„Sensationell!“ – „Immerhin war er nicht nackt!“. Entsprechend der unterschiedlichen, lautstark geäußerten Publikumsmeinungen bei Erscheinen der Regisseurin Marie-Ève Signeyrole auf der Bühne fallen auch die Diskussionen beim Verlassen des Saals nach der Macbeth-Premiere an der Deutschen Oper Berlin aus. Während sich Letzteres mit großer Sicherheit auf einen Darsteller mit Hirschmaske bezieht, gäbe es gleich ein paar Kandidaten für ersteres Lob. Ob die Regie allerdings dazugehört, ist äußerst streitbar. (Rezension der Premiere v. 23.11.2024)
Die große Innovation, die die Inszenierung in den ersten zehn Minuten gebiert und doch an selbiger scheitert, sind Macbeths Hexen. Sie erinnern an Siri, Alexa, Cortana: weiblich und wieder doch nicht. Sie imitieren das vom Menschen als weiblich Empfundene und sind doch KI-Systeme datenhortender Großkonzerne – oder eben bärtig, wie Banquo spottet. Die Technologie, dieses Ober-Internet, stellt sich jedenfalls mit einem kleinen Sprechtext (vorgetragen von Dana Marie Esch) vor Beginn der Ouverture nach eigenen Angaben als allwissend vor und prophezeit Macbeth sogleich den Aufstieg zum schottischen Thron.
Die göttlichen Prophezeiungen unserer Zeit geschehen nicht mehr in Delphi und die dämonischen Wahrsagungen nicht mehr auf nebligen schottischen Schlachtfeldern, sondern vor dem Computer. Längst sagen uns KI-Systeme voraus, was etwas werden wird, dessen Umrisse wir noch nicht erkennen können, wie in dieser Studie zur Früherkennung des Risikos von Bauchspeicheldrüsenkrebs. Voraussagungen unserer Werdegänge scheinen zumindest in unserer Zukunft durchaus möglich zu werden. So kommt das bekannte Problem, unter dem bereits Ödipus litt, problemlos im 21. Jahrhundert an: was tun, wenn das eigene Schicksal angekündigt wird? Wählt man Option A: schnurstracks die Prophezeiung erfüllen, oder B: das Vorausgesagte tunlichst vermeiden wollen und damit veranlassen, dass es haargenau erfüllt wird (und am Ende sehr wohl seine eigene Mutter heiraten)? Macbeth, sozusagen der Anti-Ödipus der Theaterwelt, entscheidet sich mithilfe seiner Gattin für Option A. (Die Verfolgung von Option C, schlichtes Ignorieren, darf sich offenbar nie entfalten, oder wird zumindest durch die Entscheidung zu A oder B eines Anderen verhindert. So fällt auch Banquo Macbeths Entscheidung zum Opfer).
Beides ist heikel, A wie B. Altgriechische Konzepte von göttlichem Willen und menschlicher Selbstbestimmung in Letzterer einmal beiseite, lässt Option A die Möglichkeit offen, dass es sich bei der Prophezeiung tatsächlich nur um eine in den Raum gespuckte Wortkette mit keinerlei Gewicht handelt, die der Empfänger der Prophezeiung nun nutzt, um unmoralische Handlungen zu vollziehen, die ihm sonst nie in den Sinn gekommen wären – wäre da nicht ein willkürlich erfundener Satz, an den er nun glaubt. Am Ende bleibt die quälende Frage, ob das Wort am Anfang nicht eigentlich egal ist – und einzig das eigene Handeln zählt, das Geschehene.
Diese eigentlich herrliche Hammerfrage unserer Zukunft ergibt sich zwangsläufig aus dem dieser Hexen-als-KI-Analogie. Doch ob die Regie sich dessen bewusst ist, bleibt unklar. Tatsächlich findet sich im Programmheft eine Seite über die orchestrale „Omnipräsenz der Hexen“ von Kerstin Schüssler-Bach, aber die Regie unter Marie-Ève Signeyrole scheint vorrangig an etwas anderem interessiert zu sein: nämlich Hirschen. Es ist ihr Gesuch, in den folgenden Szenen so viele Hirschmotive unterzubringen wie möglich. Das hat Bezug zur Geschichte, ist der Hirsch doch der König des Waldes; er schreitet erhaben, ruhig und mächtig, doch ist er auch ein Gejagter, eine geliebte Trophäe eines Bewaffneten. So jagt Macbeth König Duncan, ermordet ihn mit einer Geweihspitze in die Halsschlagader gespießt (ohnehin wird in dieser Inszenierung mit Hingabe in sämtliche Hälse gestochen und geschnitten), so wird Macbeth schließlich auch gejagt von seiner eigenen Paranoia und so jagt sein Tyrannendasein König Macbeth von Schottland in den Tod. Ein hohler Hirschschädel hängt in Duncans Gästezimmer, während ein großes Foto eines quicklebendigen Hirsches im Kinderzimmer des Ehepaares Macbeth prangt, das unter seiner Kinderlosigkeit leidet – hier ist der Todgeweihte, dort die Zukunft. Freilich übertreibt es die Regie damit zunehmend (Banquo und Familie feiern Kindergeburtstag in Hirschmasken). Zusammenhänge mit dem Ober-Internet, den Hexen, hat das aber nicht. Merke: wenn man kurz vor knapp zwei Symbole nebeneinander auf die Bühne stellt, erschafft sich nicht zwingend eine Verbindung zwischen beiden.
Dazwischen mischen sich allzu viele Ablenkungen: häufige Live-Kameraverfolgung (Kamera: Kathrin Krottenthaler), die einige nette Details offenbart (Lady Macbeth trägt eine Jacke mit silbernen Skeletthänden als Offiziersklappen; Kostüme: Yashi) aber sonst kaum dient, überflüssige Episodentitel vor jedem Akt mit eingeblendeten Zusammenfassungen, dessen Eigenheiten man auf der Bühne nicht wiedersieht. Wo in der Szenerie ist ersichtlich, dass König Macbeth die umkämpften Ölkonzerne Schottlands wieder privatisiert hat? Die angedachte Deko beschwert ein Konzept, das seine eigenen Aktualitätsbezug verkannte. Anspielungen auf Spermien und Fehlgeburten in der zweiten Hälfe sind nun eindeutig ein Schnaps zu viel.
Roman Burdenko liefert in der Titelrolle einen lebhaften, kraftvollen Bariton, voll und dicht im Klang bis in die Höhen und durchweg ohne Erschöpfung, der sowohl den hochrangigen Emporkömmling energisch nachzeichnet als auch in weicheren Passagen wie „Pietà, rispetta, amore…“ hingebungsvoll ein Herz andeutet, das irgendwo im Brustkorb noch warmblütig schlägt und – vielleicht die ganze Zeit schon – eine ganz bestimmte Anerkennung sucht. In einer anderen Inszenierung, einer, die sich wahrlich dem Charakter dieser Figur Macbeth annimmt, könnte er auf ganzer Linie brillieren, sind die darstellerischen Anlagen dafür doch sichtlich vorhanden, die die zunehmend abrutschenden Verstand des Königsmörders offenbaren. Felicia Moore bleibt trotz üppigem Sopran eher solide, fehlt ihr doch teils die Fähigkeit, die Bühne eisern zu ergreifen, ganz zu beherrschen mit dieser faszinierend abgründigen Figur der Lady Macbeth. Doch in der großen Schlafwandelszene, „Gran scena della sonnambula“, blüht sie in den sanften Piani plötzlich auf – Sonnenuntergangsschönheit einer Stimme in ihrer letzten Szene.
Marko Mimica als Banquo tönt wunderbar geschmeidig mit Durchschlagskraft; Attilio Glaser erschafft in seiner einzigen Arie „Ah, la paterna mano“ ganz ohne laute Töne den Klang einer uferlosen Verzweiflung als Macduff, herumirrend zwischen Choristen, seine tote Frau im Arm während des vorangegangenen (im Übrigen fantastischen) „Patria oppressa“ des Chors der Deutschen Oper Berlin. Malcolm (strahlend: Thomas Cilluffo) bietet da immerhin einen kleinen Hoffnungsschimmer.
Auch aus dem Graben tönt Gutes: Enrique Mazzola wahrt das Leichtfüßige in der Verdi-Tragödie, ohne an Gravitas einzubüßen, nimmt sich Zeit, bereitet den Geräuscheteppich samtig aus, lässt erst am Ende aufdrehen. Leise, aber sehr deutliche Trommelwirbel reichen schon, um zusammen mit dem wortdeutlichen Chor in „Sparve il sol“ die musikalische Atmosphäre herumhuschender Mörder zu zeichnen. In den Beginn der Bankettszene schleicht sich durch das Blech eine leicht militärische Note ein und unterstreicht die machtpolitischen Untertöne dieser Gesellschaft, während eine Flöte angesichts Lady Macbeths heuchlerischem Brindisi in absteigenden Akkorden glucksend kichert.
Und am Ende – passiert, was in der Oper sonst selten passiert: zwei Tenöre retten die Welt. Der Statist mit Hirschkopf (Pierre Emö) als lebendiges Symbol verhakte sich im Übrigen vor der Verbeugung – welche offenbar mit Maske auf dem Kopf erfolgen sollte – in der Seitenbühne und hängt für einen kurzen Moment fest. Eine Situation, die man niemandem wünschen möchte, und dennoch sinnbildlich für diese Inszenierung: die Regie belud sich mit zu viel Deko und verhakte sich in sich selbst.
- Rezension von Lynn Sophie Guldin / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Deutsche Oper Berlin / Stückeseite
- Titelfoto: Deutsche Oper Berlin/MACBETH/Foto © Eike Walkenhorst