Mit der Uraufführung seines Dramma lirico „Nabucco“ begründete Giuseppe Verdi am 9. März 1842 in Teatro alla Scala in Mailand seine Weltkarriere als Opernkomponist. Herausragend Ernesto Petti als Nabucco und die wahre Primadonna Marta Torbidoni als seine gekränkte Tochter Abigaille, Hit der Oper der Gefangenenchor „Va, pensiero, sull’ali dorate“, der die Sehnsucht eines verschleppten Volkes nach Heimat ausdrückt. Das Libretto von Temistocle Solera gibt Verdi die Steilvorlage, in einer grandiosen Nummernoper eine rasante Abfolge von Affektumschlägen in vier großen Tableaus zu steigern. Die musikalische und szenische Umsetzung fokussiert die Handlung auf den Kampf des Herrschers Nabucco mit seiner Tochter Abigaille um den babylonischen Thron und begeistert trotz der problematischen Spielstätte auf der ganzen Linie. (Besuchte Vorstellung: Premiere am 1.12.2024)
Vorlage der Handlung ist die Geschichte des babylonischen Königs Nebukadnezar, der 587 v. Chr. Jerusalem zerstörte und das hebräische Volk verschleppte, aus dem Buch Daniel des Alten Testaments, naturgemäß aus der Sicht der Hebräer. Sie erleben den Ursurpator als Tyrann, der sich nach seinem erfolgreichen Feldzug selbst überhöht und zum alleinigen Gott erklärt. Dafür wird er durch Gott vom Blitz getroffen und verfällt dem Wahnsinn. Seine Tochter Abigaille, die als Kind einer Sklavin keinen Anspruch auf den Thron hat, ergreift die Macht und lässt ihren Vater einkerkern. Der hebräische Oberpriester Zaccaria ruft zum Widerstand auf. Er prophezeit das Ende der Knechtschaft und den Untergang Babylons.
Der geistig umnachtete Nabucco hört den Trauermarsch zur Hinrichtung seiner Tochter Fenena, die zu den Hebräern übergelaufen ist, weil sie den hebräischen Feldherrn Ismaele liebt und zwischen den Völkern vermitteln will. Er bittet den hebräischen, einzigen, Gott um Hilfe, worauf sich sein Wahnsinn zu lösen scheint. Der Priester des Baal fällt tot um. Abigaille, von Schuldgefühlen geplagt, vergiftet sich, und stirbt einsam. Warum Nabucco, abweichend vom Libretto vom hebräischen Oberpriester Zaccaria ermordet wird, erschließt sich nicht, vermutlich, um das Scheitern von Nabuccos Herrschaft auf der ganzen Linie zu verdeutlichen.
Regisseur und Bühnenbildner Ben Baur zeigt die Handlung in einer zeitlosen Gegenwart mit Kostümen von Julia Katharina Berndt in tristen Grautönen. Der Raum, in dem sich das Drama abspielt könnte eine Fabrikhalle sein und ist seitlich begrenzt, als hätte man ihn für die Oper am Offenbachplatz konzipiert. Vermutlich soll die Produktion dort später übernommen werden. Die Fertigstellung der Oper am Offenbachplatz steht wieder in unbestimmter Zukunft, nachdem der Übergabetermin am 24. März 2024 nicht gehalten werden konnte. Man hat anstelle einer vorgesehenen Neuproduktion unter anderem für 2025 die Wiederaufnahme von „Lucia di Lammermoor“ gesetzt, die bewusst für das Staatenhaus konzipiert war.
Der junge Dirigent Sesto Quatrini schuf bei seinem bejubelten Hausdebut mit „Nabucco“ einen perfekten Verdi-Klang mit dem brillant aufspielenden Gürzenichorchester, das sehr breit gefächert direkt vor der Bühne aufgestellt war. Auf die Weise waren Holzbläser und Blechbläser allerdings viel zu weit voneinander entfernt, so dass sich die Klänge nicht perfekt mischen konnten. Der Chor in der Einstudierung von Rustam Samedov agierte auch szenisch auf sehr hohem Niveau. Die schmissigen Melodien und mit den mehrteiligen Arien verschränkten Einwürfe zeigten beeindruckend Verdis frühe Meisterschaft, in vier Bildern jeweils zündende Spannungsbögen mit zahlreichen Affektumschwüngen zu komponieren.
Regisseur Ben Baur betonte mit seiner Inszenierung die politische Dimension – Nabucco kehrt siegreich im Smoking vom Feldzug zurück, er serviert seine illegitime Tochter Abigaille durch die Übergabe eines Schriftstücks eiskalt ab, er streitet mit ihr über die Macht. In seiner Hybris erhebt er sich zum alleinigen Gott, was er mit einem Transparent auch zeigt: „NON SON PIU RE, SON DIO!“ – „Ich bin nicht nur König, ich bin Gott!“- Mit diesem Transparent führt ihn Abigaille vor und steckt ihn -angeblich geistig umnachtet – in einen Käfig à la Guantanamo. Ihre Halbschwester Fenena scheitert als Vermittlerin und in den gegnerischen Feldherrn verliebte Überläuferin zu den Hebräern auf der ganzen Linie, und der Vernichtungsbefehl, den Abigaille ihrem gefangenen Vater Nabucco abpresst, führt zu Fenellas Tod und damit zum Untergang ihrer Dynastie.
Der von Rustam Samedov einstudierte Chor agierte auch szenisch auf sehr hohem Niveau. Vor allem den Gefangenenchor aus dem Off habe ich noch nie in einer solchen Dynamik – er beginnt ganz leise und steigert sich in einem Crescendo, um dann wieder zu ermatten – gehört. Kein Wunder, dass der Mythos entstand, er sei die Hymne des Risorgimento, der nationalen Einheit Italiens, gewesen, denn er ist einstimmig und leicht nachzusingen.
Alle Solisten singen auf sehr hohem Niveau, und ihre Stimmen sind den Herausforderungen des Staatenhauses voll gewachsen. Die Gaststars Marta Torbidoni als Abigaille und Ernesto Petti als Nabucco lieferten sich im Duett im zweiten Akt einen fulminanten Machtkampf, bei dem Torbidoni mit fast unsingbaren Intervallsprüngen und halsbrecherischen Koloraturen mit dramatischer Wucht die Machtgier der gedemütigten vom Vater abservierten Thronfolgerin ausdrückte. Sie hatte die Bühnenpräsenz einer Margaret Thatcher, die für den Erhalt ihrer Macht über Leichen geht. Ernesto Petti gab den siegreichen Feldherrn und den gebrochenen Herrscher mit allen Facetten von Triumph bis Resignation. Sein Mut zum Piano, auch in der akustisch unbekömmlichen Messehalle, die das Staatenhaus ist, rührte an. Er stellte den abgehalfterten König so ergreifend dar, dass man geneigt war, die Tochter Abigaille für wahnsinnig und durchgeknallt zu halten, schon wegen ihrer irren Koloraturen und Spitzentöne. Evgeny Stavinsky, auch Gast, als hebräischer Oberpriester repräsentierte den Gott der Hebräer mit raumfüllendem tiefem Bass der Sonderklasse, der die ganze Autorität des überlegenen Religionsführers und auch Anführers der Hebräer in seine tiefe Stimme legte. Die Liebesgeschichte kommt etwas zu kurz. Youn Woo Kim als israelischer Feldherr machte in der undankbaren Partie des Manns zwischen zwei Königstöchtern mit seinem strahlenden in allen Lagen wunderschönen und heldischen Tenor bella Figura, Lukas Singer als babylonischer Hohepriester des Baalskults füllte die Autorität mit beeindruckender Körpergröße und volltönendem Bass. Am Schluss fällt er einfach tot um. Aya Wakizono als Fenena steht im Schatten Abigailles. Als legitime Thronerbin Fenena gibt sie ihrer Liebe zum hebräischen Feldherrn Ismaele mit wunderschönem Belcanto Ausdruck, und auch ihr Bemühen um die Versöhnung beider Völker besingt sie in lyrischen Passagen. Leider ist auch Abigaille in den smarten Ismaele verliebt, und das findet spannenden Ausdruck in einem Terzett, dem sich ein wütender Racheschwur der eifersüchtigen Abigaille anschließt. John Heuzenroeder als Abdallo, Nabuccos Vertrauter, und Claudia Rohrbach als Anna, Zaccarias Schwester, sind aus dem Ensemble hochkarätig besetzt.
Ben Baur hat durch seine Regie aus dem Dramma lirico eine echte Tragödie gemacht, denn außer Abigaille, wie im Libretto, sterben auch der Oberpriester des Baal, Nabucco und Fenena. Auslöser der Tragödie ist die persönliche Kränkung Abigailles durch die Bevorzugung ihrer Halbschwester durch Ismaele und die Offenbarung ihrer illegitimen Herkunft durch ihren Vater. Nabucco hat sich durch seine Hybris angreifbar gemacht und wird von seiner Tochter im Stil der Rote Armee Fraktion vorgeführt und eingekerkert.
Das retardierende Element des vor dem vierten Bild von Claudia Rohrbach vorgetragenen Gedichts „Einem Feldherrn“ von Ingeborg Bachmann hätte es nicht gebraucht, es war auch zu vieldeutig. Auf Aktualisierungen hat man zum Glück verzichtet. Mir drängte sich die Erkenntnis auf, dass die Unterwerfung anderer Völker die Macht eines Herrschers nur kurzfristig stärkt. Der historische Nabucco ist zwar aufgrund seiner Bautätigkeit, die er mit geraubtem Geld finanzierte, unvergessen geblieben, aber in der Bibel als skrupelloser Besatzer und wegen seiner Hybris von Gott Bestrafter als Feindbild verewigt.
Man erlebt einen saftigen Verdi mit ausdrucksstarken Arien und schmissigen Chören, einem gescheiterten Usurpator, einer rachsüchtigen und machtgierigen Primadonna und jeder Menge Dramatik. Unbedingt sehenswert!
- Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Oper Köln / Stückeseite
- Titelfoto: Oper Köln/NABUCCO/Lukas Singer, Evgeny Stavinsky, Ernesto Petti, John Heuzenroeder, Marta Torbidoni, Chor der Oper Köln, Performer*innen/Foto © Thilo Beu