Jägerin und Gejagte – „Lulu“ an der Oper Frankfurt

Oper Frankfurt a.M./LULU/Brenda Rae/Foto: Barbara Aumüller

Mit Brenda Rae in der Titelrolle gelingt der Oper Frankfurt in ihrer Produktion von Alban Bergs Lulu ein erneuter Coup und schafft so einen starken Anwärter für die Inszenierung des Jahres. (Besuchte Vorstellung: 17. November 2024)

 

 

 

Es gibt in der Literatur- und Musikgeschichte Personen, denen wir aufgrund ihren rätselhaften, gar archaischen Charakters und ihrer Vielschichtigkeit nicht entkommen können, die uns stattdessen immer wieder in ihren Bann ziehen. Ein solches Mysterium und Faszinosum ist Lulu – von Frank Wedekind erschaffen und von Alban Berg musikalisch verewigt, birgt ihre Figur jene unergründlichen Eigenschaften, die sie die Männer um sich herum anziehen lässt und dabei mit in die Tiefe zieht.

Dieses ambivalente Verhalten ist genau das, was Nadja Loschky in ihrer Inszenierung von Lulu in der Oper Frankfurt hinterfragen möchte. Wer ist Lulu? Ist sie immer nur das Opfer ihrer Umstände, Projektionsfläche für jene, die sich ihrer ermächtigen, oder ist sie gar diejenige, die letztlich alles lenkt und gar ihr eigenes Schicksal selbst zu verantworten hat?

Lulu, als Kind ihrer Zeit, ist eine Figur, die möglichst charakterlos bleiben und nur als Spiegelfläche des männlichen Egos dienen soll: Er formt Sie, nicht andersherum. Sie dagegen ist Freiwild, jedem ausgesetzt und wird als wildes, schönes Tier bezeichnet – als etwas Archaisches, was seinen primitiven Trieben erlegen ist und als etwas, das es zu besitzen gilt.

Bei Loschky ist Lulu nicht nur Gejagte, sondern Jägerin zugleich. Ihr gelang es, die Vielschichtigkeit ihres Charakters in ihrem ganzen Spektrum darzustellen – von schmerzhafter Objektifizierung, die sie erdulden muss, bis hin zu emanzipatorischer Intriganz, um sich selbst zu retten. Loschky versucht Lulu aus ihrer Passivität zu holen und ihr mehr Selbstbestimmtheit zu geben.

Oper Frankfurt a.M./LULU/Brenda Rae, Claudia Mahnke/Foto: Barbara Aumüller

Das Bühnenbild von Katharina Schlipf und die Kostüme von Irina Spreckelmeyer schaffen ein Setting der 1920er Jahre, zwischen Dekadenz und Untergang – sogleich evozieren sie Bilder der Moderne oder Neuen Sachlichkeit, wie von Otto Dix oder Jeanne Mammen – stets zwischen ausgelassenen Festen und schockierender Armut. Der schöne Schein trügt und zwischen Pelz, Champagner und der feinen Gesellschaft beginnt der Putz zu bröckeln. Überall kriecht der Schmutz aus den Ritzen, infiziert alles und lässt sich nicht mehr entfernen – er scheint Lulu zu verfolgen, scheint Teil ihres Wesens zu sein. Dieser Schmutz, eine graue Flüssigkeit, schlammartig, wird zum starken Symbol des Ekels, des Makels, der Lulu anhaftet, der sich nicht mehr abwaschen lässt.

Loschky greift hier Gedanken von Klaus Theweleit aus seinem Werk Männerphantasien auf, der die „unausrottbare Verknüpfung von Schmutz mit der geschlechtlichen Vermischung“ begreift oder auch Christian Enzensberger, der in seinem Größeren Versuch über den Schmutz aufzeigt, wie der Mensch sich selbst über den Schmutz definiert und es ein unumgängliches Produkt der Gesellschaft und ihrer Ordnung ist.

Zusätzlich stellt Loschky der Titelfigur einen Schatten, eine Anima (gespielt von Evie Poaros) zur Seite. Sie ist ihre steter Begleitung, wird zur Komplizin ihrer Taten, die ihren Willen ausführt und sich für sie die Hände schmutzig macht. Wie ein Erdgeist steigt sie aus dem Nichts empor, um sich nach Lulus Tod wieder zurück in die Erde zu verflüchtigen. All diese Elemente lassen diese Lulu zu einer feinsinnigen, differenzierten und nachdenklich machenden Inszenierung werden.

Für GMD Thomas Guggeis wird diese Lulu, seine erste Premiere in seiner nun zweiten Spielzeit an der Oper Frankfurt, zum vollen Erfolg. Mit seinem akzentuierten Dirigat mit sehr feingliedriger, transparenter Klangvorstellung vermochte Guggeis sowohl den atonalen, ausdrucksstarken wie auch den sinnlich-schwülstigen, melodiösen Charakter der Partitur gekonnt herauszuarbeiten. Ihm und dem Frankfurter Opern- und Museumsorchester gelang die besondere Anstrengung, Bergs Oper Lulu in der von Friedrich Cerha hergestellten dreiaktigen Fassung aufzuführen, hierbei jedoch nur eine Pause einzulegen. Erst in der Mitte des zweiten Akts, als sich Lulu auf der Höhe ihres Lebens befindet, durfte das Publikum Luft schnappen. Mit zweimal 90 Minuten Aufführungsdauer gelang es Guggeis, die musikalische Spannung aufrechtzuhalten und die Werkesymmetrie, vom Aufstieg und Fall Lulus, ganz so wie in den beiden Dramen Wedekinds auch ursprünglich intendiert, zu betonen.

Nicht nur durch ihre ausdrucksstarke szenische Verkörperung der Titelrolle bildete Brenda Rae, ehemaliges Ensemblemitglied der Oper Frankfurt, den Dreh- und Angelpunkt der Aufführung, auch gesanglich bewies sich ihre Interpretation als so einnehmend, wie Lulu selbst die ihr begegnenden Menschen in ihren oft tödlichen Bann zieht. Mit klangschöner Stimme brachte Rae die Ambivalenz der Figur zum Ausdruck und ließ dabei ihre Erfahrungen als Koloratursopran in die Rollengestaltung mitschwingen. Neben einer differenzierten schauspielerischen Darstellung der Figur, in der die zahlreichen Facetten, auch jene, die unausgesprochen das Stück durchziehen, überzeugend zum Vorschein kamen, zeigte sich ihre versierte Gesangstechnik besonders in den leicht kokettierenden Momenten. Dabei gelangen ihr auch die immer wieder fließenden Übergänge ins Deklamatorische, die die Komposition Alban Bergs verlangt.

Oper Frankfurt a.M./LULU/Brenda Rae, Simon Neal /Foto: Barbara Aumüller

Simon Neal bot mit seinem kraftvoll-virilen Bariton eine glaubhafte Darstellung des Gewaltmenschen Dr. Schön, die jedoch auch dessen komplexer Lage gerecht wurde und stellenweise seine Gefühle offenbarte. Alwa, Sohn des Dr. Schön wirkte fast schon in ödipalen Strukturen gefangen. Gleichzeitig ist er womöglich der Einzige, der Lulu liebt, ohne sie zu vereinnahmen, und sie bis zum Ende begleitet. AJ Glueckert verlieh dieser Figur mit seiner hellen Tenorstimme die emotionale Kraft und überzeugte zugleich mit behutsam akzentuierter Phrasierung. Claudia Mahnke gelang es die matronenhafte, unterwürfige Figur der Gräfin Geschwitz mit dezent zittriger, berührender Mezzosopranstimme, die jedoch nichts von der unterschwelligen Stärke des Charakters einbüßte, darzustellen.

Immer wieder tickt eine unsichtbare Uhr, sie wird lauter, man kann ihr nicht entrinnen. Lulus Sekunden scheinen gezählt und ihr Tod ist unausweichlich. Ein glückliches Ende ist für solch eine Figur nicht vorgesehen, aber Nadja Loschky hat es geschafft ihr Leben einzuhauchen und unser Mitgefühl zu wecken. Ihr gelang der Drahtseilakt zwischen Reinheit und Sünde, zwischen Unschuld und Triebhaftigkeit und vermochte somit Lulu in die Ästhetik ihrer Entstehungszeit einzubetten, aber einen feministischen Blick auf die Oper zu richten, wie er damals noch nicht möglich war.

 

  • Rezension von Alexandra Richter / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Oper Frankfurt / Stückeseite
  • Titelfoto: Oper Frankfurt a.M./LULU/Brenda Rae/Foto: Barbara Aumüller 
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