Regisseurin Nadja Loschky und Kostümbildnerin Irina Spreckelmeier zeigen eine faszinierende und beklemmend aktuelle Geschichte von Vögeln, Menschen und Göttern mit wunderbarer spätromantischer Musik von Walter Braunfels. Das Lachen bleibt einem im Hals stecken, denn Ratefreund, ein charismatischer Demagoge, etabliert in der runtergekommenen Gemeinschaft der Vögel einen straff geführten autoritären Staat unter seiner Herrschaft. Hoffegut, sein Freund, traumatisiert durch die Grenzerfahrung des Frontgemetzels im 1. Weltkrieg, träumt sich in eine Naturerfahrung mit der Nachtigall. Im Mantel einer Fabel wird die Entstehung eines rassenwahnsinnigen Staates der Vögel gezeigt. (Besuchte Vorstellung 8. Januar 2022)
Keine Oper hat hellsichtiger den NS-Staat vorhergesehen als „Die Vögel“ des spätromantischen Komponisten Walter Braunfels, deren Uraufführung am 30. November 1920 unter der Leitung von Bruno Walter am Münchner Nationaltheater zu einer der erfolgreichsten im ganzen 20. Jahrhundert wurde. Die berühmte Maria Ivogün sang die Nachtigall, Karl Erb den Hoffegut.
Walter Braunfels hat selbst das Libretto geschrieben und das Stück „Die Vögel“ des Aristophanes aus dem Jahr 414 v. Chr. aufgegriffen, das beschreibt, wie zwei Athener Bürger mit den Vögeln einen neuen Staat namens „Wolkenkuckucksheim“ gründen. Doch das freiheitliche Gemeinwesen entartet zu einer totalitären Diktatur. Die Vögel werden als ewig lüsterne habgierige und verfressene Faulenzer charakterisiert, die sich von den Menschen manipulieren lassen. Als sie dann auch noch in einen Krieg gegen die Götter ziehen sollen, greift zunächst Prometheus warnend ein, und schließlich schickt Zeus höchstselbst ein Gewitter, das den Vogelstaat hinwegfegt. So endet es auch hier.
Regisseurin Nadja Loschky schaltet dem Vorspiel eine stumme Szene auf einem weiträumigen öden Schlachtfeld vor, das mit Hügeln und Schützengraben die ganze riesige Bühnenfläche einnimmt. Hoffegut muss als Frontsoldat erleben, wie seine Kameraden von feindlichen Kugeln getötet werden. Dadurch gewinnt das Stück einen sehr konkreten Zeitbezug, der noch dadurch unterstrichen wird, dass Kostüme und Ausstattung an die NS-Zeit erinnern. Braunfels selbst ist als Soldat im 1. Weltkrieg verwundet worden und konnte erst nach dem Krieg „Die Vögel“ vollenden.
Das überirdisch schöne Vorspiel mit dem Gesang der Nachtigall holt ihn wieder ins Leben zurück. Zusammen mit seinem Freund Ratefreund, der seine beiden Pagen ganz schön schikaniert- der typische autoritäre Charakter – begibt er sich in das Land der Vögel.
Dem Wiedehopf, König der Vögel, kahlgerupft und versehrt, schildert Ratefreund, der intellektuelle Demagoge, seine Phantasie von einem blühenden Vogelstaat, auf die der König eingeht. Ratefreund mutiert zum Vogel und steht diesem Staatswesen vor. Seine Adlaten, von ihm sadistisch gepeinigt, werden selbst zu willigen Vollstreckern der Ideologie. Andersdenkende werden brutal mundtot gemacht.
Der Romantiker Hoffegut dagegen ist dem Gesang der Nachtigall verfallen und erlebt eine innige Liebesnacht mit ihr. Ana Durlovski als Nachtigall mit fünf Doubles beschert ihm höchste Liebeswonnen. Sein Glück ist erfüllt.
Nach der Pause finden wir uns in einem Zuchtlabor zur Schaffung einer neuen Superrasse. Ratefreund führt ein strenges autoritäres Regiment. Als er die Vögel zum Krieg gegen die Götter aufhetzt tritt stimmgewaltig Bassbariton Prometheus (Samuel Youn) auf und warnt vor einer Auflehnung der Vögel gegen Zeus. Er habe seinen Ungehorsam mit der Strafe bezahlt, dass er an einem Felsen angekettet gewesen sei und ihm der Adler des Zeus täglich die Leber herausgefressen habe. Hoffegut trägt zwar die gleichen Merkmale wie Prometheus, Soldaten-Uniform und eine blutende Wunde an der Seite, kann sich selbst aber zu einer Aktion gegen den geplanten Krieg nicht aufraffen – das Versagen des Künstlers angesichts des totalitären Staates.
Zeus selbst sendet schließlich ein Gewitter mit einer gewaltigen Gewittermusik und einem panischen Chor der fliehenden Vögel, das den Aufruhr der Vögel beendet und den Vogelstaat in alle Winde zerstreut. Desillusioniert bleiben Ratefreund und Hoffegut allein zurück.
Die Musik von Braunfels ist im besten Sinne spätromantisch. Die wunderschönen Melodien der Nachtigall, die lautmalerischen Chöre der Vögel, die recht konventionelle Sprache des Bassbuffos Ratefreund und die hochromantischen Liebesschwüre Hoffeguts , die schmissige Kriegsbegeisterung der aufgestachelten Masse sind rhythmisch vielfältig und anspruchsvoll instrumentiert. Spätestens mit der Einspielung der Musik mit dem Deutschen Sinfonieorchester unter Lothar Kraus 1996 taucht der gut zweieinhalb Stunden lange Zweiakter wieder im Repertoire auf, auch schon 1998 in der Oper Köln in einer Inszenierung von David Mouchtar-Samourai unter der musikalischen Leitung von Bruno Weil.
Mit Perücken, Fliegerbrillen, aufgeplusterten Kleidern und Vogelfüßen verkleidet und vor allem durch die Körpersprache erkennbar bewegen sich die Sänger*innen des Chors der Oper Köln unter der Leitung von Rustam Samedov tatsächlich wie überdimensionierte Vögel mit Trippelschritten und schief gelegten Köpfen auf der Bühne. Der spielfreudige Kölner Opernchor und die Vogelsolisten, allen voran Wolfgang Stefan Schwaiger als König Wiedehopf, wirken in der Tat wie Vögel und unterscheiden sich deutlich von Menschen und Göttern.
Lukas Singer als Adler im schwarzen Offiziersledermantel mit einer Schwinge am Arm singt auch den stimmgewaltigen Zeus, der dem Treiben der Vögel Einhalt gebietet.
Joshua Bloom als Ratefreund, ein international renommierter Bassbariton der Sonderklasse, verführt die Vögel zur Gründung ihres „Wolkenkuckucksheims“ und redet ihnen ein, sie seien Menschen und Göttern überlegen. Er meistert als Rossini-Experte auch die komplizierten Koloraturen, die ihm die Partitur abverlangt, und mutiert mit einem angelegten Flügelarm zum Regierungschef des Vogelstaats. Er nimmt mit seinem Charisma auch das Publikum für sich ein.
Bassbariton Samuel Youn beeindruckt stimmgewaltig als mahnender Prometheus mit seinem flammenden Monolog „Steht ab, ihr Kinder, noch ist Zeit“, der allerdings die dummen Vögel nicht beeindruckt.
Burkhard Fritz als Hoffegut, zuletzt noch als Paul in Korngolds „Tote Stadt“ zu erleben, leidet zwar mit Prometheus – er trägt die gleichen Wundmale und die gleiche Uniform – zieht sich jedoch auf das Private zurück. Sein bezauberndes nächtliches Rendezvous mit der Nachtigall und ihren fünf stummen Doubles, in dem er innigen Kontakt mit der Nachtigall erlebt, stellt seine Erfüllung dar. „Ich habe gelebt“ ist sein Fazit aus dem Ausflug in die Welt der Vögel. Seine Partie als lyrischer Heldentenor verlangt ihm alles ab, sowohl lyrische Kantilenen als auch heldische Ausbrüche.
Ana Durlovski trägt als Nachtigall das ganze Stück, das im Grunde auch um die Suche nach Erfüllung in Schönheit geht. Ihr warmer, weicher lyrischer Sopran mit den Spitzentönen einer Königin der Nacht, die sie 2014 in Köln verkörperte, klingt tatsächlich wie das sehnsuchtsvolle Lied einer Nachtigall, mit dem die Handlung beginnt und auch endet. Ihre wundervollen Vokalisen sind einfach nur hinreißend. Ein nachvollziehbares Objekt der Liebe und des Begehrens für den romantischen Schwärmer Hoffegut!
Das groß besetzte Gürzenich-Orchester ist links von der Bühne aufgestellt, und Dirigent Gabriel Feltz schlägt Funken aus der komplexen polyphonen hochromantischen Partitur mit den vielen Blasinstrumenten als Vogelstimmen. Die Kriegstreiber-Musik und die anschließende Gewittermusik, in der der Vogelstaat untergeht, sind der dramatische Höhepunkt der Oper.
Einen großen Anteil an der Faszination des Stücks hat die Regie von Nadja Loschky, die jeden einzelnen Schritt, jedes Kopfnicken, jeden Gang mit einem kostbaren Ei choreographiert hat und die durch die Schlachtsequenz vor dem Vorspiel einen Bezug zur Zeitgeschichte herstellt. Die Kostüme von Irina Spreckelmeyer und die Bühne von Ulrich Leitner verzichten auf allzu platte Assoziationen, umso allgemeingültiger wird die Fabel. Ein zeitloses Lehrstück!
Leider haben Prometheus und Zeus es 1933 versäumt, den Lauf der Geschichte aufzuhalten. Es ist als hätte Braunfels die Entstehung des NS-Staats vorhergesehen. So regt das Stück zum Nachdenken über die Entstehung totalitärer Staaten, aber auch über die Problematik des Rückzugs ins Private an. Es ist jedenfalls ein vom Publikum zu Recht umjubeltes Gesamtkunstwerk aus Text, Musik, Regie und Darstellung, das Publikum zu Beifallsstürmen hinreißt und als politische Fabel zeitlose Gültigkeit besitzt.
Walter Braunfels, der sich 1923 weigerte, eine Hymne für die nationalsozialistische Bewegung zu komponieren und der 1933 wegen seiner jüdischen Herkunft all seiner Ämter enthoben wurde, wurde jedenfalls von Konrad Adenauer 1945 wieder in sein Amt als Gründungsrektor der Kölner Musikhochschule eingesetzt, wo er noch bis 1954 wirkte. Sein Werk wurde allerdings erst viel später wiederentdeckt. Die Oper Köln führte 2016 „Szenen aus dem Leben der heiligen Johanna“, zwischen 1938 und 1942 entstanden, auf, Bonn 2013 „Der Traum, ein Leben“ aus dem Jahr 1937.
Im Vergleich zu den beiden späteren Werken, die sehr statisch und oratorienhaft wirken und durchaus ihre Längen haben, sind „Die Vögel“ schon wegen der bezaubernden Liebesgeschichte und wegen der Vögel als Darsteller ausgesprochen opulent und kurzweilig – ein veritables Opernvergnügen mit Tiefgang, das vom Publikum mit nicht enden wollendem Applaus bedacht wurde.
- Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Oper Köln / Stückeseite
- Titelfoto: Oper Köln/DIE VÖGEL/Statisterie der Oper Köln, Wolfgang Stefan Schwaiger, Lucas Singer, Anna Malesza-Kutny/Foto © Paul Leclaire