„Das ist doch Virginia Woolf!“ denkt man, als die Schriftstellerin mit dem Haarknoten und dem schlichten blauen Kleid auftritt. Als Leserin weiß man natürlich, dass Virginia Woolf 1928 einen großen Roman „Orlando – eine Biographie“ veröffentlicht hat, in dem die Titelfigur vom England der Renaissance bis ins Jahr 1928 lebt und sich nach einer Liebesaffäre mit Sasha, einer russischen Gräfin, über Nacht in eine Frau verwandelt, die einen Kapitän heiratet und mit literarischen Größen der 1920-er Jahre gesellschaftlich verkehrt. Der Orlando der Zauberoper „Orlando“ von Georg Friedrich Händel könnte dieser Orlando sein – ein literarisches Konstrukt. (Besuchte Vorstellung am 26. November 2024)
In der Inszenierung von Rafael R. Villalobos, die die Oper Köln jetzt vom Festival Perelada 2021 übernommen hat, fand am 17. November 2024 im Staatenhaus 2 die Premiere der stilisierten mehrschichtigen Handlung mit der Musik von Händel aus dem Jahr 1732 statt. Ein riesiger dreieckiger Spiegel über der Bühne reflektierte die Vorgänge, und Dorinda alias Virginia Woolf war gleichzeitig Beteiligte in der Menage à trois mit dem Liebespaar Angelica und Medoro. In dieser Konstellation singen drei Sängerinnen ein ganz bezauberndes Terzett; beide Sopranistinnen sind in Medoro, der von einer Mezzosopranistin gesungen wird, verliebt. Dem Programmheft entnimmt man, dass bei dem Liebespaar Angelica – Medoro die lesbischen Schriftstellerinnen Vita Sackville-West und Violet Trefusis der 1920-er Jahre im Fokus der Inszenierung standen.
Der „rasende Roland“ aus der Versdichtung „Orlando furioso“ des Ludovico Ariosto aus dem Jahr 1516 ist eigentlich ein Krieger, der in die Sarrazenenkriege seines Onkels, des Kaisers Karl des Großen, verwickelt ist. Gendertypische Tätigkeit der Männer dieser sozialen Schicht ist das Kriegshandwerk oder das Werben um Frauen. Ähnlich wie Ruggiero aus Händels „Alcina“ ist Orlando durch Liebeswirren vom Kriegshandwerk abgelenkt.
„Orlando“, Händels erste wie auch „Ariodante“ und „Alcina“, nach Ludovico Ariostos Versepos „Orlando furioso“ 1732 komponierte Oper, ist drei Jahre vor seiner „Alcina“ noch ohne Ballett und Chor geblieben. Es ist ein Fünf-Personen-Stück, bei dem die Darstellung des Wahnsinns des Titelhelden weit über die musikalischen Mittel der Zeit hinausgeht. Händel hat dem Mezzo-Kastraten Francesco Bernardi, genannt Senesino, die Rolle des verliebten und vor Eifersucht rasenden und schließlich wahnsinnig gewordenen Feldherrn Orlando auf den Leib geschrieben.
Der Zauberer Zoroastro liest in den Sternen, dass der einstige Held Orlando seinen Ruhm wieder erlangen wird. Orlando ist von der Liebe zu der wunderschönen Prinzessin Angelica besessen, die sich allerdings während Orlandos Abwesenheit in Medoro verliebt hat. Auch Dorinda ist verliebt in den androgynen Jüngling Medoro, macht sich jedoch keine Hoffnung. Als Medoro und Angelica abreisen schenken sie Dorinda einen Ring.
Dorinda beklagt Orlando gegenüber ihren Liebesschmerz um Medoro. Orlando erkennt an Dorindas Finger den Ring, den er Angelica einst geschenkt hat und durchschaut Angelicas Verrat. Blind vor Eifersucht beschließt Orlando, Angelica zurückzuerobern, wobei er sich dafür auch das Leben nehmen würde. Medoro sinniert über die Liebe und schreibt dies nieder. Angelica sieht ein, dass sie Orando gegenüber undankbar war, kann aber ihrer Liebe zu Medoro nicht entsagen. Orlando findet Medoros Schriftstück und rast vor Wut. Er glaubt, die Unterwelt habe ihm seine Geliebte gestohlen und verfällt dem Wahnsinn.
Medoro sucht Zuflucht bei Dorinda und gesteht ihr das Verhältnis mit Angelica. Orlando trifft in seinem Wahn auf Dorinda und erklärt ihr seine Liebe. Dorinda begreift, dass Liebe nicht nur Glück, sondern auch Wahnsinn auslösen kann. Zoroastro will Orlando heilen, der Angelica angreift, aber bevor er sie verletzen kann, versetzt ihn Zoroastro in einen tiefen Schlaf, aus dem er geheilt erwacht. Orlando findet sich damit ab, dass die begehrte Prinzessin Angelica eine Partnerschaft mit dem von einer Altistin dargestellten Jüngling Medoro eine Verbindung eingeht und seine Liebe verschmäht.
Er akzeptiert die Liebe von Angelica und Medoro, denkt über sein Handeln nach, und verkündet den Sieg der Liebe über sich selbst. Alle stimmen in das Lob auf die Liebe ein.
Das Bühnenbild von Emanuele Sinisi ist sehr karg, bis auf einen Schreibtisch mit Büchern und ein ausklappbares Bett dominiert ein großer dreieckiger Spiegel schräg über der Bühne die Szene. Die Kostüme sind zeitlos-modern, wobei Dorinda in Kleidung und Frisur der Dichterin Virginia Woolf entspricht, die ihren Roman „Orlando“, nach der Wiederentdeckung der Oper „Orlando“ bei den Händel-Festspielen 1922 in Halle veröffentlicht hat. Woolf war eng befreundet mit der lesbischen Autorin Vita Sackville-West, die in Männerkleidung mit der Autorin Violet Trefusis eine lesbische Liebesaffäre in der Londoner Gesellschaft zelebrierte. Medoro könnte Vita Sackville-West entsprechen und sowohl Dorinda als auch Angelica in eine Frau verliebt sein, die als Mann verkleidet auftritt. Im einzigen Terzett der Oper löst sich die sexuelle Identität der beiden Frauen und Medoros in Mehrdeutigkeit auf, da in Wirklichkeit drei Frauen singen. Man hat Mühe, den Überblick zu behalten.
Orlando ist an diesem Dreiecksverhältnis, das von Dorinda und Medoro schriftlich reflektiert wird, gar nicht beteiligt. Er schwankt zwischen Liebesleidenschaft und Ruhmsucht und wird vom Wahnsinn – einer bipolaren Störung – betroffen, so dass er ein außergewöhnlich bereites Spektrum an Emotionen bis hin zur Schizophrenie ausdrücken muss, die alle den Rahmen des Schemas Rezitativ – da-Capo-Arie sprengen, sondern in nie vorher so komponierte Ariosi und Accompagnati gefasst sind. Es drängt sich die Vermutung auf, dass die Figur Orlando nur eine Erfindung der Figur Dorinda alias Virginia Woolf ist, die ihre eigene bipolare Störung verarbeitet.
Unter der Leitung des Barockexperten Rubén Dubrovsky gestaltete der Countertenor Xavier Sabata die anspruchsvolle Partie des Titelhelden mit den extremen Affektzuständen, die er bereits 2021 beim Festival in Perelada kreierte. Sein samtiger Mezzo-Countertenor irritiert, denn es ist eine Frauenstimmlage im Männerkörper, mit kräftiger Kopfstimme gesungen. Der dottergelbe Anzug mit langem Faltenrock über der Hose und weißem Hemd erinnert einerseits an Renaissancekostüme, deutet aber auch auf Weiblichkeit. Der kernige Bass Gianluca Buratto als Gast fungierte als Deus ex machina und Ordnungsmacht Zoroastro, der Orlando heilt. Die wundervolle Adriana Bastidas-Gamboa lieh ihren warmen Mezzosopran dem Liebhaber Medoro bzw. der als Mann verkleideten Lesbe Vita Sackville-West. Ihr maigrünes Hosenensemble erinnerte anfangs an ein historisches Kostüm eines jungen Mannes, dann aber, als sie ihre Haare auflöste, erschien sie als Frau, die sie ist, die sich als Mann verkleidet. Giulia Montanari war die attraktive Prinzessin Angelica mit geläufigen Koloraturen und superben Spitzentönen alias Violet Trefusis. Dorinda, die glücklos liebende Schäferin und Chronistin Virginia Woolf wurde von Maria Koroleva mit nachtigallenschönem lyrischem Koloratursopran gesungen.
Die Geschlechtergrenzen wurden in der Figur Medoro alias Vita Sackville-West völlig aufgelöst, und aus der heterosexuellen Liebesaffäre Medoro – Angelica wurde in der Phantasie die lesbische Ménage à trois Virginia, Vita und Violet, die über das Orlando-Manuskript miteinander verbunden sind. Die Konstruktion von Realität durch Schreiben und Beschreiben von Zuweisungen, die eigentlich nicht möglich sind, wird hier problematisiert.
Musikalisch war die Produktion eine Sternstunde. Das Gürzenich-Orchester war mit modernen Instrumenten besetzt, ergänzt um Laute, Theorbe und Cembalo, und spürte unter der Leitung von Rubén Dubrovsky den Emotionen der drei Sängerinnen, vor allem aber des Sängers des Orlando, in den subtilsten Schattierungen von Hingabe, Eifersucht und Wut bis hin zur musikalischen Darstellung einer bipolaren Störung nach. Der Countertenor Xavier Sabata vermittelte einen Eindruck davon, welche Bühnenpräsenz der Orlando der Uraufführung 1732 gehabt haben mag.
Wenn man sich auf die mehrschichtige Zuweisung von Identitäten einlässt, erlebt man eine spannende Reflektion der Konstruktion von Realität durch Literatur und Musik, vor allem eine Auflösung von Geschlechtergrenzen. Wenn man sich nur mit Dorinda identifiziert, durchleidet man empathisch die Frustration eines verwöhnten Kriegshelden, der nicht die Frau bekommt, die er haben will, und der darüber den Verstand verliert. Die zweidreiviertel Stunden Aufführungsdauer boten in jedem Fall spannendes Musiktheater mit Denkanstößen über die Liebe zwischen Menschen unabhängig von Geschlechtergrenzen.
- Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Oper Köln / Stückeseite
- Titelfoto: Oper Köln/ORLANDO/Adriana Bastidas-Gamboa, Xavier Sabata/Foto © Sandra Then