Kommt es zur Götterdämmerung des deutschen (Stadt)theaters oder finden wir doch den Mut zur Marke?

Christian Sist / Foto: Gerardo Garciacano
Christian Sist / Foto: Gerardo Garciacano

Ein innerer Dialog inspiriert von C.K. Prahalad und Gary Hamel sowie D. Lee Yohn und anderen. – Gastartikel von Christian Sist

Vorweg möchte ich dem Verfasser dieses Blogs, Detlef Obens, und allen anderen, die diesen kurzen Aufsatz publizieren, meinen Dank zum Ausdruck bringen.

STAKEHOLDER

Es gibt tatsächlich keinen geeigneteren Platz, um diesen Aufsatz zu veröffentlichen. Denn es geht um die Kernkompetenzen, also um jene internen Werte, jenes interne Wissen und jene nicht wissenschaftlich messbaren Energien, rund um das sogenannte Kerngeschäft eines Theaters und wie das aktive Managen dieser zum Erfolg führen kann. Es geht also, werte Leserinnen und werter Leser, um den Output, den ein Theater produziert. Um Tanz, um Schauspiel, um Gesang, um Instrumentalisten und um SIE. Sie, als Publikum, Sie, als Steuerzahlerin und Steuerzahler, Sie als Kunstkonsumentin und Kunstkonsument, Sie als von der Kunst berührter Mensch, Sie als Mitglied der Gesellschaft. Daher also um alle Stakeholder eines Theaters. (Stakeholder eines Theaters sind alle, die vom Wirken eines Theaters direkt oder indirekt betroffen sind sowie jene, die direkten oder indirekten Einfluss auf dieses haben.)

Wo gäbe es also einen besseren Platz zu publizieren, als auf einem Blog, der über das Produkt, das aus den Kernkompetenzen des Theaters heraus entwickelt wird, berichtet?

Ich lade Sie auf eine kurze Reise ein, das deutsche Theater aus einer betriebswirtschaftlichen und produkttechnischen Sicht zu betrachten. Es geht hier um keine emotionale, ideologische Diskussion über Theater, Politik oder Zivilgesellschaft. Die Frage, die hinter all dem steht, ist: welche Strukturen und welche Arten der Unternehmenskultur können zum Erfolg eines Theaters beitragen?

WIRTSCHAFTSWISSENSCHAFT

Die im Subtitel genannten Personen gehören bzw. gehörten zu den herausragendsten Managementtheoretikern der letzten 50 Jahre. Vor allem C.K. Prahalad hat mich während meines Wirtschaftsstudiums in London inspiriert, denn er sah ein Unternehmen, eine Organisation, als etwas Lebendiges und forderte als oberste Prämisse, Kommunikation zwischen den einzelnen Abteilungen. Nur so, fand er, könnte ein Produkt erfolgreich am Markt platziert werden und könnte eine Organisation verstehen, welche Kernkompetenzen notwendig sind und wie diese in ein erfolgreiches Produkt münden. D. Lee Yohn wiederum beschäftigt sich seit vielen Jahren u.A. mit Marken und wie diese entwickelt werden und legt den Fokus ebenfalls auf die “inneren Werte” eines Unternehmens.

NEUE BLICKWINKEL

Was sind nun die Kernkompetenzen eines deutschen Theaters? Und welche Produkte sollen daraus hervorgehen?

Die Frage mag vielleicht seltsam anmuten, denn wahrscheinlich werden Sie, werte Leserin und werter Leser, wie aus der Pistole geschossen antworten: “natürlich ist das Produkt – und die dahinterliegende Kernkompetenz – die Aufführung!”

Auch wenn ich Ihnen zustimme, dass es so sein sollte oder dass dies zumindest die traditionelle Sicht der Dinge ist, erlaube ich mir zu entgegnen, dass es nicht zwingend so sein muss. Was wäre, wenn die Kernkompetenz eines Theaters ein “Erlebniszentrum” wäre, wo man als Konsumentin und Konsument auf unterschiedlichsten Ebenen betreut wird und nicht die Aufführung – bzw. jene traditionelle Art der Aufführung, die wir kennen – im Mittelpunkt steht? Ich denke da etwa an erlesene Kulinarik, an interaktive Formen von Kunst und speziell für eingeschränkte Zielgruppen gestaltete Programme, wie etwa Senioren, Kinder oder Menschen mit Behinderungen.

Was würde sich an Ihrer Wahrnehmung, an Ihrem Blickwinkel ändern? Welchen Platz würde ein Theater, das oben genannte Parameter erfüllt, etwa in einer mittelgroßen deutschen Stadt einnehmen?

Es gibt natürlich einen Grund, warum ich Ihnen kurz einen sehr ungewohnten Blickwinkel eröffnen wollte: welche Kernkompetenzen müssten Mitarbeiter eines derartigen Theaters in sich vereinen, im Vergleich zu einem “klassischen” Drei-Sparten-Haus? Gäbe es da nicht die Notwendigkeit ganz andere Jobs auszufüllen?

Damit möchte ich aufzeigen, wie wichtig es ist, dass sich das Management eines Theaters bewusst ist, was eigentlich das Produkt ist und welche Kernkompetenzen im Haus verfügbar sein müssen, um das erwünschte Produkt auch erfolgreich produzieren zu können. Es geht hier um das Strukturieren von Arbeitsabläufen und das Kreieren einer sehr speziellen Unternehmenskultur, um in unserer heutigen, stark diversifizierten, Konsumkultur zu bestehen.

APPLE

Apple, die aktuell erfolgreichste Firma weltweit, ist ein spannendes Beispiel für hoch effiziente und extrem erfolgreiche Abläufe, die die Kernkompetenzen unmittelbar in das Produkt einfließen lassen und dieses dadurch fast schon magisch auf das Kaufpublikum wirkt. Man kann zu Apple und seinem Geschäftsmodell stehen wie man möchte, die Effizienz ist wohl unbestritten. Auch ich empfinde das nach außen vollkommen geschlossene System von Apple und die damit verbundene Abhängigkeit der Konsumenten – zu denen ich auch zähle – als bedenklich. Fakt ist aber, dass dadurch die Funktionalität um vieles höher ist, als bei der Konkurrenz. Apple ist kein Computerhersteller! Apple ist eine Marke, die ein Lebensgefühl, eine virtuelle Welt, verkauft. Und zwar mittels Design, Funktionalität und einem Höchstmaß an Integration. Das macht den Erfolg aus. Denn technisch hochwertige Computer, die sogar noch um einiges billiger sind, können viele andere auch herstellen.

Dies alles zeigt, wie wichtig es ist, dass ein Unternehmen den Fokus auf Kernkompetenzen legt und die Marke aus diesen heraus entwickelt bzw. über innovative Kernkompetenzen ein neues Produkt und unter Umständen sogar einen neuen Markt kreiert. Also heraus aus dem Innersten und Intimsten des Unternehmens. Oder anders gesagt: ein Unternehmen muss sich darum kümmern, jene Kernkompetenzen an sich zu binden und diese dann optimal zu managen, um am Markt erfolgreich zu sein oder sogar einen neuen Markt zu kreieren.

DIE KERNKOMPETENZEN DES MUSENTEMPELS

Lassen Sie uns am Ende der operativen Kette anfangen, beim Produkt und dem Publikum. Ich glaube, wir sind uns einig, dass Theater für das Publikum gemacht wird. Sonst müssten wir ja keine Karten verkaufen und man bräuchte keine Bühne. Künstler könnten sich einfach privat in einem Raum treffen und ein Stück aufführen oder experimentieren.

Es geht also um das Publikum, für das ein Theater produziert, wie Apple ein iPhone für Menschen produziert, die telefonieren und Internet, eine Kamera und einen MP3-Player haben wollen und zugleich diesen Mini-Computer auch gerne benutzen. Apple hat ein klar definiertes Produktziel und alle Ressourcen sind auf dieses Ziel ausgerichtet.

Was ist nun das Ziel eines Theaters? Ist es Auslastung? Ist es Lob von der Presse zu bekommen? Ist es bestimmten Kreisen zu gefallen? Oder sollen die Geldgeber zufriedengestellt werden? Oder soll die Gesellschaft verändert werden, durch kritische Inszenierungen? Oder will man einfach nur unterhalten?

Ich stelle die Behauptung auf, dass die wenigsten Theaterleitungen diese Frage eindeutig beantworten können. Nicht weil es ihnen an Intelligenz oder Wollen fehlt, sondern weil man sich schlicht nicht bewusst ist, dass diese Frage von essentieller Bedeutung für den Erfolg ist. Der Fokus liegt zu sehr auf der Konzeption eines Stückes, man versucht die Vorgaben der Geldgeber einzuhalten, sieht sich mit steigenden Kosten konfrontiert und möchte trotzdem spannendes und gutes Theater machen. Ich unterstelle auch allen Intendanten, GMDs, kaufmännischen Direktoren und Spartenleitern, dass sie die besten Absichten haben, dass sie für die Sache brennen und sich wünschen, international beachtete Produktionen vor ausverkauftem Haus zu spielen.

Warum gelingt dies nun aber seit 20 Jahren immer weniger? Warum bleiben die Säle leer? Warum hat eine “Künstlerklagemauer” wie art but fair bald 5.000 likes auf Facebook? Warum tun sich die Geldgeber immer leichter Förderungen zu kürzen? Warum gibt es das Tabu nicht mehr, ganze Theater, Orchester und Chöre aufzulösen?

WO IST ES, UNSER PUBLIKUM?

Wenn wir uns die demographische Entwicklung ansehen, dann müssten Theater eigentlich voll sein. Die Gesellschaft wird älter und ältere Mitbürgerinnen und Mitbürger tendieren dazu ins Theater zu gehen. Auch die Wirtschaftskrise kann kein Argument sein, da es genug Menschen gibt, die mehr als genug Geld haben und es auch für Unterhaltung ausgeben. Sie tun es nur an anderer Stelle. Ein David Garret etwa füllt locker die Westfalenhalle in Dortmund oder die Stadthalle in Wien – mit “klassischem” Repertoire! Und überdies kostet etwa ein Jahresabo am Theater Dortmund, meiner aktuellen Wirkungsstätte, nur eine Tankfüllung eines 5er BMWs – für bestimmte Bevölkerungsgruppen sogar noch deutlich weniger!

Somit können finanzielle Argumente nicht Ausschlag gebend sein und auch die demographische Entwicklung spricht klar für die Theater!

DER ROTE FADEN

Meiner Meinung nach mangelt es oft an der Klarheit in Bezug auf das Produkt und vor allem gibt es wenig Bewusstsein bezüglich der Kernkompetenzen und der Marke, die man entwickeln will. Es werden wunderschöne Jahresprogrammhefte produziert, es wird stichpunktartig Werbung gemacht, doch die Marke wird nicht von innen heraus entwickelt und zwar unter Einbeziehung jedes einzelnen Mitarbeiters und unter klarer Definition der Kernkompetenzen. Die einzelnen Abteilungen kommunizieren nicht ausreichend miteinander, da es keinen roten Faden gibt, an dem sich jede Abteilung und jeder einzelne Mitarbeiter orientieren kann. Es fehlt eine eindeutige Unternehmens-DNA.

HANDLUNGS-BLICKWINKEL

Wenn wir nun davon ausgehen, dass das Kerngeschäft des “klassischen” Theaters die Aufführungen sind, folgert daraus, dass die Kernkompetenzen dafür, daher zum überwiegenden Teil bei den Ausführenden liegen. Ich denke, dass dieser Aussage kaum jemand widersprechen wird. Wäre es dann nicht logisch, dass die gesamte Organisation, vom Intendanten bis zum Reinigungsdienst, aus genau diesem Blickwinkel heraus agiert? Sprich: jede Aktion, jede Interaktion, jeder Arbeitsprozess, also die gesamte Unternehmensstruktur und -kultur dient dem Ziel einer qualitativ hochwertigen Aufführung.

DIE REPRESENTANTEN DER WARTBURG

Die Kernrepresentanten einer hochwertigen Aufführung sind wohl ohne Zweifel die Künstler, die abends auf der Bühne stehen und im Orchestergraben sitzen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, dass genau diesen Kernkompetenzträgern auch ausreichend Ressourcen zur Verfügung stehen und der gesamte restliche Apparat in diese Richtung agiert.

Die Realität sieht leider häufig vollkommen anders aus. Schauspieler, Sänger und Tänzer, sowie anderes künstlerisches Personal, wie Pianisten, Regieassistenten, Ausstatter, Maskenbildner, Kapellmeister, etc. sind – mit sehr wenigen Ausnahmen – jene, deren Jobs am meisten unter Druck stehen. Die Verträge sind befristet, die Gagen werden immer geringer und das Arbeitsklima ist oft von Angst geprägt, da man fürchtet, beim kleinsten Aufmucken nicht mehr engagiert zu werden. Die Macht hat sich verlagert hin zu jenen, die nicht direkt am Kerngeschäft mitwirken. Mittlerweile wird nicht einmal mehr hinter vorgehaltener Hand über die Austauschbarkeit von Künstlerinnen und Künstlern gesprochen.

RESSOURCENVERTEILUNG UND DIE FRANKFURTER OPER

Die Personalkosten für Schauspieler, Sänger und Tänzer stellen, je nach Struktur des Hauses, einen niederen bis mittleren einstelligen Prozentsatz dar. Das bedeutet, dass 90% – 95% des Budgets eines typischen, deutschen Theaters nicht in die Vertreter des Kerngeschäftes fließen.

Ausnahmen, wie etwa die Frankfurter Oper unter ihrem Intendanten Bernd Loebe, der sein Ensemble seit seinem Amtsantritt mehr als verdoppelt hat und der Gagen weit über der kollektivvertraglichen Mindestgage von unter €1700,- brutto (!) zahlt, bestätigen die Regel. Herr Loebe hat klar erkannt, welches Produkt erfolgreich ist und sein Management dahingehend ausgerichtet. Er sagt etwa in einem aktuellen Interview, dass die Sängerinnen und Sänger extrem wichtig für die Publikumsbindung sind. Daher hat Frankfurt ein Ensemble von 40 Mitgliedern (wie viele deutsche Theater in “guten, alten Zeiten”). Dies gibt ihm die Möglichkeit sehr flexibel zu sein und so ziemlich jede Rolle aus dem Ensemble heraus zu besetzen mit Kolleginnen und Kollegen, die teils seit vielen Jahren in der Stadt verwurzelt sind, die zudem “zusammengesungen” sind und die sich im hohen Maße mit ihrer Arbeitsstelle identifizieren – und das Publikum mit ihnen! Das sehr interessante und aufschlussreiche Interview finden Sie hier.

WOTANS SPEER

An dieser Stelle möchte ich aber auch einen Speer oder besser eine Lanze für die Intendanten brechen, da diese immer größerem, finanziellen Druck ausgesetzt sind und der finanzielle Handlungspielraum extrem klein geworden ist. Die Fixkosten fressen meist über 80% des Budgets auf und dort wo man noch am Rad drehen kann, tut man es gezwungenermaßen. Es ist daher auch die Politik aufgerufen, Rahmenbedingungen zu schaffen, die es Intendanten ermöglichen, gutes Theater zu machen. Auch wenn das ein Thema für einen anderen Aufsatz ist, sei kurz erwähnt, dass ein funktionierendes, also gut ausgelastetesTheater, einen substantiellen Einfluss auf die Volkswirtschaft der Stadt und Region hat. Und zwar in einem Ausmaß, der jeden investierten Steuereuro in einer Art und Weise rechtfertigt, wie es kein anderes Investment kann – außer vielleicht Hochrisikoveranlagungen, für den eher seltenen Fall, dass sie sich sehr positiv entwickeln. Verzinsungen im Zusammenhang mit Kulturförderungen bewegen sich definitiv im zweistelligen Prozentbereich!

Trotzdem muss ich nach dem “Lanzenbruch” auch darauf aufmerksam machen, dass es sehr wohl Möglichkeiten gibt, innerhalb des vorhandenen Budgets zu Gunsten des Kerngeschäftes “umzuverteilen”. Zusätzlich weisen sämtliche Studien daraufhin, dass die finanzielle Entlohnung für Arbeitnehmer nicht der wichtigste Faktor für Zufriedenheit ist, sondern die Wertschätzung. Und hier kann man, ohne auch nur einen Euro zusätzlich auszugeben, sehr viel bewirken, indem man etwa Arbeitsbedingungen schafft, die auf Respekt, Vertrauen und Augenhöhe basieren und die Künstlerinnen und Künstler als vollwertige Partner ansehen.

GÖTTERDÄMMERUNG

Es muss sich sehr dringend an der momentanen Situation etwas Grundlegendes ändern, da sich das Theater sonst selber abschafft, indem es die Vertreter des Kerngeschäftes zu Marionetten reduziert, die in einem vollkommen übersättigten Markt (es gibt immer mehr Absolventen und immer weniger Jobs) alles tun, um selber dran zu kommen. Dies führt zur Selbstausbeutung und dadurch zu einem Abfallen der Qualität, was wiederum fatal ist, da das Publikum immer noch hauptsächlich deswegen kommt, um die Performance von Künstlerinnen und Künstlern zu erleben. Nicht umsonst füllen bestimmte Kolleginnen und Kollegen einen ganzen Saal – unabhängig von anderen Parametern einer Produktion.

Man bedenke bitte auch, dass ohne Künstler – also einer Minderheit an jedem Theater – die Mehrheit keinen Job hätte.

WEHRET DEN ANFÄNGEN!

Das Kerngeschäft und deren Vertreter müssen daher wieder gestärkt werden. Arbeitsabläufe müssen so strukturiert sein, dass jeder einzelne Mitarbeiter eines Theaters, den Blick auf die künstlerische Produktion gerichtet hat. Die Unternehmenskultur eines Theaters muss derart geprägt sein, dass ein angstfreies Arbeiten garantiert ist. Vertrauen muss die Basis für alles sein.

Wenn dies nicht wiederhergestellt werden kann, ist spätestens in 20 Jahren Schluss mit den deutschen (Stadt)theatern. Übrig bleiben wird ein Rest von ein paar Häusern in internationalen Metropolen, vielleicht noch das eine oder andere Festival in noblen Ferienregionen. Doch auch deren Bestehen wird gefährdet sein, da es schlicht keine Ausbildungs und – trainingsstätten für die Künstlerinnen und Künstler geben wird. Die MET in New York, die Bayerische Staatsoper oder das ROH Covent Garden sind abhängig von den vielen größeren, mittleren und kleineren Theatern, die es überhaupt den Kolleginnen und Kollegen ermöglichen, Erfahrungen zu sammeln, um fit für Hauptrollen an internationalen Spitzenhäusern zu sein. Der von mir sehr verehrte Jonas Kaufmann etwa hat an kleinen Häusern, wie z.B. am Stadttheater Klagenfurt, angefangen. Sein erster Vertrag war nicht in München oder an der MET und es gibt keinen Dirigenten, dessen erstes Dirigat nach dem Studium bei den Wiener Philharmonikern war.

Ich bin überzeugt davon, werte Leserinnen und Leser, dass Theater Zukunft hat und tatsächlich haben muss, da es ein essentieller Bestandteil unserer Gesellschaft ist und zudem substantiellen volkswirtschaftlichen Nutzen hat, jedoch muss ein radikaler Sinneswandel bei den Verantwortlichen stattfinden.

KÄRNTENS MUSENTEMPEL UNTER DIETMAR PFLEGERL

Auch als persönliche Verbeugung vor dem großen Theatermacher, Dietmar Pflegerl, bei dem ich als Sänger gleich nach meinem Studium zwischen 2004 und 2006 am Stadttheater Klagenfurt mehrere Produktionen singen durfte, möchte ich sein 14jähriges Wirken in Klagenfurt kurz beleuchten.

Dietmar hat ein Provinztheater mit mittelmäßiger Auslastung übernommen und es in wenigen Jahren, zu einem international beachteten Haus – Produktionen gingen sogar an die Salzburger Festspiele – mit einer Auslastung von über 98% gemacht. Die Stadt Klagenfurt hat ca. 96.000 Einwohner, das ganze Land Kärnten hat mit ca. 550.000 Bürgern weniger Einwohner als die Stadt Dortmund und unter Dietmar Pflegerl gab es über 5000 (!) Abonnenten. Das Rezept für den Erfolg war sehr einfach: man konzentrierte sich auf das Kerngeschäft. Mit Heide Rabal hatte er eine hochkompetente Opernleiterin und er selber kümmerte sich um das Schauspiel. Die Inszenierungen in Klagenfurt waren allesamt “modern”, doch hatten sie immer echte Qualität und erzählten eine Geschichte. Die Künstlerinnen und Künstler wurden hervorragend behandelt und das Publikum wurde ernst genommen. So hatte etwa meine erste Produktion dort, “Il Giasone” von Cavalli – kennen Sie diese Oper? – 13 ausverkaufte Vorstellungen und eine zusätzlich Eingeschobene. Dies in Klagenfurt, einer provinziellen Kleinstadt im wirtschaftsschwachen Süden Österreichs, eingeklemmt zwischen dem Alpenhauptkamm und den Karawanken. Ja – und Dietmar sprach auch mit der Putzfrau und war jeden Tag im Haus unterwegs. Er lebte internes Marketing und er verstand, dass “seine” Künstler der Schlüssel zum Erfolg sind.

Wohin wird unser Theater gehen? Was ist noch alles möglich? Was können wir GEMEINSAM erreichen?

MEIN AUFRUF ZUR SOLIDARITÄT!

Ich lade Sie, geschätztes Publikum, ein, sich verstärkt in die Diskussion um unsere Theater einzubringen. Sie sind der Grund, warum wir Theater machen. Wir wollen Sie berühren und verzaubern. Wir benötigen Ihre Unterstützung, um für uns alle dieses einzigartige Kulturerbe nicht nur zu erhalten, sondern weiter zu entwickeln. Lassen Sie Ihre Stimmen hören, positionieren Sie sich. Vor allem aber: treten Sie in Dialog mit uns und lassen Sie uns gemeinsam an der Zukunft unserer Theater arbeiten.

Allen Kolleginnen und Kollegen, vom Reinigungspersonal bis zur Intendantin und zum Intendanten, rufe ich zu: lasst uns bitte wieder gemeinsam an einem Strang ziehen! Lasst uns kommunizieren! Konzentrieren wir uns auf das Kerngeschäft und kreieren wir unzählige Musentempel, als Leuchttürme der Kunst und Brennpunkte einer intakten Zivilgesellschaft.

An die verantwortlichen Politiker appelliere ich: erkennen sie die volkswirtschaftliche Bedeutung eines Theaters und unterstützen sie eine Kunstform, die nachweisbar ein wichtiger Kitt für eine funktionierende Zivilgesellschaft ist. Stehen Sie progressiven Konzepten offen gegenüber und fordern Sie vor allem von Theaterleitern ein, das Gemeinsame zu suchen, zu fördern und auszubauen.

So kann eine nachhaltige Erneuerung der Musentempel gelingen – zum Wohle aller!

Über den Autor

Christian Sist studierte Gesang und Betriebswirtschaft mit den Schwerpunkten Strategie, Ablaufmanagement und Finanzstrategie in London und ist ausgebildeter Life-Coach. Seine Tätigkeiten als Opernsänger, Unternehmensberater, Coach und Sprecher beflügeln sich untereinander. Der rote Faden ist die Freude an Kommunikation und an der Veränderungen von Strukturen. Jeden Tag Menschen zu berühren und zu inspirieren ist Berufung. Im September hat er die Funktion des Botschafters für den Bereich Oper für art but fair von der gefeierten Mezzosopranistin Elisabeth Kulman übernommen. Sind sind herzlich eingeladen mit Christian Sist in Kontakt zu treten!

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5 Gedanken zu „Kommt es zur Götterdämmerung des deutschen (Stadt)theaters oder finden wir doch den Mut zur Marke?&8220;

  1. Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser,

    mein Unmut über den Versuch der GDBA (Gewerkschaft der Bühnenangehörigen), meinen Beitrag für ideologische und vollkommen themenfremde Zwecke zu vereinnahmen wird Ihnen nicht entgangen sein.

    Ich möchte nochmals klar festhalten:
    Es geht hier um eine Managementthema und NICHT um eine Neiddebatte oder um Umverteilung oder welche Abteilung eines Theaters wichtiger oder weniger wichtig ist.

    Für mich ist klar: absolut alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eines Theaters tragen gleichermaßen zu einem funktionierenden Betrieb bei.

    Jedoch gibt es Managementansätze, die berücksichtigt werden müssen, um das Produkt erfolgreich zu vermarkten. Ich habe diese nicht erfunden, sondern diese lediglich auf ein Theater umgelegt.

    Sehr gerne diskutiere ich darüber, ob ich mich vielleicht geirrt habe, in meiner Analyse in Bezug auf die Kernkompetenzträger. Jedoch verwehre ich mich gegen eine derartige Vereinnahmung, wie sie die „GDBA Hauptgeschäftsstelle“ vorgenommen hat.

    CS.

  2. Lieber Christian Sist,

    die GDBA vertritt nicht nur Solisten, sondern alle Beschäftigten auf NV Bühne. Also auch künstlerisch-technisches Personal, Chor und Tanzgruppe. Und ebenso Freischaffende, die als Gäste oder/und in der freien Szene arbeiten. Mit den Zahlenangaben sollte nur gezeigt werden, dass Künstler keine Minderheit am Theater darstellen. Und alle Berufe haben ihre spezifischen Herausforderungen und Problemlagen. Aber selbstverständlich sind für die GDBA intakte Solisten-Ensembles von besonderer Bedeutung.

    An einer Musiktheateraufführung sind doch alle Abteilungen gleichberechtigt beteiligt – keiner kann ohne den anderen Theater machen. Und in Situationen von Etatkürzungen leiden alle Gewerke unter Personalabbau und hoher Arbeitsbelastung. Mit den genannten Zahlen sollte nur gezeigt werden, wie groß die Anzahl der von Ihnen benannten Kernkompetenzvertreter ist. Aber ist so eine Rechnung, die nur von Etatkürzungen betroffene Berufsgruppen untereinander vergleicht, überhaupt angemessen?

    Denn nicht nur an den Theatern erleben wir derartige Zustände. Andere Einrichtungen wie Museen oder Schulen sind ebenso betroffen. Diese Auswirkungen struktureller Unterfinanzierung lassen sich nicht nur durch besseres Management lösen. Auch Kommunen und Länder sind häufig nur noch Getriebene. Hier sind Fragen grundsätzlicher Art zu stellen – z. B die nach Bildungs- und Verteilungsgerechtigkeit.
    Nichts für ungut.

    1. Liebe GDBA (seltsam übrigens, dass man nicht mit Namen unterschreiben kann, da – wie ich bereits herausgefunden habe – auch andere Mitglieder etwas befremdet, ob dieser Posts sind und es sich daher wohl eher um eine „Einzelmeinung“ handelt, vor allem, da es am Wochenende wohl kaum die Möglichkeit geben wird, ein Gremium einzuberufen),

      es ist mir im Falle dieses Artikels egal, wen die GDBA sonst noch vertritt.

      Der Artikel deklariert sich gleich zu Beginn als einer, der nicht ideologisch, politisch oder emotional werten, sondern ein MANAGEMENTTHEMA sachlich behandeln will.

      Daher würde ich höflich ersuchen, dass die „GDBA Hauptgeschäftsstelle“ doch bitte etwas posten möge, was tatsächlich mit dem Artikel zu tun hat. Sehr gerne lasse ich mich auf eine Diskussion über das Kerngeschäft und dessen Kompetenzträger ein!

      Beste Grüße
      die „Christian Sist Hauptgeschäftsstelle“.

  3. „Die Personalkosten für Schauspieler, Sänger und Tänzer stellen, je nach Struktur des Hauses, einen niederen bis mittleren einstelligen Prozentsatz dar. Das bedeutet, dass 90% – 95% des Budgets eines typischen, deutschen Theaters nicht in die Vertreter des Kerngeschäftes fließen.“

    Für das durchschnittliche 3-Spartenhaus – hier am Beispiel Dortmunds – ergibt sich anhand der Zahlen der Theaterstatistik Spielzeit 12/13 des Bühnenvereins eine andere Rechnung:

    Ohne Leitungspositionen, Technik, Verwaltung, nichtdarstellendes künstlerisches Personal (also Dramaturgen, Regieassistenten, etc.), Aushilfen, Gäste, Beschäftigte auf Werkvertrag (Regie, Kostüm, Bühne, etc.) und Werkstätten verbleiben bei rund 32 Millionen Euro Gesamt-Personalkosten für die festangestellten Sänger, Tänzer, Schauspieler, Chorsänger und Musiker rund 12,6 Millionen Euro an Ausgaben. Das ist dann doch nahe an den 50 %.

    Für alle Theater gerechnet lauten dieselben Angaben wie am Beispiel Dortmunds:
    – Gesamtpersonalkosten rund 2 Milliarden Euro
    – Kosten für Sänger, Tänzer, Schauspieler, Chorsänger und Musiker rund 690 Millionen Euro
    Hier sind auch die Schauspielhäuser ohne Chor und Orchester miteingerechnet. Macht immer noch ca. 34 %. Und hier sind noch nicht einmal die nichtdarstellenden oder musizierenden Künstler wie Dramaturgen, Regisseure oder Bühnen- und Kostümbildner mit eingerechnet.

    1. Liebe GDBA,

      als zahlendes Mitglied bin ich schockiert über Euren Beitrag (Erklärung dazu weiter unten).
      Als Betriebswirt kann ich nur sagen: „Facepalm“.

      Kurz zwei Punkte zur Klarstellung bzw. zum Nachdenken:

      1. Ich rede auf FINANZIELLER Ebene von „Schauspielern, Sängern und Tänzern“. Bitte rechnet einmal, was das Dutzend Ensemblemitglieder der Oper in Dortmund kosten. Ihr werden auf ca. 1,50% des Gesamtbudgets kommen (wenn überhaupt).

      Dass das Orchester Millionen kostet ist wohl klar. Es sind ja auch an die 100 Mitglieder, die jede Saison ein irres Pensum an Programm auf höchstem Niveau leisten.

      Ich schrieb, dass diese Personen (Sänger, Schauspieler, Tänzer) und NICHT die Klangkörper – die sind ja, wie die GDBA wohl weiß, nicht nach NV-Solo beschäftigt – einen sehr geringen Prozentsatz des Budgets verbrauchen und dass diese Gruppen am wenigsten geschützt sind, obwohl sie die Träger der Kernkompetenzen sind.

      2. Ich finde es mehr als bedenklich, wenn der einzige Kommentar, den die Gewerkschaft, die uns nach NV-Solo angestellten vertreten sollte, derartig ist. Was wollt Ihr damit zum Ausdruck bringen?

      Gibt es sonst nichts zu sagen? Findet ihr die Situation in Ordnung? Gibt es nichts zu verbessern? In welche Richtung stoßt Ihr mit diesem Kommentar? Was wollt ihr damit bewirken?
      Eine gute Werbung für neue Mitglieder ist das auf jeden Fall nicht…

      „FACEPALM“
      http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/3/3b/Paris_Tuileries_Garden_Facepalm_statue.jpg

      Und nochmals, für die, die es nicht verstanden haben oder nicht verstehen wollen: die Vertreter der KERNKOMPETENZ im Sinne von C.K. Prahalad sind: in einem Opernhaus die Sänger, in einem Schauspielhaus die Schauspieler beim Ballett die Tänzer, bei den Philharmonikern, die einzelnen Musiker.

      Dies ist keine Wertung für oder gegen eine einzelne Gruppen eines Theaters. Es geht bei meinem Artikel um die Entwicklung von Marken und welche Kernkompetenzen hierzu besonders beachtet werden müssen und wonach sich die gesamte Organisation orientieren sollte.

      Es geht nicht um Ideologie, Politik oder Interessenvertretungen!
      Es ist geht um Management. Ich hoffe, das ist nun klar.

      Ihr habt leider das Thema verfehlt und Euch selber einen Bärendienst erwiesen.
      Trotzdem: schönen Abend!

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