Der Regisseur Jürgen R. Weber beweist mit dem wunderbaren Kinder- und Jugendchor der Oper Bonn erneut, dass er mit Arrangements klassischer Melodien für den Chor Geschichten erzählen kann. Mit dem syrischen Tenor und Komponisten Hussain Atfah, von dem zwei Kompositionen uraufgeführt wurden, gestaltete er ein interessantes Chorprojekt im großen Haus der Oper Bonn mit „drei Handvoll“ Musizierenden des Beethoven-Orchesters und mit arabischen Instrumenten wie einer Outh und Flöten unter der Leitung der Chorleiterin Ekaterina Klewitz, die auch die Arrangements geschrieben hat. Die Arabische Nachtmusik hebt sich deutlich von der zitierten klassischen Musik ab. (Ursula Hartlapp-Lindemeyer berichtet von der Vorstellung am 30. März 2023)
Regisseur Jürgen R. Weber hat zu der Kompilation verschiedener Musikstücke die Texte geschrieben, die in einer farbig-fremden Kunstsprache die Geschichte der Aoa illustriert.
Auf dem Planeten Aioù leben die Aoa, die nur von einer komplexen Maschinerie am Leben erhalten werden. Für sie bedeutet Wandel Gefahr, Individualismus ist schlecht für das Gemeinwohl, die Aoa werden von Maschinen mit risikofreier Luft versorgt. Es breiten sich Langeweile und Angst aus. Die Lieder, in denen der Traumsänger Feirefiz seine Migrationsgeschichte besingt, die arabische Nachtmusik, weckt in den Aoa die Sehnsucht, ihre sichere Welt zu verlassen und eine Reise mit Risiken wie Hunger, Kälte Krankheit und Tod auf der Suche nach Freiheit anzutreten.
Der Held dieser Geschichte, der Traumsänger Feirefiz, ist der syrische Sänger und Komponist Hussain Atfah, der als Tenor und Outh-Spieler mit dem Kinder- und Jugendchor verschiedene Ensembles gestaltet. Er singt unter anderem zusammen mit dem Chor die Arie des Pedrillo „Frisch zum Kampfe“ und Siegmunds „Ein Schwert verhieß mir der Vater“, Monolithen deutschen Kulturguts, und erweist sich als veritabler Heldentenor. Viel spannender sind seine eigenen Kompositionen, die er in arabischer Sprache vorträgt, und selbst mit der Outh begleitet. Einige Kinder und Jugendliche mit einem entsprechenden Migrationshintergrund verstehen die arabischen Texte und freuen sich, Musik aus ihrem Kulturkreis zu hören.
Diverse mit Texten unterlegte Adagios von Mozart, unter anderem das „Lacrimosa“ aus dem Requiem, illustrieren im Chorsatz die Langeweile der Aoa, zum Schluss endet alles im Janitscharenchor aus Mozarts Entführung aus dem Serail.
Die Kostüme von Tristan Jaspersen sind Mangas nachempfunden. Die pinkfarbenen Rucksäcke, die die Singenden mitunter vor dem Bauch, aber auch auf dem Rücken haben, tragen der Tatsache Rechnung, dass ganz viele Migranten mit Rucksäcken unterwegs sind.
Jugendoper
Das Projekt erfüllt ganz viele Kriterien einer guten Jugendoper:
- Die Vorstellung dauert nicht länger als 80 Minuten ohne Pause. Kinder und Jugendliche können sich nicht länger konzentrieren.
- Die Geschichte spricht das Publikum an, indem sie Musik aus Syrien mit europäischen Zitaten konfrontiert. Jugendliche mit Migrationshintergrund erkennen Musik und Sprache ihres Landes wieder.
- Es sind etwa 75 Kinder und Jugendliche des Kinder- und Jugendchors in zwei Besetzungen als Singende und als Sprechende aktiv beteiligt, die dieses Projekt sicher nie vergessen werden. Als Aufführender hat man lange Probenzeiten.
- Die große Bühne der Oper ist durchgehend mit einer aufwändigen Videoinstallation (Video von Gretchen fan Weber) und Requisiten illustriert, es gibt immer was zu gucken.
- Für begleitende Erwachsene (Eltern und Großeltern) gibt es zahlreiche adaptierte Stücke mit neu unterlegten Texten mit hohem Wiedererkennungswert.
- Es ist eine Art Road-Movie mit assoziierbaren Bezügen zur Wirklichkeit, und es wird eine Geschichte erzählt, bei der das Fremde als positiv bewertet wird.
- Die Musik Atfahs präsentiert die authentische Musiksprache seines Herkunftslandes. Sie wird kontrastiert mit Alla Turca-Musik von Mozart.
- Das Arabische repräsentiert in diesem Stück das Lebendige und Chaotische im Gegensatz zur sterilen und langweiligen Perfektion.
- Es gibt dazu Workshops, in denen Kinder und Jugendliche an das Musiktheater herangeführt werden und auch ermutigt, selbst zu musizieren und zu komponieren.
- Das Projekt bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte für die Besprechung der Kunstformen Chorgesang und Musiktheater im Unterricht.
Der Titel „Arabische Nachtmusik – ein musikalisches Traumspiel“ erhebt nicht den Anspruch, eine richtige Oper zu sein. Dazu ist die Handlung zu wenig spannend. Es fehlt ein echter dramatischer Konflikt. Am Anfang stehen zu viele Adagios von Mozart hintereinander, die Mozart selbst aus gutem Grund zwischen zwei schnellere Sätze gestellt hat. Ein Achtjähriger sagte, das sei langweilig gewesen, er sei fast eingeschlafen. Da ist man über das Ziel, Langeweile und Stillstand auszudrücken, hinausgeschossen. Drive kommt erst mit dem Auftritt des arabischen Sängers herein, der sich auf der Outh selbst begleitet. Der kam auch bei den Jugendlichen sehr gut an.
Frischer Wind
Ich sehe in der Produktion eine Parabel auf die Erstarrung des Musiktheaters in alten abgenutzten Ritualen, in die mit Musik aus einer anderen Kultur ein frischer Wind weht.
Für mich war die große Entdeckung der Musiker Hussain Atfah, der als Komponist, Outh-Spieler und blinder Sänger auf der ganzen Linie überzeugte. Er spielte den Blinden so gut, dass ein Schüler fragte, ob er wirklich blind sei – natürlich nicht! Atfah hat Gesang und Komposition in Lübeck studiert und beherrscht sowohl das Spektrum der europäischen Musik als auch der arabischen Musik.
Der Kinder- und Jugendchor der Oper Bonn, ursprünglich in der Spielzeit 1992/93 gegründet, um Partien für Kinder- und Jugendchor in Opern wie Carmen und Musicals wie Evita besetzen zu können, hat unter seiner Leiterin Ekaterina Klewitz mit 130 Mitgliedern längst ein eigenes Profil als Veranstalter von Kinder- und Jugendprojekten gewonnen. Hier musizieren junge Menschen für junges und älteres Publikum. Die Mitwirkung in diesem Chor ist ein Element individueller Förderung musikalisch begabter Schülerinnen und Schüler mit hohem Anspruch, die im Rahmen des Schulunterrichts nicht geleistet werden kann. Mehr zum Chor auf der Webseite des Theater Bonn.
Das Opernhaus war recht gut besetzt, unter anderem mit einer Gruppe von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund, die im Anschluss an die Vorstellung noch mit dem Regisseur diskutierten und die an einem zweitägigen Workshop zum Thema Musik und Komposition teilnahmen. Sie zeigten sich von der Aufführung begeistert. Vom altersgemischten Publikum kam lebhafter Applaus.
Mehr zu „Arabische Nachtmusik“ gibt es auf der Theater Bonn Webseite, auch mit Informationen in arabischer Sprache.
- Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Theater Bonn / Stückeseite
- Titelfoto: Theater Bonn/Arabische Nachtmusik/Foto © Thilo Beu
Veröffentlicht durch Stefan Romero Grieser in Vertretung für Detlef Obens.