Die Oper Köln erweist dem in Köln lebenden Komponisten York Höller die Ehre, sein Opus Magnum „Der Meister und Margarita“ 31 Jahre nach der Kölner Erstaufführung erneut aufzuführen. Nach der Uraufführung 1989 in Paris wagten sich nur Köln und Hamburg, die beiden innovativsten deutschen Opernhäuser, an eine Inszenierung. Das Stück, das Zustände im Stalinismus der 30-er Jahre anprangert und in Moskau spielt, schien in der Zeit von Glasnost und Perestroika nicht mehr zeitgemäß. Heute ist es wieder brandaktuell. Regie führt diesmal Valentin Schwarz, der 2018/19 mit großem Erfolg in Köln Mauricio Kagels „Mare Nostrum“ inszenierte und der 2022 in Bayreuth mit seinem Team den „Ring des Nibelungen“ von Richard Wagner gestalten wird. (Gesehene Vorstellung am 12.4.2022)
Komponist York Höller macht aus einem russischen satirischen Roman ein Politdrama um Macht und Schuld. Dass die Aufführung einschließlich Applaus fast vier Stunden dauern würde hätte man sich denken können, denn es ist ein spektakulärer Bilderbogen, der drei Handlungsstränge verknüpft: die Gewissensbisse, die Pontius Pilatus angesichts der von ihm zu verantwortenden Kreuzigung Christi quälen, die autobiographische Geschichte des vom totalitären System ausgegrenzten und gebrochenen Schriftstellers, genannt „der Meister“ und die Erlösung des „Meisters“ durch eine ungebrochene Frau, die ihm Frieden im Tod gibt. Margarita, diese starke Frau, geht einen Pakt mit dem Teufel ein, um ihren Geliebten zu finden und aus der Psychiatrie zu befreien, Pontius Pilatus bekommt endlich vom Meister Absolution, und der Meister erhält Erlösung aus seinem irdischen Elend durch Jesus Christus persönlich, während die unangepassten Schriftsteller und Dissidenten der Brandstiftung an ihrem Haus zum Opfer fallen.
Für das Verständnis der Oper ist es hilfreich, das berühmte Buch von Michael Bulgakow zu lesen, das dieser von 1928 bis 1940 schrieb, und das Höller selbst von 500 auf 100 Seiten Libretto konzentriert hat. Auch der hervorragende Einführungsvortrag des Dramaturgen Georg Kehren 45 Minuten vor der Vorstellung trägt sehr zum Verständnis der Handlung bei.
York Höllers Opus magnum, das „Musiktheater in zwei Akten“ nach dem gleichnamigen Roman von Michail Bulgakow, setzt sich mit der zeitlosen Problematik von Macht und Schuld auseinander. Während Bulgakows autobiografischer Roman eindeutig in der stalinistischen Ära spielt, legt sich der Regisseur Valentin Schwarz nicht fest. Zur Einführung spricht der Schauspieler Oscar Musinowski als alter Ego des Autors über die Kaltstellung des „Meisters“ im gängigen Literaturbetrieb, weil sein Roman über Pontius Pilatus von der Kritik nicht verstanden und von der Zensur verboten wird. Der Meister landet schließlich mit schweren Depressionen in der Psychiatrie.
Mit der Frage, ob Gott existiert, beginnt der Gesang. Der Redakteur Berlioz, der die Existenz Gottes ideologiekonform leugnet fällt noch am selben Abend durch Einwirkung des schwarzen Magiers Voland einem Verkehrsunfall zum Opfer. Nahtlos geht die Szene über in die Pilatus-Geschichte. Als Vertreter der Macht wird Pilatus in dieser Inszenierung mit dem Richter-Fenster des Kölner Doms als hochrangiger Vertreter der Amtskirche gezeichnet, der im Umgang mit abweichend Denkenden versagt. Pilatus ehrt es, dass er ein schlechtes Gewissen deswegen hat – die Problematik von Macht und Schuld liegt auf der Hand.
In einem Varieté wird ein groteskes Stück gezeigt, in dem stadtbekannte Personen als Schurken entlarvt werden. Die herrschende Schicht ist durch und durch verkommen, verlogen und opportunistisch und grenzt anders denkende Menschen wie den „Meister“ aus. Die vielfältigen Schriftsteller, die von der Regierung alle ausgemerzt werden, skizziert das Regieteam als bunte Malerfiguren von Dürer und van Gogh über Picasso, Dali, Beuys zu Meese und Warhol. Sie werden durch Brandstiftung physisch vernichtet. Joshua alias „Der Meister“ trägt lange Haare wie Jesus Christus auf Bildern von Dürer und eine löchrige Strickjacke. Der Übergang der Identitäten ist nahtlos.
Der schwarze Magier und seine Gehilfen Korowjew, Asassello, Gella, die Hexe, und Beremoth, der Kater sind gesichtslos. Sie stecken in schwarzen Ganzkörperanzügen und verkörpern den Teufel und seine Helfer, der hier geradlinig und fair auftreten. Der Teufel kann zaubern und hält seine Versprechen. York Höller knüpft an drei Werke der Weltliteratur an: die „Matthäuspassion“, „Faust“ und „Don Carlos“. Die in der literarischen Vorlage erzählte Geschichte hat autobiografische Züge, denn der 1940 im Alter von 48 Jahren verstorbene Bulgakow hat einen Roman über Pontius Pilatus geschrieben und wurde im totalitären Regime gebrochen. Seine Witwe hat ihn lange überlebt und sein Vermächtnis gepflegt.
Als Schüler von Bernd Alois Zimmermann und Karlheinz Stockhausen hat York Höller seine eigene Tonsprache geschaffen. Er nutzt nicht nur das große Sinfonieorchester und E-Gitarre, E-Violine, E-Bass, Jazzinstrumente und Handtrommeln, er setzt auch elektronische Klänge wie Schnarren, Brummen, Klappern, und Pfeifen ein und zitiert von Gregorianik über Mussorgsky, Berlioz, Busoni und Höller auch „Sympathy fort he Devil“ von Mick Jagger aus dem Album der Rolling Stones: „Beggar´s Banquet“ von 1968. Sein Kompositionsprinzip ist die „Klanggestalt“ aus 31 Tönen, in denen die Zwölftonreihe enthalten ist, aus der sich die Harmonik der Komposition entwickelt. Die Musik klingt sehr suggestiv und anschaulich. Der Gesang der zwanzig Solisten ist sehr gut verständlich und weitgehend rezitativisch mit kurzen Ariosi und vom Orchester farbenreich begleitet. Musikalisch denkt man an Alban Berg, obwohl Höllers Musik über Zwölftonmusik hinausgeht. Höhepunkte sind der Flug Margaritas zum Teufelsball und die Ballmusik, die mit polyrhythmischen Collagen gestaltet sind. Die Orchestermusik illustriert den gesungenen Text. Das große Orchester sitzt rechts von der Bühne, die zunächst kahl wie eine Varieté-Bühne ist, die aber mit beweglichen Elementen möbliert wird. Die elektronischen Klänge wie Knistern, Rascheln, Pfeiftöne und Glissandi werden von links eingespielt.
Das aufwändige Bühnenbild von Andrea Cozzi auf einer Plattform mit Drehbühne und hereingeschobenen Gebäudeteilen einschließlich der Kölner Domtürme ist perfekt koordiniert. Reibungslos gehen die Szenen ineinander über. Die Kostüme, die Andy Besuch für die Dichter geschaffen hat, die die Gesichter verdecken, eröffnen eine neue Dimension der Maskierung in Richtung Skulptur. Die schwarzen Säcke, in denen der schwarze Magier Voland und seine Helfer verhüllt sind, schaffen Anonymität. Es ist allerdings schwer, die Personen auseinander zu halten.
Leider war die Hauptdarstellerin Adriana Batsidas-Gamboa am Vormittag akut erkrankt. Ihre Rolle wurde von Niina Keitel, Gesang, und Rosie Hoekstra, Spiel übernommen. Keitel war kurzfristig eingesprungen und sang die komplexe Partie von der Seite vom Blatt souverän.
Der in Belarus geborene auf internationalen Bühnen und Konzertpodien aktive Nikolay Borchew bewies in dieser Partie erneut, dass er Weltklasse hat. In seiner Person verschmolzen der sanfte Prediger Joshua und der verunsicherte Schriftseller zur Figur des gedemütigten und gebrochenen Menschen. Am Schluss wird mit stroboskopischen Lichtblitzen eine Art Kreuzweg Jesu eingeblendet, den Borchew pantomimisch gestaltet.
Mit seinem unverwechselbaren tiefschwarzen Bass verkörperte der finnische Sänger Bjarni Thor Kristiansson den schwarzen Magier als Inkarnation des Teufels, „ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“, Äquivalent zu Mephisto in „Faust“.
Den von Gewissensbissen über das von ihm zu verantwortende Justizversagen geplagte Pilatus stellte Bassbariton Oliver Zwarg eindringlich dar, ebenso wie den Psychiater, der den Meister interniert. Dieser Pilatus ist Modellvorlage für die stalinistische Nomenklatura und für den Umgang des katholischen Klerus mit den Fällen von Missbrauch von Schutzbefohlenen durch Amtsträger, eigentlich für Machthaber jeglicher Couleur. Pilatus Behauptung: „Ich bin unschuldig an dem Blut dieses Gerechten, sehet ihr zu,“ dem das Volk zweichörig antwortet: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder,“ bereitet ihm Kopfzerbrechen, denn er glaubt, er hätte Jesu Tod verhindern müssen.
Dem Charaktertenor Martin Koch glaubte man unbesehen die Skrupel des Evangelisten Matthäus und des schlechten Lyrikers Iwan Besonmy. Er problematisiert die Unschärfen und Missverständnisse in der Wahrheit, die durch schriftliche Aufzeichnungen entstehen.
Den Kater Beremoth habe ich an Daliah Schaechters unverkennbarer Stimme erkannt, ebenso Voland, den Schwarzen Magier Bjarni Thor Kristiansson. Die Vermummung in wie Lava glitzernde schwarze Ganzkörpersäcke machte die Zuordnung nicht gerade einfach. Auch Matthias Hoffmann und John Heuzenröder mussten ohne ihre Mimik auskommen. Die übrigen Partien waren aus dem Ensemble und aus dem Opernstudio hochkarätig besetzt
Das an Musik der Zeit geschliffene Gürzenich-Orchester wurde versiert dirigiert von André de Ridder, der mit dieser Produktion an der Oper Köln sein Hausdebüt gab und der Höllers Musik Präzision und Farbenreichtum verlieh.
Der Komponist York Höller, Jahrgang 1944, war auch diesmal wieder in der Vorstellung und zeigte sich gerührt von dem lebhaften Beifall des überwiegend jüngeren Publikums. Höller hat ein zeitloses hochpolitisches Stück geschaffen, das zeigt, wie sehr die herrschende Clique durch ihre Macht korrumpiert ist. Inhaltlich knüpft er hier an den Konflikt zwischen dem König und dem Großinquisitor in (Verdis) Don Carlos an. Mit der Pilatus-Geschichte bezieht er sich auf die Matthäus-Passion und geht über Verdis nihilistische Sicht hinaus, indem er einerseits die Absolution des Pilates durch den „Meister“ alias Jesus liefert, andererseits die Erlösung des „Meisters“ durch die Hand des Assistenten des Teufels, der ihm Frieden im Tod schenkt. Margarita bleibt nur, um seine Ruhe zu bewachen.
Nur der Teufel verhält sich fair und ehrlich und sorgt für die Erlösung der Menschen im Tod. Hier bezieht sich Höller auf Gounods „Faust“, den Buchautor Bulgakow mindestens zehnmal als Oper gesehen hat. Vor allem die Gretchentragödie hat es ihm angetan, denn Margarita erbarmt sich auf dem großen Satansball der verurteilten Kindsmörderin und wird wegen ihrer Barmherzigkeit durch den Teufel unangreifbar.
Das Regieteam um Valentin Schwarz hat eine farbenprächtige und packende Umsetzung des satirischen Romans geliefert, aber auch das Ideendrama verdeutlicht. Die Darstellung der Mitglieder des Schriftstellerverbands als individualistische Malerfiguren, die durch die Staatsmacht ausgemerzt werden, ist ein geniales Element. Das Regieteam bewies aber auch Mut zur Lücke, indem es bei der Ballszene – Entsprechung der Walpurgisnacht aus „Faust“ – nur eine leere Bühne zeigte. Die überbordende Musik beflügelte die Phantasie. Die Hauptpersonen waren durch verbale, musikalische und szenische Mittel treffend charakterisiert.
Insgesamt ein intellektuell herausforderndes, szenisch und musikalisch begeisterndes Stück Musiktheater.
- Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Oper Köln / Stückeseite
- Titelfoto: Oper Köln/DER MEISTER UND MARGARITA/Foto © Bernd Uhlig
Ein Gedanke zu „Oper Köln: Höllers „Der Meister und Margarita“ von Valentin Schwarz bildstark in Szene gesetzt“