Die Neuinszenierung der dreiaktigen Oper „Die Frau ohne Schatten“ bildet den Schwerpunkt der diesjährigen Richard-Strauss-Festtage der Semperoper Dresden. (Rezension der Premiere vom 23. März 2024)
Ungeachtet des diffizilen Opernsujets und seiner lang antizipierten Ausführung wiegte an diesem Abend vor allem eine Tatsache besonders schwer: Es ist Thielemanns letzte Premiere an der Semperoper. Der Chefdirigent dieser so prestigeträchtigen Staatskapelle hat die letzten 14 Jahre in Dresden auf ganz eigene Weise geprägt, mitgestaltet und für seine Vorstellungen stets ein begeistertes Publikum von nah und fern in die Elbmetropole gelockt – zurecht muss man sagen: Eine Ära geht nun zu Ende.
Und welche Oper wäre eine bessere Wahl als Abschiedswerk, als Richard Strauss‘ eigenstes, rätselhaftestes und zugleich musikalisch vielseitigstes Werk – Die Frau ohne Schatten? Das Musikdrama gilt als das für ein Orchester, wie auch für die Gesangsstimmen gleichermaßen, herausforderndste Bühnenwerk des Komponisten Richard Strauss. Das hierbei vordergründig märchenhaft anmutende Geschehen einer symbolisch überfrachteten Welt, gefüllt von Gleichnissen und Parabeln, gibt auch über einhundert Jahre nach seiner Uraufführung noch Rätsel auf. Die kinderlosen und von ihren Partnern geringgeschätzten Frauengestalten der Kaiserin und Färberin wurden dabei genauso oft schon missverstanden, wie szenisch fehlinterpretiert. Ein Regiekonzept kann sich zwangsläufig nur auf einzelne Aspekte der Dichtung fokussieren, in seiner Vielseitigkeit und Tiefe ist das Werk auf der Bühne vollumfänglich kaum zu durchdringen.
Nun hat es sich der Regisseur David Bösch in seiner Dresdner Neuinszenierung hinsichtlich Interpretationen problematischer Libretto-Thesen der Frau ohne Schatten sehr leicht gemacht, indem er die komplexe Mutter-Mensch-Werdungs-Symbolik szenisch nicht weiter interpretiert, sondern diese in ihrer Kontroverse konsequent ignoriert. Zum Schlussgesang offerierte Bösch einen Plottwist mit vertauschten Partnern und ließ dabei durchblicken, die verschwurbelte Philosophie sowieso mit einem Augenzwinkern zu verstehen – um sich lieber am Bombast des Werks zu erfreuen.
In seiner unnachahmlichen Erzählart schuf Bösch einen scharfen Kontrast zwischen fantastischer Märchenwelt (oben) und der grausamen Färbers-Realität der Menschen (unten) in klarer, deutlicher Bildsprache. Der Regisseur fokussierte sich dabei auf den fantastisch-übermenschlichen, gar magisch, mythologisch-märchenhaften Rahmen der Dichtung. Die eindrucksvollen, sich ständig bewegenden Bühnenbilder von Patrick Bannwarst – mit einem übergroß, bedrohlichen Falken, neben den realitäts- wie fantasievollen Kostümen von Moana Stemberger – wussten das Publikum zu überzeugen: Böschs Verzicht auf psychologisches Klein-klein, dabei seine versierte, mit Witz und Emotionen gespickte Personenführung, ermöglichte actionreiches, handwerklich exzellent ausgearbeitetes Musiktheater. Unter jeglichem Verzicht auf Buhrufe dankte das Publikum mit einhelligem Jubel und Standing Ovations.
Die von Richard Wagner eins als Wunderharfe bezeichnete Sächsische Staatskapelle Dresden brachte unzählige Strauss-Werke zur Uraufführung und pflegt diese mit ihrer einmaligen Aufführungs- und Klangtradition bis heute. Die Rezeptionsgeschichte der Frau ohne Schatten, uraufgeführt an der Wiener Staatsoper und eben nicht in Dresden, wurde jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund der zerstörten Semperoper vornehmlich in München oder eben mit den Wiener Philharmonikern geprägt. An diesen Orten entstanden Referenzaufnahmen sowie mustergültige Aufführungen. Erst ab dem Jahre 1996 fand die Frau ohne Schatten dank des Einsatzes von Giuseppe Sinopoli auch ihre adäquate Würdigung durch die Staatskapelle Dresden. Von den zahlreichen Strauss-Aufführungen unter Sinopolis musikalischer Leitung, die letzte gar wenige Tage vor seinem Tod im Jahre 2001, schwärmt das dortige Opernpublikum noch heute.
Für Christian Thielemann, welcher mitunter als bedeutendster Strauss-Dirigent der Gegenwart angesehen wird, bedeutet diese Premiere der Frau ohne Schatten – ähnlich wie damals schon für Richard Strauss und seinen Librettisten Hugo von Hofmannsthal – auch das Ende einer Ära: Während dieses Magnum Opus für das Duo Strauss/Hofmannstahl die „letzte romantische Oper“ darstellte, sollte es für Thielemann die letzte Oper als Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle Dresden sein. Thielemann, der einst als Sinopolis Assistent und Korrepetitor den Grundstein seiner Karriere legte, vermochte in dieser Aufführung die damalige Symbiose der Staatskapelle zu Strauss‘ Frau ohne Schatten würdevoll weiterzuspinnen. Seine interpretatorische Auffassung des Werks blieb selbstredend eine andere, immerhin stand die Vorgängerinszenierung seit dem Jahre 2007 auch nicht mehr auf dem Spielplan der Semperoper. Der sich selbst als Kapellmeister bezeichnende Thielemann navigierte souverän und in agilen Tempi durch die komplexe Partitur, schichtete dabei gekonnt die Klangmassen auf und ab und betonte in ganz großen Spannungsbögen die musikalischen Höhepunkte des Dramas. Faszinierend, wie er dabei ungeahnte ruhige und harmonischen Klänge dieser ansonsten so wuchtig anmutenden Instrumentation zu entlocken wusste. Man merkte Thielemann förmlich an, wie sehr er die Tiefe der Partitur ergründend es liebte, im Strauss-Sound seiner Staatskapelle zu schwelgen. Er schien die Komposition ins letzte Detail verinnerlicht zu haben, einiges führte er in spontaner Intuition aus und fabrizierte so ein Strauss-Dirigat allererster Güte.
Das festspielwürdige Ensemble auf der Bühne wurde von Thielemann musikalisch auf Händen getragen. Mit feinsinnigem Gespür reagierten die Sängerinnern und Sänger gekonnt auf die kleinste seiner unzähligen Tempi- und Dynamikänderungen. Allen voran die in der Titelrolle als Frau ohne Schatten brillierende Camilla Nylund, jene Kaiserin, welche ihr eigenes, als auch das Schicksal des Färberpaars zu lösen hat. Nylund zeichnet in vokaler Hinsicht eine langjährige und vertrauensvolle Partnerschaft mit Christian Thielemann aus, dessen sichere Führung sie stets zu neuen stimmlichen Höchstleistungen anspornt. So wusste sie ihre leidenschaftliche Darstellung stets sicher in den Orchesterklang gebettet zu wissen. Anfangs kokettierte die Sopranistin in flattrig-luftigen, unschuldig anmutenden Koloraturen, um dann im großen Melodram des dritten Akts mit einer alle Grenzen ihrer Stimme ausreizenden Intensität über sich hinaus zu wachsen. Ihre ergreifende, hingebungsvolle und aufopfernde Charakterisierung der Kaiserin sucht wahrlich ihresgleichen. Eben aufgrund ihrer versierten Gesangstechnik, die ihre Stimme gar in den dramatischsten Ausbrüchen noch abgerundet und sicher erklingen lässt, geraten Nylunds Strauss-Interpretationen immer wieder zur Sensation.
An ihrer Seite glänzte in seinen beiden großen Soli-Auftritten als Kaiser Eric Cutler mit einer in der Höhe sicheren, hellen-sinnlichen und mit lyrischen Akzepten versehenen Tenorstimme.
Evelyn Herlitzius gilt als eine der expressivsten und aufregendsten Strauss-Sängerinnen überhaupt. Vor knapp zwanzig Jahren verkörperte sie an der Semperoper in der Vorgängerinszenierung noch die Partie der Färberin. Nun kehrte sie in der noch umfangreicheren, etwas tiefer angelegten Rolle der Amme zurück. Herlitzius exaltierte markerschütternd-gleisende Stimme, gepaart mit ihrer eindrückliche Mimik, ließ das Strauss-Musikdrama zum Ereignis sondergleichen werden.
Miina-Liisa Värelä eroberte mit ihrer Paraderolle als Färberin in Windeseile die großen Opernbühnen in München, Frankfurt oder zu den Osterfestspielen der Berliner Philharmoniker des Festspielhauses in Baden-Baden. Ihre Darstellung der Färbersfrau mit einer voll Wärme und Empathie gefüllten Sopranstimme ist eine angenehme Ergänzung zu der oft als keifend charakterisierten – und so missverstandenen – jungen Menschenfrau. Värelä gelang es, all die Emotionen von Abscheu und Verzweiflung, aber schließlich auch der Liebe und Zuneigung, in die Klangschönheit ihrer Stimme zu legen.
Dem bislang im deutschen Fach wenig in Erscheinung getretenen Oleksandr Pushniak gelang mit seinem Haus- und Rollendebüt die Überraschung des Abends. Mit sonorer, sowie klangfarbenreicher Baritonstimme bot er bei klarer Artikulation und mit großer darstellerischer Spielfreude eine souveräne Idealverkörperung des Färbers Barak.
Auch die kleineren Partien des Werke warteten mit einer für Festtage angemessenen Besetzung auf: Der imposant wie bedrohlich klingende Andreas Bauer Kanabas als Geisterbote neben der schmelzend-klangschönen Tenorstimme eines Martin Mitterrutzners als Jünglings-Erscheinung und die eine Mozart’sche Leichtigkeit versprühenden Nikola Hillebrand, als Hüter der Schwelle des Tempels, vollendeten das Spitzenensemble dieser Neuinszenierungspremiere.
Die erst im vergangenen Jahr ins Leben gerufenen Richard-Strauss-Tage der Semperoper scheinen mit Christian Thielemanns Abschied als Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle Dresden erst einmal zu pausieren. Das ist sicherlich auch folgerichtig, denn ein höheres musikalisches Niveau könnten sie nach dieser aufregenden und musikalisch vollendeten Strauss-Premiere der Frau ohne Schatten auch gar nicht mehr bieten.
- Rezension von Phillip Richter / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Semperoper Dresden / Stückeseite
- Titelfoto: Semperoper/FRAU OHNE SCHATTEN/Camilla Nylund (Die Kaiserin); © Semperoper Dresden/Ludwig Olah