„Chief Hijangua“: Erste Oper Namibias feiert Europapremiere

RSB/ Oper Chief Hijangua/ Foto © Peter Meisel

Wie viel wissen Sie eigentlich über die deutsche Kolonialgeschichte im damaligen „Deutsch-Südwestafrika“, liebe Lesende? Die Chance, dass ein Großteil der Deutschen diese Frage mit breitgefächerter Sachkenntnis beantworten kann, ist – mit Verlaub und das bezieht die Autorin dieser Zeilen mit ein – recht gering, spielen Kolonialaktivitäten des Deutschen Reiches doch bis heute in Lehrplänen und gesellschaftlichem Diskurs eine untergeordnete bis gar keine Rolle. Die Oper „Chief Hijangua“, die in Berlin am Wochenende ihre Europapremiere feierte, aus der Feder von Eslon Hindundu mit einem Libretto von Nikolaus Frei, setzt genau an dieser Stelle an – und endet dort, wo der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts begann. (Besuchte Vorstellung am 16. September 2023)

 

Sandiger Boden, graue Felsen: Eine karge Wüsten- und Felsenlandschaft erstreckt sich über die weite Bühne des Großen Sendesaals im Haus des Rundfunks. Sie ist die Heimat des jungen Prinzen Hijangua. Unglücklich in die Frau seines Bruders verliebt und mit der Familie zerstritten, verlässt der Königssohn sein Dorf. Nach einsamen, mystischen Nächten in der Wüste trifft er auf deutsche Missionare. Alsbald lässt sich Hijangua taufen und kehrt, angestiftet vom Pastor, in sein Heimatdorf zurück. Dort kommt es zu einem fatalen Zerwürfnis zwischen ihm, dem Vater und Bruder. Fast zeitgleich erreichen deutsche Soldaten, die Hijangua heimlich gefolgt sind, das Dorf. Schüsse fallen. Tragödien auf allen Ebenen. Der Anfang vom Ende. Damit bietet „Chief Hijangua“ eine fast einmalige Perspektive in der Opernlandschaft des 21. Jahrhunderts, die noch immer sehr eurozentrisch geprägt ist und Kulturgut pflegt, dass außereuropäische Kulturen zumeist exotisierend bis rassistisch betrachtet.

RSB/ Oper Chief Hijangua/ Foto © Peter Meisel

Die Geschichte der ersten namibischen Oper basiert dabei auf sehr realen Erlebnissen. Vor 140 Jahren, im Oktober des Jahres 1883, erwirbt der Bremer Kaufmann Adolf Lüderitz das erste Land im Südwesten des afrikanischen Kontinents. Knapp ein Jahr später erklärt das Deutsche Reich die Lüderitz-Besitzungen zunächst zum „Schutzgebiet“ und kurz darauf zur Kolonie „Deutsch-Südwestafrika“. So beginnt die Kolonialgeschichte des heutigen Namibias (und Teilen Botswanas). Rund 30 Jahre besetzen die Deutschen das Land. Als Anfang des 20. Jahrhunderts die Völker der Herero und Nama in einen Aufstand gegen die Besatzer treten, rächen diese sich mit Massakern in der Wüste. Wer überlebt, kommt in Konzentrationslager. Bis 1915 sterben so etwa 80 Prozent der Bevölkerung. Es ist der Ursprung eines Traumas, das Generationen prägen wird.

„Chief Hijangua“, entstanden aus der Kooperation eines namibischen Komponisten und eines deutschen Librettisten, versucht die Kulturen von Opfern und Tätern zusammenzubringen, erzählt die Geschichte aus der oralen Tradition der Herero vermischt mit deutschen Erzählungen. So werden große Teile der Oper auf Otjiherero gesungen; nur die deutschen Missionare und Soldaten singen auf Deutsch. Dabei werden auch die Deutschen von namibischen und südafrikanischen Sänger:innen verkörpert. Diese in dieser Form ungewöhnliche Umkehr der Rollenbesetzung schafft eine neue, interessante Ebene in der Betrachtung. Unwillkürlich fragt man sich, wie viel Wirklichkeit und Vorurteil in den bierliebenden, Wuppertal-vermissenden Deutschen, die ihr geliebtes „starkes, kaltes, klares Schießgewehr“ besingen, liegt. Ein Außenblick sowohl auf das Deutschsein als auch die Darstellung von anderen Kulturen in der vermeintlichen Hochkultur, der nachdenklich stimmt.

Musikalisch schafft Eslon Hindundu in seiner ersten Opernkomposition eine faszinierende Mischung aus namibischen Liedern und europäischen Klängen. Fast wie Mozart, dann ein paar Beethoven-Anklänge: Während die Tonsprache der Oper eher traditionell ist, bindet Hindundu immer wieder geschickt namibische Trommelrhythmen ein, die „Chief Hijangua“ unmittelbar geografisch verorten. Bestes Beispiel dafür ist das Vorspiel, indem sich langgezogene Horn-Soli mit Trommelklängen abwechseln. Am Pult der Europapremiere der Oper – sie wurde im vergangenen Jahr in Windhoek uraufgeführt – steht der Komponist selbst. Gemeinsam mit den Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin schafft er einen leichten und lichten Klang, der die Sänger:innen einhüllt und dennoch eindrückliche Akzente setzt.

RSB/ Oper Chief Hijangua/ Foto © Peter Meisel

Gesanglich sticht besonders Sakhiwe Mkosana, ein junger südafrikanischer Bariton, aus dem Ensemble heraus. Mit großer Leidenschaft formt er die Rolle des Hijangua. Ihm zur Seite stehen Janice van Rooy als seine eine geliebte Matjiua, Galilei Uajenenisa Njembo als sein Bruder Nguti und Monde Masimini als sein Vater sowie die deutschen Missionare darstellenden Natasha Kitavi als Maria, Rheinaldt Tshepo Moagi als Hauptmann und Yonwaba Mbo als Pastor. Begleitet werden sie dabei durch den Cantus Domus Chor aus Berlin und dem Vox Vitae Musica Chor aus Namibia.

Menschliches und unmenschliches: In der Inszenierung von Kim Kira Meyer und Michael Pulse erzählen sie gemeinsam nicht nur eine Geschichte von Identitätssuche und Instrumentalisierung, sondern auch von Macht und Ausbeutung. Dabei legt das Regieteam wert, auch das Tieferliegende sichtbar zu machen. Es sind nicht nur die zwischenmenschlichen Beziehungen und das Aufeinandertreffen verschiedener Weltanschauungen, die zum mörderischen Konflikt führen, sondern vor allem die metallglänzenden Stäbe, die das Bühnenbild (von Felicia Riegel und Tanya Turipamwe Stroh) durchziehen. Sie stehen für die Bodenschätze – zur Kolonialzeit vor allem Diamanten und Kupfer sowie die enttäuschte Hoffnung auf Gold – für die die deutschen Besatzer nicht nur sprichwörtlich über Leichen gehen.

RSB/ Oper Chief Hijangua/ Foto © Peter Meisel

„Chief Hijangua“ ist eine Introspektive – in die namibische wie die deutsche Geschichte, in Gesellschaftsformen, das menschliche Miteinander. Man kann der Oper nur wünschen, dass sie bald auch in anderen deutschen und namibischen Orten zu sehen sein wird. Dass sie schafft, was man der Musik so gerne zuschreibt: Zusammenführt und aufklärt, Einsicht schafft und neue Türen zum Dialog öffnet. Es ist an der Zeit auch in Deutschland über dieses dunkle Kapitel der Vergangenheit zu sprechen.

 

 

  • Rezension von Svenja Koch / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • RSB-online / Stückeseite
  • Titelfoto: RSB/ Oper Chief Hijangua/ Foto © Peter Meisel
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