Aalto Musiktheater Essen: „Parsifal“

Aalto Theater Essen / PARSIFAL/ Foto: Matthias Jung

„Durch Mitleid wissend“ – Roland Schwab holt Wagners „Parsifal“ in Essen in die Gegenwart

Man erlebt eine beklemmende Dystopie, in der die Sehnsucht nach Erlösung greifbar wird. Das Regieteam kreiert eine Bebilderung, die an einen Katastrophenfilm erinnert. Roland Schwab übertrifft mit seinem kühnen Regiekonzept alle Erwartungen und beschert zusammen mit den Essener Philharmonikern unter Andrea Sanguinetti dem Aalto-Theater Essen einen großen Erfolg bei Kritik und Publikum. (Besuchte Vorstellung am 18. April 2025)

 

Das letzte musikalische Werk Richard Wagners war das Bühnenweihfestspiel „Parsifal“, dessen Uraufführung am 26. Juli 1882 im Bayreuther Festspielhaus stattfand. Für die Uraufführung bei den zweiten Bayreuther Festspielen, die 16 Vorstellungen zeigten, hatte Ludwig II. Chor und Orchester der Münchner Hofoper zur Verfügung gestellt. Die Bühnen- und Kostümentwürfe, die Paul von Joukowsky für die Bayreuther Festspiele schuf, wurden dort bis 1933 beibehalten und sind überliefert.

Wagner hat in diesem fünfstündigen „Bühnenweihfestspiel“ christliche Liturgie und den Gedanken der Wiedergeburt aus dem Buddhismus mit Motiven aus allen möglichen Mythologien zu einer symphonisch-dramatischen Musik verwoben, die durch ihre einmalige Spiritualität die tiefsinnige Dichtung illustriert. Kerngedanke ist die „Erlösung“. Wir beten im christlichen Vaterunser: „Erlöse uns von dem Bösen“; es handelt sich also um einen zutiefst christlichen Gedanken. „Erlöser“ ist in diesem Werk der „reine Tor“ Parsifal, ein naiver junger Mann, der zunächst mit der Erwartung an ihn überfordert ist, später aber aufgrund seiner erwachten Empathie mit dem siechen Amfortas die Erkenntnis gewinnt, dass die nicht heilende Wunde des Gralsritters nur durch den Speer geheilt werden kann, der sie schlug. Es soll nach der Legende der Speer sein, den einer der Kriegsknechte auf Golgatha benutzt hat, um dem am Kreuz verstorbenen Christus die Wunde an der Seite zuzufügen. Den Speer hat Klingsor dem Gralskönig Amfortas entrissen, der durch die Verführungskunst des „teuflisch schönen Weibes Kundry“ im Zaubergarten abgelenkt war. Mit diesem Speer hat Klingsor Amfortas die nicht verheilende Wunde zugefügt, an der Amfortas qualvoll leidet. Amfortas ist die Erlösung von diesem Leiden prophezeit, und zwar durch einen „reinen Toren, durch Mitleid wissend“.

Aalto Theater Essen / PARSIFAL/ Foto: Matthias Jung

Das Böse wird verkörpert durch den Zauberer Klingsor, einen ehemaligen Gralsritter, der selbst danach trachtet, in den Besitz des Grals zu kommen. Dieser wundertätige Gral verjüngt, wenn er enthüllt wird, die Gralsritter. Allerdings leidet Amfortas unerträgliche Qualen, wenn die Zeremonie stattfindet. Schwab zeigt Amfortas mit ausgestreckten Armen wie einen Gekreuzigten in einem Pflegebett angebunden aufrecht hängend mit Schläuchen, aus denen sein Blut fließt, hoch über den Gralsrittern, die so entkräftet sind, dass sie sich nur noch mit Gehgestellen mühsam fortbewegen können. Nach der Zeremonie sind sie wieder kräftig und gesund, aber Amfortas („Ecce Homo“) hat höllische Qualen erlitten.

Das Vorspiel zum ersten Akt ist bebildert mit einem projizierten dichten grünen Wald in einer Videoinstallation von Ruth Stofer, durch den ein Wanderer, Parsifal, schreitet, dessen Rücken man sieht. Nach einiger Zeit sieht man nur noch verdorrte Äste und abgestorbene Bäume. Mit der Verwandlung zum ersten Akt hebt sich der Vorhang. Im ersten Akt steht das reichlich vorhandene Wasser für die Linderung der Qualen des Amfortas durch das Bad im See, es bedeckt den Boden des Raums, und Gurnemanz und die Gralsritter müssen durch das Wasser waten. Die Enthüllung des Grals wird bebildert durch das Zeigen des Schmerzensmanns Amfortas, der mit seiner dramatischen Wunde wie ein Kruzifix über der versammelten Gemeinschaft der Gralsritter, die in Keuschheit leben, schwebt. Der Text zur Gralsenthüllung zitiert die Heilige Wandlung im katholischen Hochamt. Parsifal versteht den Vorgang nicht, fragt auch nicht, und zieht weiter.

Der zweite Akt spielt in Klingsors Zaubergarten. Klingsor befiehlt Kundry, Parsifal, den „der Torheit Schild“ schützt, zu verführen. Nachdem er sich schon der Blumenmädchen erwehrt hat, erinnert Kundry ihn zunächst an seine Mutter Herzeleide, dann gibt sie ihm den ersten Kuss, durch den Parsifal hellsichtig wird und von tiefem Mitleid für Amfortas ergriffen. Weitere Verführungsversuche Kundrys wehrt er ab und kann dadurch Klingsors Reich zu Fall bringen und den heiligen Speer erlangen.

Aalto Theater Essen / PARSIFAL/ Foto: Matthias Jung

Im dritten Akt erschließt sich das Bild: es gibt Wasser nur noch in Kanistern – die Lebenskraft der Gemeinschaft ist erloschen, der Gründer Titurel ist verstorben und wird in einem Sarg getragen. Der Wanderer geht durch eine zerstörte Landschaft, überall liegen Wrackteile, er trägt eine Gasmaske, und man weiß nicht, welche Katastrophe hier stattgefunden hat. Zum Karfreitagszauber wird noch einmal kurz die grüne Aue gezeigt, die danach aber wieder verschwindet. Die Erlösung konkretisiert sich bei der Rückkehr Parsifals nach langer Irrfahrt, zu der Kundry ihn im zweiten Akt verflucht hat. Zunächst tauft Parsifal Kundry: „Die Taufe nimm, und glaub an den Erlöser“, dann wird der Gral für die Gemeinschaft der Gralsritter enthüllt, und danach die Wunde des Amfortas durch Berührung mit dem heiligen Speer geheilt. Parsifal übernimmt das Amt von Amfortas, aber er bleibt am Ende allein auf einem Trümmerteil zurück. Der Chor der Gralsritter singt aus dem Off zu weihevoller Musik: „Erlösung dem Erlöser“, dann verdunkelt sich die Bühne.

Roland Schwab hat mit seinem Bühnenbildner Piero Vinciguerra ein Konzept geschaffen, in dem eine bühnengroße technische Konstruktion, ein Gerüst eines torusförmigen Tunnels, von dem man einen Ausschnitt sieht, sich zum Zuschauerraum öffnet. Die Konstruktion erinnert an Illustrationen zu Einsteins Relativitätstheorie und ist durch Stangen und Lichtröhren durchsehbar. Der sichtbare Teil dieses Torus steht für den Kreislauf des Lebens, in dem das Geschehen um den Gral seinen Lauf nimmt und für den Ausspruch: „Zum Raum wird hier die Zeit“ des Erzählers Gurnemanz. Die Kostüme der Gralsritter sind trist, einfache dunkelgraue Mäntel, und Parsifal und Gurnemanz tragen zeitlose Wanderkleidung. Die Kostümbildnerin Gabriele Rupprecht drückte durch ein schmuckloses Gewand für die Gralsdienerin, ein verführerisches weißes Kleid für das „teuflisch schöne Weib“ im Dienst Klingsors als Verführerin der Gralsritter die Doppelnatur Kundrys aus.

Genial ist die Adaption der Installation des koreanischen Künstlers Nam June Park „TV- Garden“ aus dem Jahr 1974 für die Bebilderung von Klingsors Zaubergarten. Eine üppige Vegetation ist mit zahlreichen Farbfernsehern kombiniert, die wie Blüten aus den Pflanzen wachsen. Auf den Monitoren erscheinen simultan gleiche Bilder von Blüten, aber auch Bilder von Parsifal in verschiedenen Altersstufen und ein Christuskopf mit Dornenkrone aus einem mittelalterlichen Gemälde. Der häufige Bilderwechsel der Monitore steht suggestiv für Klingsors Zauberei, aber auch für Parsifals Gewinn an Selbsterkenntnis im Zaubergarten, wo Kundry ihn über seinen Namen und seine Herkunft aufklärt.

Herren des Chors und Extrachors des Aalto-Theaters verkörperten die Gralsritter, die Frauenstimmen und Kinderchor sangen aus dem Off. Die Chöre waren von Klaas-Jan de Groot, der Kinderchor von Patrick Jaskolka, gut einstudiert. Andrea Sanguineti deutete die weihevolle Musik detailreich und gab den Instrumenten der prachtvollen Essener Philharmoniker den Raum, sich in getragenen Tempi mit bewusst reduzierter Lautstärke zu entfalten.

Aalto Theater Essen / PARSIFAL/ Foto: Matthias Jung

Es war eine großartige Ensembleleistung, bei der Bettina Ranch als Kundry herausragte. Wie sie einerseits die erotische Verführerin des Amfortas, die Parsifal über seinen Namen und seine Herkunft aufklärt und ihm seine Mission erläutert, andererseits die lebenssatte, alte und müde Dienerin der Gralsritter verkörperte, war einfach nur eine phantastische schauspielerische Leistung mit einer stimmlichen Ausdruckskraft bis hin zum Schreien, die mich tief beeindruckt hat.

Die extrem lange Partie des Erzählers Gurnemanz, der Parsifal wegen einer sinnlosen Tötung eines Schwans tadelt, war bei Sebastian Pilgrim gut aufgehoben. Mit sonorem Bass und in hervorragender Textverständlichkeit erzählte er die Vorgeschichte. Als Amfortas eingesprungen war Ralf Lukas, der die Leiden des Gralsritters ergreifend zeigte. Den dämonisch geschminkten Klingsor verkörperte Karel Martin Ludvik.

Als Parsifal hat man den jungen amerikanischen Tenor Robert Watson eingesetzt, dessen physische Erscheinung sehr gut zur Rolle passte. Er stand die lange Partie des reinen Toren souverän durch und gestaltete Ariosi und Sprechgesang mit kraftvollem jugendlichem Heldentenor, allerdings waren die Vokale mitunter unschön gefärbt und einzelne Höhen wirkten angestrengt. Die übrigen Partien waren aus dem Ensemble typgerecht besetzt.

Das Aalto-Theater beeindruckt durch sein hervorragendes Solistenensemble, die Essener Philharmoniker, das 1988 eröffnete wunderschöne Gebäude des finnischen Architekten Alvar Aalto und seine Gastronomie, die für die beiden langen Pausen hinreichend Speisen und Getränke anbot. Was nicht hingenommen werden kann, sind technische Pannen. So hob sich der Vorhang nicht zum ersten Akt, sondern es wurden „technische Schwierigkeiten“ angesagt. Andrea Sanguinetti machte nach zehn Minuten Wartezeit mit dem Beginn des Akts weiter und man wurde um den Genuss des wunderbaren Übergangs gebracht. Während der zweiten Pause kam eine Durchsage, die die Verzögerung der Fortsetzung der Vorstellung um eine halbe Stunde „aufgrund technischer Probleme“ ankündigte. Die Vorstellung verlängerte sich also um 40 Minuten, was bei Besuchern, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs sind, fatal sein kann.

Roland Schwabs Einfall, das lebensspendende Wasser, das im dritten Akt streng rationiert ist, als Metapher für die bedrohliche Krise der Gemeinschaft zu verwenden, ist mit dem Wasser, durch das die Darstellenden im ersten und zweiten Akt waten müssen, ausgesprochen kühn, aber sehr suggestiv. Auch die Bilder von der zerstörten Natur zeigen von Anfang an, dass es hier um ein Anliegen geht, das die gesamte Menschheit, verkörpert durch eine kleine Gemeinschaft, betrifft. Lange Prozessionen der Gralsritter im Stil eines katholischen Hochamts, die für frühere Umsetzungen des „Parsifal“ typisch sind, verbieten sich wegen des Wassers von selbst, aber Wagners suggestive Musik transportiert so erst recht die Sehnsucht nach Erlösung. Das Ende bleibt offen.

Musikalisch überzeugend, mit dem kühnen Regiekonzept Schwabs, das tatsächlich zu jeder Zeit den Geist der Partitur respektiert, mitreißend, ergibt sich eine vor allem für Kenner des Stücks interessante Deutung, die hilft, die Aktualität von Wagners Bühnenweihfestspiel zu begreifen. Die Aufführungsdauer beträgt ohne technische Pannen mit zwei Pausen von 45 Minuten und 30 Minuten fünfeinhalb Stunden.

 

  • Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Aalto Theater Essen / Stückeseite
  • Titelfoto: Aalto Theater Essen / PARSIFAL/ B. Ranch, R. Watson/ Foto: Matthias Jung
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