103 Jahre nach der Kölner Uraufführung unter der Leitung von Otto Klemperer am 4. Dezember 1920 dirigiert jetzt der Düsseldorfer GMD Axel Kober in der Inszenierung von Daniel Kramer die „Die tote Stadt“ in der Oper Düsseldorf. Der Heldentenor Corby Welch liefert ein brillantes Psychogramm eines Puppenmachers, der „in effigie“, also rituell stellvertretend, die Puppen, die er von seiner verstorbenen geliebten Frau hergestellt hat, vernichtet, um die Trauer über ihren Tod zu verarbeiten. Musikalisch und szenisch ist die Oper ein fesselndes komplexes Psychogramm auf mehreren Handlungsebenen mit zahlreichen Deutungsmöglichkeiten. Die Umsetzung in Düsseldorf ist szenisch und vor allem musikalisch großartig und regt zum Nachdenken an. (Rezension der Premiere v. 16.04.2023)
Erich Wolfgang Korngold, geboren 1897, wurde berühmt wegen seiner Filmmusik, für die er zwei Oscars bekommen hat. Korngold ist als Wiener Jude in der NS-Zeit 1934 in die USA emigriert. An seine Erfolge als klassischer Komponist konnte er nach seiner Rückkehr 1946 nach Europa nicht mehr anknüpfen.
Korngolds bedeutendste Oper „Die tote Stadt“ hat nach der Uraufführung am 4. Dezember 1920 im Stadttheater Köln und zeitgleich am Stadttheater Hamburg einen Siegeszug durch die Welt angetreten, unter anderem mit Maria Jeritza und Richard Tauber in den Hauptrollen 1921 an der Metropolitan Opera in New York. Sie basiert auf dem 1903 erschienenen Roman „Bruges–la Morte“ des belgischen Symbolisten Georges Rodenbach, der in Brügge spielt. Brügge, die ehemals bedeutendste Handelsstadt Europas wird in diesem Roman als „tote Stadt“ beschrieben.
Die Oper „Die tote Stadt“ entstand in einer Zeit, in der sehr viele einen geliebten Menschen verloren hatten, sei es im Ersten Weltkrieg oder durch die Spanische Grippe, die mehr Tote forderte als der Weltkrieg. Das Thema war also brandaktuell: Wie gehe ich mit der Trauer um einen geliebten Menschen um, wie kann ich vor mir selbst rechtfertigen, mich einer neuen Liebe zuzuwenden?
Textdichter Paul Schott, Pseudonym des Vaters des Komponisten, macht aus dem realistisch erzählten Roman mit einer realen Marietta einen Traum der Hauptfigur Paul, in dem er seine Schuldgefühle gegenüber seiner toten Frau, die er wie eine Heilige in seiner „Kirche des Gewesenen“ mit Reliquien wie ihrem Haarzopf, einer Mandoline und einem Kleid verehrt, verarbeitet. Der amerikanische Regisseur Daniel Kramer macht aus dem begüterten Rentier Paul einen Puppenmacher, der ständig neue lebensgroße Puppen seiner verstorbenen Frau Marie herstellt. Um sich auf eine neue Beziehung einlassen zu können muss er ihre Doppelgängerin umbringen, und genau das geschieht im dritten Akt.
In Daniel Kramers Inszenierung ist Marietta eine lebenslustige Künstlerin, die Paul spontan in seine Wohnung eingeladen hat, weil sie seiner verstorbenen Frau so ähnlich sieht. Sie kennt Maries Lied, das sie so oft gesungen hat – sie nennt es Mariettas Lied – und singt es zur Mandoline seiner verstorbenen Frau. Paul ist bezaubert.
Im zweiten Akt, der in Brügges dunklen Grachten spielt, steht Paul vor der Tür von Mariettas Wohnung. Er muss sehen, dass sie eine Affäre mit seinem Freund Frank hat, den Paul umbringt, um an den Schlüssel zu Mariettas Wohnung zu kommen. Den Leichnam wirft er ins Wasser. Marietta erscheint in einem weißen Sarg, in dem sie mit Künstlerkollegen, unter anderem einem Pierrot, der vom Darsteller seines Freundes Frank gesungen wird, sitzt, die ihr den Hof machen, unter anderem von einem dunkelhäutigen Tänzer, Graf Albert, Victorin und Gaston sowie Lucienne und Juliette, die alle das Lob von Mariettas Charme und ihrer sexuellen Freizügigkeit singen. Paul offenbart sich Marietta, und es kommt zu einem großen Liebesduett der beiden, das dem im 2. Akt von „Tristan und Isolde“ nicht nachsteht.
Im dritten Akt verarbeitet Paul seine Schuldgefühle wegen seiner wilden Affäre mit Marietta in dem Aufmarsch einer großen Prozession mit katholischem Duktus. Eine so treffende Karikatur der katholischen Kirchenmusik mit einem süßen kitschigen Kinderchor kann nur ein jüdischer Komponist mit seinem Gewissen vereinbaren.
Brigitta, seine Haushälterin und Vertraute, gewinnt die Oberhand. Er wehrt Marietta ab, die wieder versucht ihn zu bezirzen und von seinem Totenkult abzubringen. Er wirft ihr vor, dass sie ihre Sexualität auslebt, während Marie eine Heilige gewesen sei – es tun sich Abgründe der Bigotterie auf! Dann will Marietta es wissen: es gibt einen handfesten Krach, in dessen Verlauf er sie erschlägt.
„Jetzt gleicht sie ihr ganz!“ Der Zuschauer ist noch ganz schockiert von der Bluttat, da stellt sich heraus, es war alles nur ein Traum! Paul hat eine seiner Puppen von der toten Marie zerstört. Gleich kommt auch die Frau, die am Vorabend bei ihm ihren Schirm vergessen hat, herein und bedankt sich artig. Die Affäre mit Marietta war ein Traum, Marie ist tot, und der Aufforderung seines Freundes Frank, die tote Stadt zu verlassen, wird er wohl nachkommen. Paul hat endlich Frieden gefunden und sich für eine neue Beziehung geöffnet. Er singt noch einmal Mariettas Lied: „Glück, das mir verblieb,/ Lebe wohl, mein treues Lieb,/ Leben trennt vom Tod, /Grausam Machtgebot./ Harre mein in lichten Höhn,/ hier gibt es kein Auferstehn.“
Im Bühnenbild von Marg Horwell, das Pauls Wohnung mit der „Kirche des Gewesenen“ wie ein Puppenhaus wirken lässt, in dem Maries schönstes Kleid wie an einer Schaufensterpuppe drapiert ist, und die Grachten Brügges tiefschwarz, mit einem Zugang zu Mariettas Haus vom Wasser aus, entwickelt Daniel Kramer starke Bilder und eine schlüssige Personenführung.
Die Psychoanalyse, auch die Traumdeutung, spielt in den Opern der Zeit eine große Rolle. Wie Korngold hier Handlungsebenen und Identitäten vermischt – wo ist die Person noch real, wo ist sie nur ein Traumbild? – und dem Zuschauer die Männerphantasien von Verführung und Promiskuität, von Dominanz und Unterwerfung bietet, den Zuschauerinnen die weiblichen Identifikationsfiguren Brigitta oder Marietta, den Bigotten das christliche Brimborium und allen die opulente Nebenhandlung mit den Künstlerinnen und Künstlern vom Theater, zeugt von Korngolds früher Meisterschaft. Die Oper traf 1920 den Nerv der Zeit und wurde bis 1929 weltweit sehr viel gespielt.
Axel Kober, Generalmusikdirektor in Düsseldorf, leitet die Premiere dieser spätromantischen Oper mit den Düsseldorfer Symphonikern mit großem Feingefühl. Er gewinnt der Partitur die opulentesten Farben ab und achtet darauf, dass die Sängerinnen und Sänger vom Orchester nicht übertönt werden. Bei den Vorspielen entfacht er die volle Kraft des groß besetzten Orchesters. Man merkt, dass Korngold die Instrumentierung nicht nur von Richard Strauss, sondern auch von Puccini abgeschaut hat. Der Chor hat diesmal nur eine kleine aus dem Off gespielte Szene. Die paar Takte religiöser Prozessionsmusik wird vom Düsseldorfer Knaben- und Mädchenchor eingespielt.
Corby Welch mit seiner kräftigen körperlichen Präsenz gibt den Paul als empfindsamen Romantiker, aber auch als aufbrausenden Choleriker, ja, Mörder, der an den Ansprüchen, die er an sich selbst stellt, reift. „Die Tenorpartie erfordert eine ähnliche Kraft wie Wagners Siegfried, ist dabei aber noch exponierter, und liegt zum Teil deutlich höher. Das muss man sehr behutsam mit dem Orchester ausbalancieren“, so Axel Kober. Das ist ihm und Corby Welch in vollem Umfang gelungen. Die Partie des Paul ist musikalisch, aber auch vom schieren Umfang und von der schauspielerischen Seite wohl die anspruchsvollste Partie für einen Tenor, die es gibt. Corby Welch ist ein phantastischer Schauspieler und entfaltet darüber hinaus berückende lyrische Kantilenen und heldische Ausbrüche. Seine delikaten Piani auf Spitzentöne sind auch im letzten Winkel des Hauses noch zu hören.
Ebenso schwierig ist die Sopranpartie der Marie und der Marietta, die ja eigentlich nur in der Pauls Fantasie existiert. Nadja Stefanoff, tanzt, kokettiert, begehrt, dominiert, zickt rum, und sie bewältigt die lange Partie in sehr hoher Tessitura mit großer Umsicht. Man hat Mara Guseynova ein paar Takte der als Geist in Pauls Fantasie auferstanden Marie gegeben. Mariettas Lied: „Glück, das mir verblieb“, das sich zum Duett mit dazwischen gestellten Rezitativen entwickelt, ist der große Hit dieser Oper. Dass Paul es am Ende noch einmal zitiert sorgt dafür, dass man es nie wieder vergisst.
Die Vorgeschichte erzählt Anna Harvey als Pauls bigotte Haushälterin, die aus Frustration über Pauls Affäre mit Marietta ins Kloster geht. Die Stimme der Vernunft und alter Ego Pauls verkörpert Emmett O´Hanlon als Pauls Freund Frank und Schauspieler Fritz mit seinem noblen und ausdrucksstarken Bariton. Sein Walzerlied: „Mein Sehnen, mein Wähnen“, das er als Fritz singt, ist der zweite Hit der Oper. Es wird später noch einmal von Marietta zitiert. Die Rollen der Artistentruppe (Anna Sophie Theil, Alexandra Yangel, Stefan Cifolelli, Florian Simson und Chidozie Nzerem) sind aus dem Ensemble opulent besetzt.
Das Premierenpublikum spendete enthusiastischen lange anhaltenden Beifall. „Die Toten schicken solche Träume, wenn wir zu viel mit ihnen leben“, ist Pauls Erklärung für seinen wilden Traum. Er hat in diesem Traum den Verlust seiner geliebten Frau verarbeitet. Mich haben in dieser Produktion vor allem die Protagonisten Corby Welch und Nadja Stefanoff beindruckt, die sämtliche Facetten von Liebe und erotischer Besessenheit ausgespielt haben, und die Düsseldorfer Symphoniker unter Axel Kobers Dirigat.
- Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Deutsche Oper am Rhein/Düsseldorf/Stückeseite
- Titelfoto: Dt. Oper am Rhein/DIE TOTE STADT/ Foto @ Sandra Then