtet – ein starkes Bild mit weitreichenden Implikationen für die Beantwortung der Frage, wie eben jene Konzepte von dieser neuen Gesellschaft gedacht werden.

Grenzverschiebungen zwischen Natürlichem und Künstlichem

Musiktheater Linz/Guillaume Tell/Ensemble/ Foto: © Herwig Prammer

Der starke Kontrast zwischen den „Schweizern“ und den „Habsburgern“ – jene ein natürlich lebendes, buntes Volk, diese eine düster-graue Elite, die zur vermeintlichen Verbesserung des Menschen die Grundlagen der Menschlichkeit unterminiert – wird für den die Habsburgische Prinzessin Mathilde liebenden Arnold besonders spürbar. Er befindet sich zwischen den beiden Welten, mehrfach wechselt er die Seiten, kann er doch weder von seiner Herkunft noch von seiner Liebe lassen. Als er vom Tod seines Vaters Melcthal erfährt, der hier jedoch rein ein Tod in der natürlichen Welt, nicht aber in der transformierten, virtuellen zu sein scheint, beschließt er jedoch, auf der Seite der „Schweizer“ zu kämpfen. In fulminantem Chor bereiten sie sich für den Kampf gegen ihre Unterdrücker, der zugleich ein Kampf um ihren Naturzustand ist, nun auch konkret verbildlicht in unübersehbaren Flaggen der Schweiz und dem Anblick des Matterhorns. Welche Rolle diese Anknüpfung an den im Werk ursprünglichen Kontext in dieser deutlich anders konzipierten Inszenierung haben soll, erschließt sich nicht gänzlich, eher sorgt die plötzliche Präsenz der Schweiz, die zuvor allein durch den Text anklingen konnte, für Verwunderung. Es könnte sich darin der Versuch zeigen, an das Libretto anzuknüpfen, um sich nicht zu weit von diesem zu entfernen, womöglich werden diese Bilder mehr des Nationalen denn des Natürlichen jedoch auch verwendet, um den Duktus der Erzählung aufzugreifen, der auf einer Gegenüberstellung von Natur oder Ursprung und Künstlichkeit sowie ewigem Fortschritt basiert.

Herrschaft über Gott und das Nichts

Der Kampfeslust der Schweizer wird jedoch rasch Einhalt geboten, als Gesler, der hier eher einem Geschäftsmann in typischem Politiker-Anzug gleicht als einem edlen Landvogt, mit seiner farblosen, unmenschlich wirkenden, oder gar seienden, Gefolgschaft als Affront gegen die Unterdrückten ein Fest feiert. Statt den kräftig roten Flaggen der Schweiz zieren die Rückwände nun graue mit blass-weißem Kreuz, in ihrer Mitte eine Fahne, auf der vor dem Kreuz eben jener transformierte Übermensch zu sehen ist. Das Kreuz tritt so in seiner religiösen Symbolhaftigkeit hervor, die durch den es überdeckenden, gleichsam übertrumpfenden Cyborg sowohl an das christliche Mysterium des Kreuzestodes und der Auferstehung anknüpft als auch für eine den Menschen ermächtigende Fortschreibung sorgt. Auch das transhumanistische Bestreben der „Habsburger“ zielt ein Pascha, einen Übergang in eine neue Wirklichkeit an, die jedoch nicht zu einer wahren Erlösung als von Gott geschenkten Gnade führt, sondern zu einer, die in der Selbstermächtigung und Selbstrechtfertigung des Menschen besteht, obwohl dieser damit doch gerade das Menschliche verleugnet und sich selbst zu einem über-, dadurch aber eben auch unwirklichen Wesen macht. Am Kreuz sind nicht mehr die beiden Naturen von Gott und Mensch unvermischt und ungeteilt präsent, sondern die vollständige Ablehnung der menschlichen Natur und die Erschaffung einer neuen technologischen „Natur“, eines neuen „Menschen“, dessen Wesen dabei als so verfügbar gehandelt wird, dass es sich weder um einen wahren Menschen handeln noch die Existenz eines wahren Gottes überhaupt weiterhin zur Debatte stehen kann. Der noch besungene Gott existiert nicht mehr und auch nicht, mit Ray Kurzweil, „noch nicht“, vielmehr wird das angestrebt, was bei Nietzsche mit dem Übermenschen, dem „Besieger über Gott und das Nichts“ anklingt. Als zentraler Vertreter dieser neuen technologisierten Menschheit demütigt Gesler die von ihm Unterdrückten, zugleich spielt er mit ihrer Natürlichkeit, wenn er sie in traditioneller Weise und mit Trachtenhüten tanzen lässt und dabei wie Marionetten behandelt, die nach seinem Wunsch zu funktionieren haben. Nur Tell weigert sich – es kommt zu jener berühmten Szene, in der Tell mit der Armbrust einen Apfel vom Kopf seines Sohnes Jemmy schießt, um begnadigt zu werden, hier mit vom Dirigenten gereichtem Pfeil aus der ersten Reihe des Saales, wodurch ein weiteres Mal der Raum über die Bühne hinaus genutzt und so deutlich gemacht wird, wie sehr die Grenzen zwischen einzelnen Menschengruppen verschwimmen, wenn das Menschliche an sich auf dem Spiel steht. Als sich die versprochene Begnadigung als Betrug herausstellt, wird Tell in den Kerker gebracht, während Prinzessin Mathilde seinen Sohn in Schutz nimmt. Aus dieser beschützten Situation heraus wagt es Jemmy, mit der Armbrust unter den Männern Geslers wild umherzuschießen. Dabei wird über ihnen eine Szene aus einem Ego-Shooter-Spiel gezeigt – ein weiteres Zeichen für die mögliche Virtualität des gesamten Geschehens.

Le jour de délivrance?

Musiktheater Linz/Guillaume Tell/Gregorio Changhyun Yun, Erica Eloff, Adam Kim/ Foto: © Herwig Prammer

Für Arnold bedeutet der Verlauf des Geschehens nun jedoch ein schmerzhaftes Ende seiner Beziehung zu Mathilde, die Jemmy in Sicherheit zu seiner Mutter bringt. Während sich die verschiedenen Kantone kampfbereit versammeln, kehrt Tell, der sich aus seiner Festnahme befreien konnte, zurück und tötet Gesler. Nun scheint die Macht der Habsburger besiegt zu sein, doch der letzte Satz der Inhaltsbeschreibung im Programmheft ist mehr als treffend: „Alle hoffen, dass sie nun wieder frei sind.“ Denn der Schlussgesang der „Schweizer“ auf die Freiheit wird von Gesler, der höhnisch in den von Tell getroffenen Apfel beißt, und seiner transhumanistischen Gesellschaft vom Rand, als wären sie Fortsetzung des Publikums, beobachtet. Zu ihnen treten Cyborgs, die neu erschaffenen Übermenschen, hinzu, denen sich Jemmy, eine VR-Brille aufsetzend, zum verzweifelten Erstaunen seiner Angehörigen anschließt. Dieses wirkungsvolle Ende sorgt nicht nur für einen starken Kontrast zur Musik, sondern auch für eine Hinterfragung der gesamten eben gesehenen Inszenierung. Während zuerst der Eindruck entstand, die Menschen in ihrem natürlichen Urzustand würden von den neuen Übermenschen, eben Transhumanisten, und der Welt der künstlichen Intelligenz ersetzt, drängt sich nun die Frage auf, ob nicht gar all jenes nur eine virtuelle Realität war, die die neuen Menschen in ihrer digitalen Welt programmiert und vorgespielt haben – auch als Zeichen dessen, dass nun, wo scheinbar alles erreicht und die Kontrolle über die Natur des Menschen erlangt wurde, eine Sehnsucht nach dem Ursprünglichen, der unberührten Natur zurückkehrt. Die Auffassung, das gesamte Geschehen hätte sich innerhalb einer Virtual Reality abgespielt, ist aufgrund einzelner Details der Inszenierung durchaus plausibel, nicht zuletzt durch das Heben der Glaswände, das die „Schweizer“ wie verloren zurücklässt, als wären sie gerade aus einem Spiel ausgetreten, gleichsam ausgeschaltet worden.

Die Legende als virtuelle Realität

Musiktheater Linz/Guillaume Tell/Fenja Lukas, Adam Kim, Angela Simkin/Foto © Herwig Prammer

Wenngleich das Konzept der Inszenierung in seiner Komplexität nicht zur Gänze eindeutig verständlich wird, sorgt es doch für eine grundlegende Reflexion über das Verhältnis von Natürlichkeit und Künstlichkeit sowie über eine allgemeine Entwicklung der Menschheit, die in zahlreichen Punkten Besorgnis erregt. Sie verdeutlicht, wie schwer durch transhumanistische Bestrebungen, wie sie zum Beispiel der auf dem dritten Zwischenvorhang zitierte Ray Kurzweil mit seiner Idee einer technologischen Singularität vertritt, und andere Entwicklungen der Künstlichen Intelligenz noch klare Trennungen in dieser Hinsicht zu ziehen sein könnten. Das Programmheft bietet, mit Ausnahme eines Textes zu den Gefahren von KI, der besonders dadurch aussagekräftig wird, dass er von einer KI verfasst wurde, erstaunlich wenig erklärende Informationen. Georg Schmiedleitner ist es dennoch gelungen, eine komplexe Geschichte zu erzählen, die klare Signale setzt, in Akzenten auf drängende Gefahren rund um Entwicklungen der Digitalisierung und Technologisierung hinweist und so auf mitreißende Weise spürbar macht, wie sehr die Wirklichkeit, auch die Menschlichkeit des Menschen infrage gestellt ist. Diese Art des Themas ist zwar keineswegs in Rossinis „Guillaume Tell“ angelegt, lässt sich aber mit der Grunddynamik der Handlung harmonisch verbinden, wodurch besonders die gesellschaftlichen und politischen Konsequenzen von Ungerechtigkeit und Unterdrückung in den Vordergrund rücken. Bühnenbild (Harald B. Thor) und Kostüme (Tanja Hofmann), die sowohl den natürlichen Urzustand als auch die in eine technologisierte Welt transformierte Menschheit stimmungsvoll einfangen, sorgen für eine zwar ungewöhnliche, doch äußerst tiefgründige und relevante Inszenierung.

Stimmlicher Glanz in fulminantem Orchesterklang

Musiktheater Linz/Guillaume Tell/Erica Eloff/Foto © Herwig Prammer

Ebenso beeindruckend und mit Tiefgang erweist sich die Besetzung des Abends, die zur Gänze aus Ensemblemitgliedern des Musiktheaters Linz besteht. In der Titelrolle des Guillaume Tell ist Adam Kim zu hören, der besonders in den lauten Stellen, auch bei den in dieser Partie nicht seltenen hohen Tönen mit kräftiger, ausdrucksstarker Stimme überzeugt. In den zurückgenommenen hindern ihn jedoch eben dieser Ausdruck und seine emotionale Darstellungskraft ein wenig, den Klang voll entwickeln und aufblühen zu lassen. Tells Gattin Hedwige wird gesungen von Angela Simkin, die für voll klingende, weiche Töne sorgt, die mit einer nahegehenden Intensität in Wärme aufgehen können. Dominik Nekel bietet mit gewohnter stimmlicher Präsenz, abgerundetem, aber doch intensivem Klang und fein gestaltetem Spiel einen Walter Furst, der seiner Rolle als Verschwörer alle Ehre macht. Zwar nur kurz, doch ebenso gelungen ist Michael Wagners Darstellung des Melcthal mit sonorem, bestimmtem Bass. Bereits zu Beginn kann Jonathan Hartzendorf als Fischer Ruodi stimmlich strahlen, was er, ohne klangliche Verluste durch die hohe Positionierung im über der Bühne schwebenden Boot, mit glasklarer Intonation und hellem Klang auszukosten weiß. Während Christian Drescher als Rodolphe zwar mit schneidenden, gut gesetzten Tönen und einer passend eisigen Ausstrahlung dennoch etwas zu zurückgehalten erscheint, lässt Gregorio Changhyun Yun einen bedrohlichen Gesler hören. Seine Bühnenpräsenz, die sich sogar noch im Biss in den Apfel zeigt, vereint sich mit eindringlichen Tönen. Mit ihrem strahlenden, klaren Sopran, der so beweglich wie intensiv ist, und dynamischem Spiel, das sich von der Jugendlichkeit in ein kampfbereites Selbstbewusstsein entwickelt, überzeugt Fenja Lukas als Jemmy. Den Höhepunkt des Abends bildet jedoch das tragische Liebespaar: Erica Eloff als Mathilde berührt bereits bei ihrem ersten Auftritt zutiefst und schafft es, die zerrissenen Gefühle der Prinzessin hörbar zu machen. Ihr Sopran wird nie schrill, stets behält er eine samtene, leicht dunkle Färbung, die sich besonders in den leisen, intimen Szenen mit einer beeindruckenden Intensität vereint und so zu ins Herz dringenden Klängen gelangt. Doch auch in den wenigen Belcanto-Passagen beweist sie eine große stimmliche Beweglichkeit, die jedoch nie an Timbre oder Intonation einbüßt. In der Rolle des Arnold erweist sich SeungJick Kim als Tenor von höchstem Niveau, wie er nicht selbstverständlich zu hören ist. Mit perfekter Intonation, leuchtendem Klang und differenziertem Ausdruck verkörpert er die zerrissene Figur in all ihren Emotionen, die auf berührende Weise zu sehen wie zu hören sind. Ohne übertriebene Force, aber dennoch mit der nötigen Kraft gestaltet er jede Passage sensibel und mit großer Bandbreite, sodass sowohl größte Entschlossenheit als auch tiefste Verletzlichkeit zum Ausdruck kommen können.

Eine ebensolche Differenziertheit war auch im Klang des Brucknerorchesters Linz unter der Leitung von Enrico Calesso zu vernehmen. Bereits die wohl bekannte Ouvertüre zeigte, welche Ausdruckskraft und Wandelbarkeit im Orchester vorhanden sind, begonnen bei dem traumhaft von Solocellistin Lia Vielhaber musizierten Cellosolo, über die zarte Weise des Englischhorns und der Flöte, bis hin zu einem ersten fulminanten Ausbruch im Gewitter, das im Galopp seine Fortsetzung fand. Diese Vielgestaltigkeit und Feinfühligkeit für verschiedene Artikulationen, Dynamiken, aber auch Stimmungen und Expressionen setzte sich das gesamte Werk hindurch fort, woraus sich eine in Rossinis Kompositionsart grundgelegte, aber erst zum Vorschein zu bringende Zugkraft entwickelte, die einen unmittelbar in die Musik eintauchen lässt. Besonders stark und explosiv erwies sich dabei das Blech, hinter dem die Virtuosität und Energie der Streicher aber nicht zurückstanden. Durch den erhöhten Orchestergraben war es möglich, Calessos sensibles und präzises Dirigat auch optisch zu verfolgen, was verdeutlichte, welch große Kenntnis, aber auch welch Hingabe er für dieses Werk hat. Er setzte auf eine spannungsreiche Interpretation mit deutlichen Kontrasten, die jedoch nie in ein aufgesetzt wirkendes Extrem fiel, sondern stets zu einem natürlichen Eindruck führte und sich mit den Solistinnen und Solisten, aber auch dem äußerst kraftvoll und harmonisch klingenden Chor des Landestheaters Linz zu einem beeindruckenden Gesamten fügte.

Liberté, redescends des cieux!“

Musiktheater Linz/Guillaume Tell/Fenja Lukas, Chor/Foto © Herwig Prammer

Mag es auf den ersten Blick auch kurios erscheinen, Rossinis „Guillaume Tell“ in eine Geschichte über virtuelle Realitäten, Transhumanismus und Künstliche Intelligenz zu verwandeln, zeigte diese Aufführung, getragen von einer emotionsgeladenen, packenden Gesamtleistung von Orchester und Gesang, doch, dass selbst gewagtes Regietheater funktionieren kann, wenn es den nötigen Tiefgang aufweist, Grunddynamiken des Werks zu erkennen weiß und es versteht, nicht gegen jene, sondern mit ihnen zu arbeiten, um ein wenn auch dem Stück fernes, so doch für heute relevantes Thema zu behandeln. Damit beweist sich auch, dass Oper nicht nur eine schöne Kunstform ist, die es ermöglicht, für begrenzte Zeit in eine andere Welt einzutauchen, sondern wesentlich Kunst, die für die reale Welt heute von Relevanz ist. Georg Schmiedleitner gelang es, eine völlig unerwartete Geschichte zu erzählen, die jedoch nicht als Parallelerzählung zum Werk ablief, sondern sich mit diesem zu einem auch philosophisch durchdachten Ganzen verband, das auf eindrückliche Weise deutlich macht, welche Gefahren aktiv, auch politisch eingesetzte Bestrebungen im Bereich der Digitalisierung, vor allem der Künstlichen Intelligenz, in sich bergen. Was Schiller einst als Aufbruch von einem Paradies beschrieb, der zunächst zwar in Wildnis, letztlich aber in ein neues Paradies führen wird, das von Freiheit und Mündigkeit geprägt ist, wird durch diese Technologisierungen weitgehend fraglich, sodass der als Emanzipation zu wahrer Freiheit verstandene Sündenfall doch zu einem wahrhaft solchen werden könnte. Es ist zu hoffen, dass sich genügend Menschen mit der Frage konfrontieren, ob ihre Bestrebungen tatsächlich „von einem Paradies der Unwissenheit und Knechtschaft […] zu einem Paradies der Erkenntnis und Freiheit“ führen oder ob sie nicht gerade darauf abzielen, Verunmöglichung von Erkenntnis und Unfreiheit, und damit womöglich sogar die Erschütterung des Menschlichen selbst, zu bewirken.

 

  • Rezension von Elena Deinhammer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Musiktheater Linz / Stückeseite
  • Titelfoto: Musiktheater Linz/Guillaume Tell/Ensemble/ Foto: © Herwig Prammer
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