Spannendes Musiktheater: „Miranda“ von Henry Purcell in der deutschen Erstaufführung der Oper Köln gefeiert

Oper Köln/MIRANDA/Ensemble/Foto © Sandra Then

Die Trauerfeier für die ertrunkene Miranda, deren Leiche man nicht gefunden hat, nimmt eine unerwartete Wendung. Im Stil der Aufführungen von Shakespeares Stücken mit Bühnenmusik von Henry Purcell im 17. Jahrhundert mit Prolog, Masque – einer Art Pantomime – als Mittelteil und zu durchkomponierter Musik gesprochenem Text wird aus dem Trauergottesdienst in einer modernen Kirche, wie ihn jeder schon erlebt hat, ein spannendes Drama. In die Trauergesellschaft platzt eine verschleierte Braut. Es ist Miranda, die mit ihrem dominanten Vater abrechnet und ihn mit einer Pistole bedroht. (Rezension der Premiere v. 02.10.2022)

 

Shakespeares „The Tempest“ – „Der Sturm“, aus der Sicht Mirandas als Emanzipationsdrama dargestellt, mehr noch, inszeniert, wird hier erzählt. Es ist die deutsche Uraufführung einer neu geschaffenen Oper mit Musik von Henry Purcell und anderen Komponisten seiner Zeit, die nach einem Libretto von Cordelia Lynn von Raphaël Pichon und Miguel Henry arrangiert und von Katie Mitchell inszeniert wurde. Die Einstudierung der Koproduktion der Opéra Comique Paris mit dem Théatre de Caen, der Opéra National de Bordeaux und der Oper Köln übernahm Eloise Lally. Die Uraufführung war am 25. September 2017 in Paris.

Im Bühnenbild von Chloe Lamford, einer modernen Kirche, in der sich die Trauergemeinde mit dem katholischen Priester versammelt hat, nimmt das Gottesdienstritual seinen Lauf. Das Publikum weiß aus dem Vorspiel, dass Miranda lebt und die Absicht hat, ihre Sicht der Dinge darzustellen. Mirandas Vater Prospero und ihr Witwer Ferdinand sprechen Worte zum Gedenken an die teure Verstorbene, ihr etwa 12-jähriger Sohn Anthony singt ein ergreifendes Trauerlied. Da erscheint plötzlich unter mysteriösen Umständen eine verschleierte Braut mit drei maskierten Schauspielern – einem deutlich jüngeren Prospero, der jungen Miranda und dem jungen Ferdinand, die die Handlung des „Sturms“ aus Mirandas Sicht spielen. „Wir werden ihnen eine Geschichte erzählen. Ich wurde verbannt. Ich wurde geschändet. Ich war eine Kindsbraut. Und dieses Mal wird er zuhören,“ so Miranda.

Zu Shakespeares Zeit spielten buchstäblich nur Männer eine Rolle, denn auch die Frauenrollen wurden von Männern gespielt, und Shakespeare hat auf die Zeichnung der Figur der Miranda – der Anzusehenden, zu Bewundernden – nicht besonders viel Sorgfalt verwendet. Umso wichtiger ist es aus heutiger Sicht, der Nebenrolle Miranda eine Stimme zu verleihen.

Oper Köln/MIRANDA/Adriana Bastidas-Gamboa/Foto © Sandra Then

Die Mezzosopranistin Adriana Bastidas-Gamboa, Spezialistin für starke Frauen wie Carmen, Judith, Rosina und Cenerentola, verkörpert die aus ihrer Unmündigkeit aufgetauchte aufgebrachte Miranda mit bedrohlichen virtuosen Ausbrüchen, als Regisseurin und Hauptdarstellerin ihrer eigenen Geschichte, absolut überzeugend. Ihr Gegenspieler, Alastair Miles, einer der angesehensten und weltweit gefragten britischen Bassisten  als Prospero, startet als dominanter Patriarch, um Stück für Stück demontiert zu werden und schließlich als gebrochener Mann in den Armen seiner Frau Anna zurück zu bleiben. Diese beiden Protagonisten singen auf Weltklasseniveau und drücken den Machtkampf minutiös aus.

Oper Köln/MIRANDA/Alastair Miles, Adriana Bastidas-Gamboa, Jakob Geppert, Emily Hindrichs/Foto © Sandra Then

Sopranistin Emily Hindrichs als schwangere Anna zeigt große Empathie. Mit ihrem wunderschönen lyrischen Sopran tröstet sie Mirandas Sohn Anthony. Der Knabensopran Jakob Geppert als Anthony rührt mit seinem Trauergesang zu Tränen. Prospero hat seine minderjährige Tochter Miranda isoliert und an Ferdinand, den Sohn seines Feindes, verschachert, um seine Macht zurück zu gewinnen, was von Maria Koroleva als junge Miranda und Michael Terada als junger Ferdinand in der Masque, dem Mittelteil des Stücks, gespielt wird. Die Szene gipfelt darin, dass Miranda ihren Vater mit einer Pistole bedroht. Am Ende übergibt sie ihrem gebrochenen Vater die Pistole und nimmt ihren Mann Ferdinand (Tenor Ed Lyon) und ihr Kind und verlässt mit der gesamten Trauergesellschaft die Kirche. Charaktertenor John Heuzenröder als Priester, der hilflos danebensteht, kann Prospero auch nicht helfen. „I die,“ – „Ich sterbe,“ singt der zum Abschluss, er hat verstanden, dass er jetzt isoliert ist. Es ist eine großartige Abrechnung mit dem Patriarchat.

Henry Purcell hat zahlreiche, zum Teil verschollene Bühnenmusiken auch zu Stücken Shakespeares geschrieben. In diesem Fall wurden verschiedene Auszüge aus Musiken von Purcell und wenigen anderen Komponisten zu einem Pasticcio zusammengestellt, die sehr homogen und fast schon modern wirken. Im Gegensatz zu Händels Barockopern gibt es einen Chor, und die „Masque“, die ursprünglich von Geistern und Elfen gespielt wurde, dient hier dazu, die wahre Geschichte zu erzählen. Das Kompositionsteam bezeichnet diese Frühform der musikalischen Gestaltung von Theater mit einer Aufführungsdauer von 100 Minuten, ohne Pause, bei dem wichtige Szenen gesprochen werden, als Semi-Opera.

Oper Köln/MIRANDA/Adriana Bastidas-Gamboa, Ed Lyon/ Foto © Sandra Then

Das Gürzenich-Orchester spielt unter der Leitung von George Petrou, einem renommierten Experten für Barockmusik, in historisch informierter Aufführungspraxis mit barocktypischen Instrumenten wie Theorbe und Königstrompeten. Die Musik klingt rau, nicht so glatt wie Händel, und es entsteht ein Stück von kammerspielartiger Intensität. Man hat Headsets eingesetzt, denn ein kleines Barockhaus wäre als Spielstätte sicher besser geeignet gewesen als das Staatenhaus 2, eine Messehalle, deren Akustik für filigrane Barockmusik nicht ganz unproblematisch ist.

Auch für Zuschauer*innen, die Shakespeares „The Tempest“ nicht kennen, ist dies ein packendes Stück. Miranda ist eine junge Frau, die sich nach einigen Ehejahren dessen bewusst wird, dass sie von ihrem Vater benutzt wurde, ihm Macht und Einfluss zu sichern, ein Schicksal, das sie mit Lucia di Lammermoor, Eva (Die Meistersinger von Nürnberg), Senta (Der fliegende Holländer), Luisa Miller, Sophie (Der Rosenkavalier) und Arabella teilt. Sicher erkennen auch Zuschauerinnen Aspekte ihres eigenen Verhältnisses zu ihrem Vater wieder, und Väter werden sich in Prospero wiederfinden.

Es ist ein starkes Stück über die Emanzipation einer Frau, die mit ihrem Vater abrechnet und darüber hinaus ein Beispiel für die Theaterpraxis in Purcells Zeit. Das Premierenpublikum applaudierte enthusiastisch, denn das Stück ist absolut sehenswert und zeitlos aktuell.

 

  • Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Oper Köln / Stückeseite
  • Titelfoto: Oper Köln/MIRANDA/Adriana Bastidas-Gamboa/Foto © Sandra Then
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