Vor Beginn der Premiere trat Nadja Loschky, die künstlerische Leiterin des Musiktheaters Bielefeld, vor den Vorhang und informierte das Publikum darüber, dass ausgerechnet die beiden ursprünglich für die Hauptpartien der Mimi und des Rodolfo vorgesehen Künstler quarantänebedingt die Premiere nicht singen konnten. Das Theater Bielefeld habe aber alle Hebel in Bewegung gesetzt, um diese Premiere wie terminlich geplant, abhalten zu können. Sie lobte ausdrücklich den Willen und das Engagement ihres gesamten Ensembles, diese Premiere wie vorgesehen durchzuführen und dankte Shelley Jackson und Garrie Davislim, die an diesem Abend für ihre unter Quarantäne stehenden Kollegen kurzfristig eingesprungen waren. Der Lohn für diesen ganzen coronabedingten Vorbereitungsstress – der nicht allein nur die beiden Hauptdarsteller betraf – war dann der lautstarke Jubel und Applaus des Bielefelder Premierenpublikums, welcher nach einem Moment absoluter Stille nach dem Finale der Oper, im Theater aufbrandete. (Rezension der Premiere vom 29.01.2022)
Regisseurin Julia Burbach erzählt die Geschichte der Oper La Bohème aus der Sichtweise der Mimi. Was zur Folge hat, dass die Sängerin der Mimi vom ersten bis zum letzten Moment der Bielefelder Inszenierung auf der Bühne präsent ist. Noch bevor die Oper beginnt, sitzt Mimi am rechten Bühnenrand auf einem Schneehügel und sieht sich die Szenerie um sie herum an. Es ist Winter, aber Mimi trägt ein weißes, ärmelloses, sommerliches Kleid. Scheinbar friert sie nicht. Die Musik setzt ein, die vier Bohemiens kommen auf der Bühne zusammen und Mimi umkreist und beobachtet sie einfach nur. Das gibt den Zuschauern einen zweifachen Blick frei: zum einen den direkten auf das Geschehen auf der Bühne und mittelbar den aus Mimis Augen. Erst als der Vermieter Benoit gegangen ist und die Freunde beschliessen den Abend feierlich ausklingen zu lassen, worauf Rodolfo seinen Freunden mitteilt, dass er Ihnen erst später ins Cafe Momus folgen wolle, taucht die lebendige Mimi auf und bittet ihren Nachbarn um Feuer für ihre gelöschte Kerze. Der eigentliche Beginn dieser tragischen Liebensgeschichte. Im weiteren Verlauf der Oper wird Mimi immer wieder als Beobachterin ihrer eigenen Geschichte, aber eben auch als Handelnde im tatsächlichen Spiel, gezeigt. Am Ende wird sie auch ihren Tod als Beobachterin (mit-)erleben. An ihrer Stelle liegt auf dem Totenbett der händewärmende Muff, den Musetta zuvor der frierenden und im Sterben liegenden Mimi gekauft hat. Die beobachtende Mimi aus Julia Burbachs Inszenierung aber steht abseits dabei. Im weißen Sommerkleid und friert auch nun nicht. Nicht körperlich…. Obgleich das letzte Bild dieser Inszenierung in einer Winter- und Schneelandschaft spielt und dadurch frostige Kälte vermittelt. Eine durchaus poetische Sichtweise auf diese großartige und so emotionale Puccinioper, die Burbach dem Publikum präsentiert.
Während Julia Burbach ihre Mimi recht zurückhaltend agieren lässt, ist das Spiel auf der Bühne um Mimi herum lebendig und voller Leben. Sehr gelungen dazu das zweite farben- und Kostümprächtige Bild der La Bohème im Café Momus und das dritte Bild, welches Einblicke in das Pariser Cabaret gewährt, in welchem Marcello und Musetta nun arbeiten. Während drinnen ausgelassen gefeiert, getrunken, geflirtet und getanzt wird (herrlich dargestellt von den Damen des Bielefelder Opernchores), beginnt draußen in winterlichem Schneetreiben das Drama um Mimi seinen Lauf zu nehmen. Bühnenbild und Kostüme (beides Cécile Trémolières) fangen das Pariser Flair um die Zeit des beginnenden 19. Jahrhunderts eindrucksvoll und farbenfroh ein. Im ersten Bild, das Zimmer der vier Bohemiens und im vierten Bild, die Winterlandschaft vor dem verschneiten Cabaret-Lokal, setzt Julia Burbach auch gezielt auf das technische Moment einer Drehbühne. Denn hier wird wieder Mimi die gesamte Szenerie aktiv von der Bühnenmitte, aber auch zusehend vom drehenden Rand der Bühne aus, miterleben. Julia Burbach erzählt die Geschichte der La Bohème mit den Augen Mimis. Sehr gefühlvoll und beeindruckend.
Natürlich verlangt eine solche Inszenierung, insbesondere im Hinblick auf die Partie der Mimi, viel gesanglichen, aber auch hohen darstellerischen, Einsatz. Wie eingangs erwähnt, fiel die ursprünglich geplante Sängerin der Mimi kurzfristig aus, was bedeutete, ebenso kurzfristig eine Sängerin zu finden, die in die laufende Vorbereitung der Premiere einsteigen konnte. Mit der amerikanischen Sopranistin Shelley Jackson gelang dies aber dem Theater Bielefeld eindrücklich. Sie stellte eine sehr empathische Mimi dar, eine Mimi mit all den emotionalen Facetten dieser Partie. Vom anfänglichen Verliebtsein, über den Schmerz der Beziehungskrise, bis hin zur Verzweiflung über ihre tödliche Krankheit. Ihr „Mi chiamano Mimì“ im ersten Bild der Oper sang sie sehr innig und gefühlvoll. Besonderen Eindruck hinterliess dann ihr „D’onde lieta uscì“ aus dem dritten Bild, in dem sie sehr ausdrucksstark – und mit sehr viel Gefühl in Gesang und Gestaltung – den Abschied der Liebenden im nächsten Frühling beschreibt. Im letzten Bild der Oper überzeugte sie dann auch durch ihre Darstellung der sterbenden Mimi. Das Publikum sah es ebenso. Viel Applaus und Bravorufe für Shelley Jackson an diesem Abend.
Ebenfalls großen Zuspruch vom Publikum erhielt auch Garrie Davislim in der Partie des Rodolfo. Auch er war an diesem Abend für einen Kollegen eingesprungen und hat damit die angesetzte Premiere in Bielefeld sichern können. In seine bekannte Arie „Che gelida manina…“ legte er viel Gefühl und Schmelz in seine höhensichere Stimme und erhielt dafür vom Publikum spontanen Beifall. Aber auch im weiteren Verlauf der Oper war die Darstellung seines Rodolfo gesanglich und darstellerisch sehr überzeugend, voller Spielfreude und berührend.
In der Partie des Marcello war der Bielefelder Bariton Frank Dolphin Wong zu erleben. Er verlieh dieser facettenreichen Partie viel Format mit seiner ausdrucksstarken und wohlklingenden Stimme und seiner überzeugenden Darstellung des oftmals von seiner Musetta genervten Geliebten. Aber auch in den Szenen der vier Bohemiens wusste er seinem Marcello viel an Profil zu vermitteln.
Mit Cornelie Isenbürger hat das Theater Bielefeld eine Musetta von ganz besonderem Format in seinem Ensemble. Da sitzt jeder Ton, jede Geste, jede Bewegung auf der Bühne und dabei verleiht Frau Isenbürger dieser Rolle das richtige Maß und die Mischung an Koketterie, Exaltiertheit und Menschlichkeit. Ich habe schon so einige Bohème’s – und damit auch einige höchst überzeugende Musettas – in den letzten Jahrzehnten und an vielen Opernhäusern gesehen. Cornelie Isenbürgers Musetta gehört ab nun zweifelsohne für mich mit dazu!
Moon Soo Park und Caio Monteiro in den Partien des Colline und Schaunard rundeten das Quartett der vier Pariser Freunde höchst adäquat ab. Moon Soo Park gestaltete dabei sehr gefühlvoll seine Mantel-Arie („Vecchia zimarra, senti“) aus dem vierten Bild.
Caio Monteiro gab als Musiker Schaunard eine wirklich sehenswerte Vorstellung! Gesanglich, aber auch als echtes Bewegungstalent auf der Bühne. Es hat Spaß gemacht, ihn in seiner Rolle zu erleben.
Die kleineren Partien waren mit Yoshiaki Kimura (Benoit und Gesang für Parpignol), Tae-Woon Jung (Alcindoro) und Bojan Heyn (Sergeant/Zölner) bestens besetzt. Besonderheit: Auch der ursprüngliche Sänger des Parpignol musste quarantänebedingt umbesetzt werden. Kurzerhand spielte der Regieassistent Nick Westbrock dessen Rolle und Yoshiaki Kimura verlieh ihm vom Bühnenrand dazu die Stimme.
Der Bielefelder Opernchor, der Extrachor des Theater Bielefeld (Einstudierung: Hagen Enke) und der Jugendchor „JunOs“ (Einstudierung: Felicitas Jacobsen und Anna Janiszewska) waren natürlich feste Größen dieser Inszenierung und der musikalischen Umsetzung des Stückes. Große Lob auch an sie! Die Statisterie des Theater Bielefelds sei hier ebenfalls noch genannt. Denn ohne Statisten ist so manche Operninszenierung nun wirklich nicht mehr vorstellbar.
Am Pult der Bielefelder Philharmoniker stand Alexander Kalajdzic, der GMD des Bielefelder Theaters. Mit viel Gespür für die stillen – als auch für die dramatischen – Momente dieser Oper hatte er die musikalische Leitung des Abends inne und war damit maßgeblich am Erfolg dieser Premiere beteiligt. Er liess die Bielefelder Philharmoniker in Puccinis so reichhaltiger Partitur schwelgen und behielt die Fäden auch in den großen Szenen, wie im zweiten Bild, souverän in der Hand. Auch für ihn und sein Orchester viel Applaus vom begeisterten Publikum im unter Coronabestimmungen vollbesetzten Haus.
- Rezension von Detlef Obens / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Theater Bielefeld / Stückeseite
- Titelfoto: Theater Bielefeld / LA BOHEME/ Foto @ Bettina Stöß