
Chamber Orchestra of Europe
Musikalische Leitung: Yannick Nézet-Séguin
Choeur de Chambre Accentus
Festspielhaus Baden-Baden, 04. Juli 2021
Ludwig van Beethoven:
Sinfonie Nr. 1 C-Dur op. 21
Sinfonie Nr. 9 d-Moll op. 125
Sicherlich hätte sich Ludwig van Beethoven seinen 250. Geburtstag anders vorgestellt. Denn pandemiebedingt wurden alle in der Saison 2020/21 geplanten Beethoven-Zyklen und sonstige Festivitäten zu Ehren dieses wichtigen Vertreters der Wiener Klassik abgesagt oder unter Ausschluss der Öffentlichkeit aufgeführt. Das Festspielhaus Baden-Baden öffnete kurz vor Saisonabschluss nun noch einmal seine Pforten, um die Spielzeit doch noch zu einem prachtvollen Höhepunkt zu führen. Der kanadische Dirigent Yannick Nézet-Séguin residiert derzeit für zwei Wochen in Baden-Baden und präsentiert seinen Zyklus der neun Sinfonien Ludwig van Beethovens. Aufgrund der Reisebeschränkungen und Quarantäneregeln war es sicherlich ein besonderer Kraftakt hierfür ausgerechnet das mit Musikerinnen und Musikern aus ganz Europa zusammengesetzte Chamber Orchestra of Europe zu gewinnen. Eingeladen wurde DAS OPERNMAGAZIN zum zweiten Abend der Konzertserie, in diesem wurde mit der ersten und neunten Sinfonie der größtmögliche Kontrast im musikalischen Schaffen Beethovens gegenübergestellt.

Yannick Nézet-Séguin könnte der deutschen Kapellmeistertradition, welche die Rezeptionsgeschichte der Sinfonien Beethovens seit hunderten Jahren prägt, nicht ferner stehen: Auf seinem Instagramkanal sieht man ihn im Fitnessstudio trainieren oder in der Badehose Cocktails von seiner Dachterrasse trinken. Nézet-Séguin dirigiert nicht im Frack, auch trägt er weder Fliege noch Krawatte – leger und sportlich, den obersten Hemdsknopf geöffnet, schwingt er sich unter dem Jubel des Publikum auf das Dirigentenpodest. Und doch versteckt sich hinter seinem motivierenden Lächeln ein tiefstes Verständnis für den Geist Beethovens. Unter Nézet-Séguins Leitung erklang eine überraschend konventionelle und geradezu klassische Beethoven-Interpretation. Und das ist ausnahmslos positiv gemeint! Natürlich ist die Mischung von Naturtrompeten in einem modernen Orchesterklang eine persönliche Geschmackssache, aber im Gegensatz zu den von Extremen geprägten Beethoven-Einspielungen von Currentzis oder Chailly vermied Nézet-Séguin jegliche persönliche Egozentrik und fasste die beiden Werke ganz im Dienste des Komponisten auf.

Nézet-Séguin schlug in der ersten und der neunten Sinfonie einen großen Bogen, so ist man es auch von renommierten Einspielungen eines Karajan oder Böhm zu hören gewohnt. Spannend machte der Dirigent es in den Details mit einer sorgfältigen und akkuraten Motivarbeit – vorzugsweise wusste er in den bedächtigeren Adagio-Sätzen zu überraschen. Hier sollte man bei Nézet-Séguin schon genau hinhören, er setzte in den Modulationen einzelne Akzente gewissenhaft, verzögerte mal leicht ein Diminuendo oder nahm eine Fermate etwas kürzer als üblich. Den Streicherklang des Chamber Orchestra of Europe hielt er hierbei selbst in den mächtigeren Phrasen hell und transparent. Sie dienten ihm als Klangteppich für seinen spannungsgeladenen und durchaus kühnen Artikulationsansatz in der Motivik der Holzbläser.
Wie ein Befreiungsschlag aus diesen schwierigen Corona-Zeiten ertönte als krönender Konzertabschluss – wie sollte es auch anders sein – Schillers „Freude schöner Götterfunken“: Der Bariton Florian Boesch führte das Solistenquartett mit tiefer Schwermütigkeit im Ausdruck im „O Freunde, nicht diese Töne“ um wenige Silben darauf sein Publikum in bittender Euphorie aufzufordern, doch „angenehmere und freudenvollere“ anzustimmen. Der französische Kammerchor Accentus erstrahlte im Finalsatz mit einer zum Chamber Orchestra harmonisierenden, kristallklaren Klangfarbe, die nicht sonderlich pompös, sondern vielmehr homogen und samt in die Höhen des Festspielhauses floss.

Yannick Nézet-Séguins Konzertreihe im Festspielhaus Baden-Baden soll im nächsten Jahr bei dem Label Deutsche Grammophon als neuer Beethoven-Zyklus auf CD veröffentlicht werden. Sicherlich ist die Beethoven-Konkurrenz auf dem Plattenmarkt sehr groß und so wird sich zeigen, ob sich Nézet-Séguins Einspielung auch im Vergleich mit den renommierten Aufnahmen messen lassen kann. Ein Konzerterlebnis wirkt schließlich doch noch ganz anders als das konzentrierte Anhören einer Aufnahme mit Blick in die Partitur.
Abgerundet wurde die Konzertreihe am Vortag durch Schuberts „Winterreise“, interpretiert von Joyce DiDonato mit Nézet-Séguin höchstpersönlich als Begleiter am Klavier. Nun werden in den nächsten Tagen noch zwei Konzerte mit Beethoven-Sinfonien folgen, aber schon jetzt haben sich die Anstrengungen gelohnt und das Baden-Badener Publikum dankte mit großem Beifall und augenblicklichen Standing Ovations.
Neben der CD-Veröffentlichung im kommenden Jahr gibt es schon jetzt die Möglichkeit das Konzert online ’nachzuerleben‘. Weitere Infos unter www.festspielhaus.de und www.digitalfestivalhall.de
- Rezension von Philipp Richter / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Festspielhaus Baden-Baden
- Titelfoto: Konzert am 4. Juli 2021 mit Yannick Nézet-Séguin (Dirigent) und dem Chamber Orchester of Europe im Festspielhaus Baden-Baden/Foto @ Andrea Kremper