Metamorphose zum Selbst und zur Eigenständigkeit
Das Teatro Real Madrid, welches im Prinzip die meisten seiner etwa zehn Opern pro Saison von anderen Häusern übernimmt oder kauft, hat sich nach der Tetralogie der „Ring des Nibelungen“ in den vergangenen vier Jahren (der Merker berichtete) für die erste Nachfolgesaison passenderweise für ein Werk von Richard Strauss entschieden. Und zwar war man, wie sich angesichts der Reaktionen des Premierenpublikums am 24. Januar herausstellte, nicht zu Unrecht auf eine – zwar schon etwas in die Jahre gekommene – Inszenierung der „Arabella“ von Christof Loy an der Göteborg Opera aus dem Jahre 2006 gekommen.
Dabei nimmt Loy der „Lyrischen Komödie in drei Akten“ alles auch nur irgendwie Operettenhafte, welches allein schon aufgrund der Wiener 1860er Jahre und ihrer Ästhetik um die Dekadenz jener Zeit, die unter anderem in der Fiakermilli zum Ausdruck kommt, von „Arabella“-Regisseuren immer wieder mitthematisiert wird. Loy geht es um etwas ganz anderes. Er will zeigen, dass Arabella, die ja sozusagen der Rettungsanker der kurz vor dem Ruin stehenden Familie des Grafen Waldner und seiner Frau Adelaide nach Möglichkeit an einen reichen Bräutigam vermittelt werden soll, also eigentlich ein Opfer unter Fremdbestimmung ist, angesichts der Entwicklungen zu sich selbst findet und zu einer selbständigen Frau mit profilierter Persönlichkeit wird. Und das zum völligen Unverständnis ihrer Eltern, wohl aber jenem ihrer Schwester Zdenka, die hier ebenfalls mit einer an Menschlichkeit kaum zu überbietenden Intensität das von den Eltern aus Geldknappheit oktroyierte Burschendasein ablegt und zur fühlenden, reifen Frau wird. Erst dann kann sie sich auch Matteo in einer inhaltsvolleren Art und Weise öffnen als mit dem oberflächlichen Schlüsseltrick in Arabellas Zimmer.
Im Vordergrund von Loys Inszenierung steht also wieder einmal die Herausarbeitung der Charaktere der Protagonisten in all ihren Einzelheiten und Entwicklungsschritten. Dafür ist er ein wahrer Meister und braucht auch kein opulentes Bühnenbild. Wie schon Johannes Leiacker bei der allgemein bejubelten „Così fan tutte“-Produktion bei den Salzburger Festspielen 2020 Loy ein weitgehend schlichtes schwarz-weißes Bühnenbild schuf, gestaltet in der „Arabella“ Herbert Murauer auch eine zunächst völlig geschlossene weiße Box, in der sich umso besser mit der wie immer bei Loy ausgefeilten Personenregie die Charakterisierung der Akteure und ihre Entwicklung darstellen lässt. Dieser zunächst erschreckend öde helle Raum, in dem somit die Lichtregie von Reinhard Traub eine nicht allzu große Rolle spielt, öffnet sich im Laufe der Handlung immer wieder und gibt Szenen und neue Räume der Handlung frei, die sich dramaturgisch bestens mit der Aktion der Sänger im Vordergrund verbinden.
So wird die ganze Katastrophe des dennoch uneinsichtigen Grafen Waldner und seiner Frau, mit denen Martin Winkler prägnant und kraftvoll und Anne Sofie von Otter mit guten Stimmen herrlich komödiantische Charakterstudien geben, ebenso nachvollziehbar gezeigt wie die vergeblichen Bemühungen der drei chancenlosen Liebhaber Arabellas, die einer nach dem anderen in das Bild treten, sich ihren Korb holen, und wieder hinter einer der sich oft verschiebenden Wände verschwinden. Einen besonders intensiven Eindruck hinterlässt ein großes Bild, das die assoziativ zur Wiener Gesellschaft jener Zeit wirkende und sicher auch so beabsichtigte Ballgesellschaft der Waldners – von den alkoholischen Ballfolgen gezeichnet – regungslos und in völligem Chaos auf dem Boden zeigt. Dazu noch der chaotische und hypertrophe Auftritt der Fiakermilli, die von Elena Sancho Pereg mit einem bestechenden Koloratursopran gesungen und mitreißend gespielt wird, sodass sich sogar der von der Schlüsselgeschichte frustrierte Mandryka an ihr mit kopulativer Absicht vergreift. Josef Wagner singt den reichen Unbekannten vom Lande mit einem gehaltvollen Bariton, stellt ihn aber etwas unbeholfen und darstellerisch unbemittelt dar, was aber durchaus von der Regie angesichts seines Rollenprofils gewollt gewesen sein konnte.
Der absolute Star des Abends ist jedoch Sara Jakubiak als Arabella mit einem kraftvollen, leuchtend-farbintensiven Sopran mit dramatischem Aplomb. Sie bewegt sich ständig mit großer Musikalität in sicherer gesanglicher Linie und stellt auch schauspielerisch alle Facetten des bei Loy – wie beschrieben – komplexer angelegten Rollenbildes der Titelfigur dar. Ihr Zusammenspiel mit der klangschönen lyrischen Sarah Defrise mit bester Linienführung in der Rolle der Zdenka gehört zu den Höhepunkten des Abends ebenso wie die Auseinandersetzung mit dem kraftvoll tenoralen Matthew Newlin als Matteo zu Beginn des 3. Akts. Hier offenbarte Jakubiak schon Wagnersche Stimm-Qualitäten. Die polnisch-deutsche Sängerin stand immerhin schon in Los Angeles als „Tannhäuser“-Elisabeth auf der Bühne und ist 2024 bereits als Sieglinde in Dallas avisiert.
Unter den drei Verehrern Arabellas ragt Dean Power als Graf Elemer mit einem guten Tenor und engagiertem Spiel hervor, gefolgt von Tyler Zimmermann als Graf Lamoral mit einem guten lyrischen Bariton. Roger Smeets als Graf Dominik scheint für die Rolle schon zu alt und bleibt vokal auch etwas blass. Die Nebenrollen sind alle gut besetzt. Die Choreografie liegt in sicheren Händen von Thomas Wilhelm und der Chor des Teatro Real wurde wie immer kompetent von Andrés Máspero geleitet.
Großartiges offenbarte sich aber auch im Graben. David Afkam dirigierte das Orquesta Titular del Teatro Real und meisterte die recht schwierige Partitur des Garmischer Meisters mit großem Verständnis für die Zwischentöne, die schnellen Tempo-Wechsel und die enorme Impulsivität, die Strauss in einigen Szenen, zumal im Finale des 2. Akts, komponierte. Die „Arabella“-Musik kam im Teatro Real, in dem im Übrigen deutsch gesungen wurde, aufs Beste zum Leuchten, ganz zu schweigen von der feinen Ausmusizierung der in diesem Werk so berühmten Melodien und Leitmotive. Einen starken Moment legte Afkam mit der Enthüllung ihrer Identität durch Zdenka ein. Er hielt die Musik für eine kleine Ewigkeit an, sodass sich die ganze emotionale Kraft dieses entscheidenden Moments jedem im Saal offenbarte, der das Stück auch nur einigermaßen kannte. Das ging unter die Haut und war sicher auch von Christof Loy so beabsichtigt.
Am Ende reicht Arabella ihrem Mandryka das ominöse Glas Wasser, und sie ziehen in die nun völlig offene Kulisse in das Leben hinaus. Es wird sicher kein leichtes… Der lang anhaltende und begeisterte Applaus des Madrider Premierenpublikums gab Regisseur, Sängern und Dirigent mit Orchester in allem Recht. Ein starker Abend!
- Gastrezension von Dr. Klaus Billand – (www.klaus-billand.com) – für DAS OPERNMAGAZIN
- Teatro Real Madrid / Stückeseite
- Titelfoto: Teatro Real Madrid/ARABELLA/ Foto @ Javier del Real