Amina ist eine der ganz großen Rollen des Belcanto und steht in einer Reihe mit Norma und Lucia di Lammermoor. Alle anderen Sängerinnen und Sänger verblassen vor dem grausamen Schicksal der Heroine, die mit maximaler Fallhöhe die Höhen und Tiefen einer jungen Frau zu Beginn des 19. Jahrhunderts durchlebt. Johannes Erath gelingt eine kongeniale verdichtete Inszenierung. (Rezension der Premiere vom 26.02.2023)
Wie in den Romanen von Jane Austen oder auch in der Netflix-Serie „Bridgerton“ geht es im Libretto von Felice Romani nach Eugéne Scribe, das dieser nach der Comédie Vaudeville „La Villageoise somnambule ou Les deux fiancées“ von Armand d´Artois und Henri Daupin schrieb, ausschließlich darum, wer wen heiratet. Dabei spielen Besitz und Liebe die größten Rollen, wobei in der Regel die Liebe triumphiert. Bellini hat für das Teatro Carcano in Mailand ein filigranes Meisterwerk des Belcanto geschaffen, das immer fester Bestandteil des Repertoires war, weil es bei absolutem Vorrang der menschlichen Stimme exquisite Melodien enthält, die unter Aufbrechen der Grenzen zwischen Arie, Ensemble und Chor ideale Bedingungen zur Steigerung in große Gefühle bietet.
Die Handlung spielt in einem Schweizer Dorf am Fuß der Jungfrau, einem pastoralen Ambiente, wo die Dorfgemeinschaft ziemlich isoliert lebt. Elvino, der begehrteste und reichste Junggeselle des Dorfes, hat sich von seiner vorherigen Heiratskandidatin, Lisa, der Besitzerin des Dorfgasthofs, abgewandt, und will jetzt das arme, aber entzückende Waisenmädchen Amina heiraten, das von einer Müllerin aufgezogen wurde. Der Notar setzt den Ehevertrag auf: Elvino bringt Vermögen und Besitz mit in die Ehe, Amina nichts als ihr reines Herz.
Ein Fremder betritt das Dorf, es ist Graf Rodolfo, den Amina an eine frühere Bekannte erinnert. Eigentlich möchte er zum Schloss des Grafen, aber im Hinblick darauf, dass das Dorf eingeschneit ist, entschließt er sich, in Lisas Gasthof ein Zimmer zu beziehen. Zwischen ihm und Amina herrscht sofort eine eigenartige Vertrautheit. Elvino sieht das und wird rasend eifersüchtig. In der Nacht erscheint auf den Dächern ein Gespenst, das von den Dorfbewohnern als Spuk gedeutet wird.
Es ist jedoch Amina, die aus ihrem Anderssein in eine somnambule Zwischenwelt entflieht. In ihrer Schlafwandelei kann sie ihre wahren Gefühle ausdrücken. Sie endet schließlich in Rodolfos Kissen, wo Lisa sie am anderen Morgen findet: Amina hat ihren guten Ruf verspielt, Elvino verstößt sie und will statt ihrer wieder Lisa heiraten. Mit diesem Cliffhanger wird man in die Pause entlassen. Aber Teresa, Aminas Ziehmutter, hat ein Kleidungsstück Lisas in Rodolfos Bett gefunden.
Auf Bitten der Dorfgemeinschaft will Rodolfo Amina rehabilitieren, aber Elvino geht noch weiter und reißt ihr auch noch den Verlobungsring seiner Mutter vom Finger. Er will jetzt wieder Lisa heiraten, aber Teresa zeigt ihm Lisas in Rodolfos Zimmer liegen gelassene Kleidungsstück – jetzt ist Elvino von beiden düpiert. Er will Beweise. Da balanciert plötzlich in großer Höhe Amina auf schmalem Grat und beweint ihre verlorene Liebe. Sie darf auf keinen Fall geweckt werden, sonst wird sie abstürzen. In der literarischen Vorlage stellt es sich heraus, dass Rodolfo Aminas Vater ist, es spielt aber letzten Endes keine Rolle, weil alle, auch Elvino, Amina die Somnambulie glauben und sie in den Augen aller rehabilitiert ist.
„La Sonnambula“ ist ein Meisterwerk Bellinis, das mit exquisit komponierten Arien, Chören und Ensembles extreme Gefühle der Protagonisten ausdrückt. Vor allem Amina durchlebt die maximale Fallhöhe des zunächst von Elvino auserwählten armen Waisenkindes, das sein Glück nicht fassen kann, dann aber wegen ihres Schlafwandels unschuldig verstoßen und entehrt wird. Regisseur Johannes Erath findet dafür sehr plastische Bilder: das duftige weiße Brautkleid wird ihr buchstäblich vom Leib gerissen, und sie steht entblößt im Hemdchen da. Die Couleur Locale, das eingeschneite Bergdorf, wird in Videoprojektionen (Bibi Abel) gezeigt: eine rauschende Abfahrt mit Blick auf die Jungfrau, eingeschneite Wegmarken, heftige Schneestürme. Die zeitlosen Kostüme von Jorge Jara sind überwiegend schwarz oder in dunklen Lilatönen gehalten. Aminas Ziehmutter Teresa trägt ein Schneiderkostüm. Einige Statisten tragen Seppl-Hosen auf nacktem Oberkörper, ein ausgestopftes Rehkitz wird auf einem Tablett durch den Raum getragen, es spielt halt in einem Dorf in der Schweiz. Die Bühne (Bernhard Hammer) ist mit lila bezogenen Polsterblöcken möbliert, die Sofas oder auch das Bett Rodolfos darstellen. Zentral ist der weiß gedeckte Hochzeitstisch, an dem der Ehevertrag besiegelt wird.
Der bestens aufgestellte Chor in der Einstudierung von Patrick Francis Chestnut spielt eine zentrale Rolle, denn er formuliert die Erwartungen der Gesellschaft und ist mit den Arien der Protagonisten eng verwoben. Gerade in einem so beschränkten Biotop wie einem abgeschiedenen Dorf ist die Meinung der Mitmenschen enorm wichtig und die soziale Kontrolle oft erdrückend. Aus ihrem Elend kann Amina nur in die Somnambulie, eine anerkannte psychische Krankheit, ausbrechen.
Nur im Wahnsinn, in der Entrücktheit des Nachtwandelns, können junge Frauen wie Lucia di Lammermoor oder Amina ihre wahren Gefühle ausdrücken und ihr Glück imaginieren. In Wirklichkeit werden sie von ihren Vätern verschachert, von ihren Brüdern verkuppelt oder von ihren Bräutigamen aus nichtigen Gründen sitzen gelassen. Die Opernliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts ist voll von solchen Beispielen! Insofern abstrahiert Erath von der Couleur Locale und fokussiert die Handlung auf die sozialen Normen der Dorfgemeinschaft. Keine Alpenromantik, sondern der Chor als kompakter Block der sozialen Kontrolle. In der Schlussszene wird Amina gedoubelt: während eine Statistin als schlafende Amina auf der Bühne liegt singt Stacey Alleaume die große Schlussszene auf der oberen Bühnenebene über den Dächern des Dorfes.
Der Belcanto ist eine spezielle Gesangstechnik, die sich durch ein ausgeglichenes Stimmregister über die gesamte Tessitur, ein konsequentes Legato, Messa da voce sowie eine gewisse Ornamentik der Stimme auszeichnet. Große Opernhäuser unterhalten spezialisierte Ensembles für diese Kunstform. Eigentlich wird für die Amina ein Soprano sfogato gebraucht, ein Stimmfach, das heute Cecilia Bartoli mit ihrer Interpretation der Amina besetzt. Sie hat auch bei den Spitzentönen den verlangten weichen Ton, den die reine Lehre des Belcanto verlangt. Normal ist es jedoch, die Amina mit einem hohen Sopran zu besetzen. Die junge australische Koloratursopranistin Stacey Alleaume nutzt in ihrem Haus- und Rollendebut die Chance, in einer hinreißenden Rollengestaltung die Facetten der Amina auszuloten. Im ersten Aufzug merkt man ihr zwar mitunter die Anstrengungen an, die über das hohe C hinausgehenden Spitzentöne und Koloraturen zu bewältigen, aber in der Mittellage ist ihre Stimme perfekt und einschmeichelnd, und ihre entrückte Schlussarie „Ah! se una volta sola … Gran Dio … Ah! Non credea mirarti“ und die Cabaletta: „Ah! Non giunge uman pensiero“ sind Opernglück pur.
Edgardo Rocha ist ein echter Tenor spinto, der mit makellosen Koloraturen und scheinbar mühelosem Erreichen des obersten Registers sämtliche Qualitäten hat, die ein Elvino braucht. Mit seiner virtuosen Auftrittsarie „Prendi: L´anel ti dono“, die sich zum Duett mit Amina und mit dem Chor zur Cabaletta „Tutto, ah tutto in questi´stante“ steigert, beginnt eine glänzendes Belcanto-Fest. Bogdan Taloş als Rodolfo überzeugt mit makellosen Melodiebögen in erlesener Legato-Kultur. Für einen so sonoren Bass ist die Stimme erstaunlich beweglich.
In weiteren Rollen agieren Heidi Elisabeth Meier als Lisa, Valentin Ruckebier als Alessio und Boheon Mun als Notar.
Das Orchester hat dienende Funktion. Dirigent Antonino Fogliani kreiert mit den Düsseldorfer Sinfonikern perfekte Italianitá. Der verstörende Schluss, bei dem Amina ihre Liebe zu Grabe trägt, wird – gemäß den Regeln der Opera semiseria – noch vom lieto fine gefolgt, aber eigentlich traut man der Idylle nicht mehr.
Insgesamt ein beglückender Opernabend reinen Schöngesangs mit ergreifendem Happy End.
- Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Deutsche Oper am Rhein / Stückeseite
- Titelfoto: Oper am Rhein/LA SONNAMBULA/Foto @ Monika Rittershaus