Countertenor Benno Schachtner verkörpert in der Person des Refugees, des Flüchtlings, das brennende Problem der ungeregelten Migration, das Europa, aber auch Amerika, in besonderem Maß betrifft. Mit einem kleinen Ensemble und ohne Chor werden in der Oper „Flight“ Sehnsüchte und Hoffnungen von Menschen thematisiert. Das Stück spielt in der Gegenwart und spricht Zuschauerinnen und Zuschauer unmittelbar an. (Rezension der Premiere v. 21.1.2024)
Fast jeder hat schon Stunden auf Flüge gewartet. Daher ist das Warten auf das Ende des Unwetters, das den Flugverkehr aufhält, eine Situation, in die man sich hineinversetzen kann. Es ist die einzige Klammer, die die drei Paare und vier Einzelpersonen zusammenhält, die ihre persönlichen Hoffnungen und Beziehungskrisen haben. In der Situation des Eingeschlossenseins mit Fremden spielen sich zwischen zehn Protagonisten ungewöhnliche Szenen ab. Wie in Mozarts Oper „Le Nozze di Figaro“, die Jonathan Dove inspirierte, spielt sich alles an einem Tag ab. „Flight“, nach dem Libretto der 1960 geborenen Dramatikerin April de Angelis, am 24. September 1998 im Opernhaus Glyndebourne uraufgeführt und für die Glyndebourne Touring Opera geschrieben, begründete den Ruf des 1959 geborenen Komponisten Jonathan Dove als Opernkomponist. Die Bonner Inszenierung ist die einundvierzigste weltweit.
Ausgehend vom Schicksal des Expatriierten Mehran Karim Nasseri, der 18 Jahre auf dem Flughafen Paris Orly verbringen musste, spielt sich auf einem Flughafen – die Videos wurden im Flughafen KölnBonn gemacht- eine Ausnahmesituation ab. Acht Personen: Steward und Stewardess, die jede Gelegenheit zum Sex nutzen, das junge Paar Tina und Bill, die durch eine Reise wieder frischen Wind in ihre Ehe bringen wollen, Minskman und die hochschwangere Minskwoman, die zum Karrieresprung Minskmans nach Minsk fliegen, Older Woman, die auf die Ankunft ihres wesentlich jüngeren mallorquinischen Lovers wartet, und der Refugee, der betteln muss, um von den Mitreisenden Geld für Essen zu bekommen, sitzen wegen eines Unwetters am Flughafen fest. Der Immigration Officer ist die Bedrohung des Flüchtlings, und die Controllerin, die die Handlungen der Menschen kommentiert und die Flüge ansagt, ist eine Art Vertrauensperson.
Auf das Minimum reduziert und fokussiert ist die Handlung. In der Morgendämmerung kommunizieren der Refugee und die Controllerin. Nach und nach trudeln die anderen ein. Im ersten Akt passiert das erste kleine Drama: Die hochschwangere Minskwoman weigert sich, ihren Mann Minskman, der als Diplomat nach Minsk versetzt ist, zu begleiten, und lässt ihn allein fliegen. Sie hat Panik, ihr gewohntes Leben hinter sich zu lassen.
Dann kündigt sich das Unwetter an. In der Grenzsituation des Wartens auf das Ende des Unwetters tun Menschen Dinge, die sie normalerweise nie tun würden. Der Flüchtling, verzweifelt auf Dauer an den Flughafen gefesselt, verkauft an alle vier Frauen einen Talisman-Stein, jeder versprechend, er erfülle ihre Wünsche. Als sie feststellen, dass er diesen Talisman auch den anderen drei Frauen verkauft hat, greifen sie zu Selbstjustiz und schlagen den Betrüger brutal zusammen und legen den Ohnmächtigen in einen Schrankkoffer. Was Bill und der Steward in der Zeit auf dem zweiten Tower treiben, sprengt die Grenzen des bisher in der Oper gezeigten. Die Partnerinnen sind empört, als aufgrund verwechselter Hosen offenbar wird, was passiert ist. Aber Minskwoman bekommt ihr Baby, eine Art Weihnachtswunder geschieht, und der Flüchtling erzählt seine anrührende Geschichte. Der Immigration Officer hat Verständnis und verspricht, den Refugee nicht zu bemerken.
Während Da Ponte und Mozart ihre Kritik am Adel und vor allem am immer noch weit verbreiteten „Ius primae noctis“ – dem Vorrecht des Grafen, in der Hochzeitsnacht seiner Untergebenen mit der Braut zu schlafen – in eine Verwechslungskomödie mit Tiefgang verpackten, legen de Angelis und Dove ihren Finger in die Wunde der unregulierten Migration, konkretisiert am Beispiel des Refugees, der in kein Land einreisen darf, weil er sich nicht ausweisen kann, und der in der Transitzone des Flughafens festsitzt.
Die Parallelen gehen noch weiter: Die Controllerin und der Refugee begrüßen einander mit einem Duett Countertenor und sehr hoher Sopran als Auftakt der Oper. Am Ende gehen alle wieder zur Tagesordnung über und verzeihen einander – ein Happy End wie das Schlussensemble „Contessa perdono“ in „Le Nozze die Figaro“.
Adriana Altaras inszeniert das Kammerspiel mit fünf Sängerinnen, fünf Sängern und fünf Statisten im Bühnenbild von Christoph Schubiger, das seinen Reiz durch die typgerechten Kostüme von Nina Lepilina und die bildstarken Videoprojektionen von Rasmus Rienecker bekommt, wie einen Spielfilm, sehr lebensnah. „Das Stück schwankt total zwischen Komödie, Groteske und Tragödie. Ich versuche, alles schwebend zu halten, wie eben während eines Fluges,“ so Adriana Altaras in einem Interview mit der Dramaturgin Polina Sander, das im Programmheft abgedruckt ist. Dieser Spagat gelingt ihr, und es findet eine großartige Steigerung vom ersten zum dritten Akt statt, in dem der Refugee seine anrührende Geschichte erzählt.
Countertenöre werden in der Musik der Zeit häufiger eingesetzt, um herausgehobene Figuren zu verkörpern. Für Benno Schachtner, der in Bonn bereits als Echnaton in der gleichnamigen Oper von Philipp Glass auf der Bühne stand, ist der Refugee die bisher forderndste Partie. Er ist die ganze Zeit auf der Bühne, und seine Erzählung über seine Flucht, bei der sein Bruder tödlich verunglückte, bebildert mit einem im Weltraum verlorenen Astronauten, rührt an. Schachtners Countertenor ist farbenreich und ausdrucksstark. Herausgehoben und dem Himmel besonders nahe ist Sophia Theodorides, die so etwas wie die Spielleiterin ist und vor allem die sexuellen Ausschweifungen von Steward und Stewardess entrüstet kommentiert und bewertet, durch ihren sehr hohen und klaren Sopran.
Den Steward spielt der sympathische Bariton Carl Rumstadt aus dem Ensemble mit großem Körpereinsatz, die Stewardess ist Tina Josephine Jaeger. Beide machen in Uniform bella figura. Die Mezzosopranistin Susanne Blattert, die vor 12 Jahren in Doves Oper „The Adventures of Pinocchio“ die Titelfigur spielte, ist Elder Woman, die auf ihren jüngeren Lover wartet, der nicht kommt. „Mit mir identifiziert sich sicher fast die Hälfte des Publikums,“ sagte sie trocken bei der Premierenfeier.
Ensemblemitglied Mark Morouse, der in der Welt-Uraufführung von „Marx in London“ von Jonathan Dove am 9. Dezember 2018 in Bonn die Titelfigur verkörperte, ist jetzt Minskman, ein Diplomat, der mit seiner Frau nach Minsk versetzt wird. Mit seinem großen Bassbariton schlichtet er diplomatisch geschickt Konflikte. Er lernt als Mann, seine Gefühle auszudrücken, denn er kehrt zurück und gesteht seiner Frau, dass er ohne sie nicht leben kann. Sarah Mehnert ist seine Frau, die ihre Überforderung mit dem Umzug in ein anderes Land und mit der Lebensveränderung durch das Baby rührend auf den Punkt bringt. Die Geburt ihres Babys auf der Bühne bewirkt eine Art Katharsis. Ava Gesell spielt die etwas zickige kokette Tina, Gast Samuel Levine mit profiliertem Tenor den in der Eheroutine erstarrten Bill, der mit dem Stewart das High seines Lebens erlebt. Die Überraschung ist der junge Bassbariton Christopher Jähnig als Immigration Officer, bei dem man sich fragt, warum der keine größere Partie singt. Grund ist ganz einfach, dass er erst seit ein paar Monaten im Ensemble ist.
Die Inszenierung von Adriana Altaras spielt die einzelnen Episoden sehr bildstark aus. Naturgemäß ist die große Szene des Flüchtlings, in der er die Geschichte seiner Flucht erzählt, der dramatische Höhepunkt, nach dem das Schlussrondo die Spannung wieder abbaut.
Daniel Johannes Mayr dirigiert das Beethoven-Orchester mit der zwischen Musical, Jazz und großer Oper changierenden sehr rhythmusbetonten postminimalistischen Musik souverän, und man zeigt, dass auch das Xylophon als Melodieinstrument eingesetzt werden kann. Es ist Musik, die beim Publikum sehr gut ankommt.
Die Botschaft dieses Stücks ist für mich, dass wir uns ernsthaft Gedanken darüber machen müssen, wie wir mit Migration umgehen. Im Fall von Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlingen ist das Asylrecht unabdingbar.
Das Stück in englischer Sprache hat mir sehr gut gefallen, denn es ist unmittelbar verständlich, und es gibt deutsche und englische Übertitel. Es ist ideal für eine UNO-Stadt wie Bonn, in der viele Englisch sprechende Menschen leben, die am kulturellen Leben teilhaben wollen. Der lange Beifall für das großartige Ensemble und für das Regieteam zeigt, dass Intendant Dr. Bernhard Helmich wieder alles richtig gemacht hat.
- Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Oper Bonn / Stückeseite
- Titelfoto: Oper Bonn/FLIGHT/ Ensemble/ Foto © Sandra Then