Dorothee Oberlinger, ausgewiesene Expertin für Barockmusik und selbst Flötistin, dirigierte mit dem Beethovenorchester mit Olga Watts am Cembalo eine federleichte und spannende Version von Händels letzter Oper, der Geschichte um die Zauberin Alcina, die den Verlust ihrer Zauberkräfte erleiden muss. In der Koproduktion der Oper Bonn mit der Oper Nürnberg entfaltete der Nürnberger Intendant Jens Daniel Herzog als Regisseur eine überzeugende Dramaturgie mit Hilfe von sechs Tänzern, die das Premierenpublikum am 10. November 2024 zu stürmischen Ovationen, auch für das Regieteam und vor allem für die Dirigentin, hinriss. (Rezension der Premiere v. 10.11.2024)
Barockopern, vor allem, wenn es um Zauberinnen geht, verwirren zunächst mit der Vielfalt der Verkleidungen und Verwandlungen und dem Spiel mit den Geschlechterrollen. So ist die Zauberin Alcina zweifelsfrei eine Frau, ihr Geliebter Ruggiero ein Mann, der von einer Frau gespielt wird oder von einem Countertenor verkörpert, ihre Schwester Morgana eine Koloratursopranistin, die ihren Geliebten Oronte dadurch eifersüchtig macht, dass sie sich in die als Mann Ricciardo verkleidete Bramante, Ruggieros für Alcina verlassene Verlobte, verliebt, die Ruggiero bei Alcina sucht und ihn aus ihren Fängen befreien möchte. Und da ist noch Oberto, ein junger Mann, von einer Frau gesungen, der seinen von Alcina in einen Löwen verwandelten Vater – ein Meisterwerk der Requisite – sucht. Die einzigen Männerstimmen sind Oronte (Tenor), und Melisso, der sich auch mal als Atalanta verkleidet (Bass). So weit das Libretto von Luigi Broschi nach „L´ísola d´Alcina“. Die Oper „Alcina“ war Händels letzte Oper, in der er auf lange Rezitative verzichtete, dafür aber neben vielen Arien, die alle mit Verzierungen wiederholt werden, einen Eingangschor und einen Schlusschor und vor allem zahlreiche Tanzszenen komponierte. Die Handlung ergibt sich allein aus den Gefühlsschwankungen und Intrigen der Protagonisten. Viel Spannung hatte ich nach dem Hören von Einspielungen nicht erwartet.
Als Intendant Dr. Bernhard Helmich persönlich 7 Minuten nach dem geplanten Beginn der Vorstellung vor das wartende Publikum trat, war jedem klar, dass eine gravierende Komplikation eingetreten sein musste. Die Darstellerin des Ruggiero, Charlotte Quadt, hatte sich am Vormittag krankgemeldet, und der Ersatz – ein Mann, der Countertenor Ray Chenez – war noch nicht aus Wien, wo man ihn angetroffen hatte, eingeflogen. Grund war, dass die Airline sich geweigert hatte, einen Passagier, dessen Ticket erst eine Stunde 50 Minuten vor Antritt des Fluges gebucht worden war, zu befördern. Man hatte den Flug auf einen späteren Termin nach Frankfurt umgebucht, und der Sänger befand sich auf dem Weg nach Siegburg-Bonn. Es war geplant, dass Chenez aus dem Orchestergraben singen sollte und der Regisseur Jens Daniel Herzog in Maske und Kostüm des Ruggiero szenisch agieren. Um eine weitere Verzögerung des Beginns zu vermeiden, hatte Frau Quadt sich allerdings bereit erklärt, die Partie doch noch anzutreten und sich später ablösen zu lassen.
Regisseur Jens Daniel Herzog und sein Bühnenbildner Mathis Neidhardt schufen ein Refugium der Wärme und des Komforts im Stil einer feudalen Villa, gemütlich ausgeleuchtet von Max Karbe, abgeschirmt von der rauen Wirklichkeit, in dem Alcina und ihr Hofstaat agierten und chice Parties feierten. Alcina und Morgana im glitzernden Abendkleid, Ruggiero und die Festgesellschaft im Frack – die Kostüme von Sibylle Gädicke drückten aus, dass man sich in einer abgehobenen feudalen Oberschicht in der Zwischenkriegszeit der zwanziger Jahre befindet, die verdrängt, dass der nächste Krieg nicht lange auf sich warten lassen wird. Ruggiero wurde von Bradamante, seiner als Mann Ricciardo verkleideten Verlobten (Anna Alàs i Jové) und dem Bass Pavel Kudinov als seinem Ziehvater Atalanta im Militärmantel mit Pickelhaube, erfolgreich ermahnt, sich den Pflichten eines Mannes zu stellen – Familie gründen und Soldat werden, was von den Tänzern szenisch umgesetzt wurde. Nach einem letzten deprimierenden Geschlechtsakt, in dem er sie nur noch benutzt, kann Ruggiero sich erfolgreich von Alcina lösen und leitet damit ihre Entzauberung ein. Mit Alcinas Arie „Ah mio cor“, die den Verlust ihres Geliebten und ihrer Zauberkraft gleichermaßen beklagt, wurde das Publikum nach zwei Stunden in die Pause entlassen.
Händels letzte Oper, uraufgeführt am 16. April 1735 im Covent Garden Theatre, London, besteht zwar überwiegend aus Solo-Arien, kurzen Rezitativen, wenigen Chorstellen und einem einzigen Terzett, aber die Protagonist*innen durchlaufen die intensivsten Emotionen, vor allem die Titelheldin Alcina, virtuos verkörpert von Marie Heeschen, die anfangs das Liebesglück mit Ruggiero euphorisch besingt, dann aber den Verlust ihrer Magie mit immer schrägeren Harmonien beklagt. Das in Barockopern übliche „lieto fine“ bleibt für sie aus, denn die Zauberin wird entzaubert und bleibt machtlos und frustriert zurück. Der Schlusschor in der Einstudierung von André Kellinghaus drückt allerdings die Freude der befreiten von Alcina verzauberten Männer aus, die sie in einen Löwen, einen Stein oder eine Welle verwandelt hatte – ein treffendes Bild dafür, wie manche Männer sich in erotischen Beziehungen zum Narren machen.
Alcinas Liebhaber Ruggiero wurde im Original von einem Kastraten gesungen. Echte Kastraten wie Carestini, dem Händel die Partie auf den Leib schrieb, oder Farinelli, die als Knaben kastriert wurden, damit sie nicht in den Stimmbruch kamen, gibt es heute nicht mehr – gefährliche Körperverletzung! Die Countertenöre, die solche Rollen heute singen, arbeiten mit ihrer Kopfstimme, was nicht der Technik eines Kastraten entspricht, der die Bruststimme eines Knaben im Körper eines Mannes hatte. In Bonn hat man sich entschieden, die Rolle mit der wundervollen Mezzosopranistin Charlotte Quadt zu besetzen, die der Partie nichts schuldig blieb. Im Frack wie im Militärmantel sah sie aus wie ein sehr attraktiver junger Mann, und bei der stilsicheren Gestaltung ihrer Arien rührte sie zu Tränen.
Ruggieros Verlobte Bradamante alias Riccardo ist eine Frau, Anna Alás i Jove, die sich auf offener Bühne als Mann verkleidet. In den verliebt sich Morgana (Gloria Rehm), Alcinas Schwester, und brüskiert damit ihren Liebhaber Oronte, den Tenor Stefan Sbonnik. Der junge Oberto, der seinen in einen Löwen verwandelten Vater sucht, Nicole Wacker, ließ aufhorchen. Morgana hat die schönsten Koloratur-Arien, und es wurde durchgehend hervorragend gesungen, wozu die von Oberlinger instrumentierte Basso-continuo-Begleitung viel Farbe beitrug. Sie setzte die Instrumente des Beethoven-Orchesters und zusätzlich eine Laute und eine Blockflöte (die sie selbst spielte) typgerecht ein. In Barockopern ist die Begleitung der Arien nur grob skizziert, und die Dirigentin hat die Freiheit, die Generalbasslinie je nach Fähigkeit des Orchesters zu instrumentieren und dabei zum Beispiel auch Rezitative zusätzlich zum Cembalo mit drei Kontrabässen zu begleiten. Dabei hat sie eine ungeheure Farbigkeit geschaffen. Die meisten Einspielungen besetzen Ruggiero mit einer Mezzosopranistin und verwenden, wie Oberlinger in Bonn, moderne Instrumente.
Die sechs exzellenten Tänzer Chayen Blandon-Duran, Luca Graziosi, Aron Nowak, Antonio Rosetta, Felix Schnabel und Victor Zapata tanzten die Handlung visualisierend in einer wundervollen Choreografie von Ramses Sigl. Das Gesamtkunstwerk, man könnte auch gelungenes Regietheater sagen, überzeugte auf der ganzen Linie und riss das Publikum zu stehenden Ovationen hin. Für mich war es eine Reflektion über die Macht der Erotik, in der Händel in seiner Tonsprache die Grenzen seiner Zeit sprengte, was die Dirigentin noch unterstrich.
Der Regisseur in der Maske des Ruggiero ist dem Premierenpublikum übrigens erspart geblieben, denn Charlotte Quadt hielt ihre Partie stimmlich in bester Verfassung durch. Intendant Dr. Bernhard Helmich stellte bei der Premierenfeier als erstes den Mann vor, der nicht zum Singen gekommen war: Ray Chenez habe am 10.11.2024 vermutlich eine der aufregendsten Reisen seines Lebens hinter sich gebracht und kam eine Stunde nach Beginn der Vorstellung an. Für Liebhaber von Barockopern ist diese „Alcina“ ein echtes Highlight mit einer psychologisch schlüssigen Umsetzung, denn es ist Händels modernste Oper mit Chor und Tanz und in Bonn von Dorothee Oberlinger, dem Beethoven-Orchester und dem Ensemble ungewöhnlich facettenreich musiziert und vom Regieteam mit sechs Tänzern dramaturgisch spannend umgesetzt. Die Oper wird am 16. März 2024 in Nürnberg übernommen und vom BR Klassik live übertragen.
- Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Oper Bonn / Stückeseite
- Titelfoto: Oper Bonn/ALCINA/Charlotte Quadt, Marie Heeschen/Foto © Bettina Stöß