Jetztzeitliche und mittelalterliche Skurrilitäten: ein leidenschaftlicher Beitrag zur zeitgenössischen Oper
Von dem englischen Komponisten George William John Benjamin konnte man bis vor kurzem sagen, dass er auf dem Kontinent erst noch entdeckt werden musste. Nun ist er durch sein Auftragswerk „Written on Skin“ plötzlich weithin bekannt geworden. Die Oper wurde als Auftragswerk für eine ganze Reihe von namhaften Auftraggebern geschrieben, 2012 beim Festival in Aix-en-Provence uraufgeführt und ging dann mit teilweise gleichen Sängern auf Tournee durch Europa zu diesen Auftraggebern: Amsterdam, Toulouse, Covent Garden, Maggio Musicale, Wiener Festwochen und zuletzt an die Bayerische Staatsoper. Die Oper in Bonn sicherte sich nun die erste „freie“ Produktion in einer neuen Inszenierung, zu welcher auch der Komponist angereist war.
Der englische Theaterschriftsteller Martin Crimp schrieb das Libretto, das auf der okzitanischen Troubadour-Ballade („Razó“) Guillem de Cabestanh – Le cœur mangé“eines unbekannten Autoren aus dem 13. Jahrhundert beruht: Ein ebenso reicher und mächtiger wie herrscherischer und grausamer Großagrarier beauftragt einen Buchmaler, ein glanzvolles, gemaltes Bilderbuch zum Ruhme seiner Familie zu schaffen, das die Familie am besten im Paradies ansiedeln sollte. Die Frau des Großgrundbesitzers, die auch für das Buch gemalt wird, verführt aber den jungen Künstler und beginnt ein Verhältnis mit ihm, was dem Auftraggeber nicht verborgen bleibt, worauf er den Buchmaler ersticht und sein herausgeschnittenes Herz seiner Frau zu essen gibt. Letztere entzieht sich der Tötung durch Selbstmord. Der reiche Großagrarier, im Libretto „Protector“ genannt, ist nicht der Beschützer, sondern der Unterdrücker und sexuelle Ausbeuter seiner Frau Agnès, die sich in dieser Geschichte sexuell befreien will. Zuletzt will sie trotz ihres Namens kein Opferlamm sein und springt aus dem Fenster. Crimp und Benjamin haben diese Handlung in einen Rahmen mit jetztzeitigen Bezügen gestellt, somit eine zweite Zeitebene geschaffen, die nur locker mit der Haupthandlung interferiert. Der Titel „Written onSkin“ bezieht sich auf das kostbare Material des zu schaffenden Kunstwerks, nämlich Pergament. Hier setzt auch der Bezug zur Jetztzeit an, aus welcher die zwei Bewegungsgruppen „Engel“ und „Menschen“ auf das Geschehen 800 Jahre zuvor zurückblicken und es kommentieren. Die Engel fordern die Rückkehr zu alten Werten: „Brecht die Steine aus den Städten … und bedeckt das Land mit Gras!“ „annulliert alle Flüge vom internationalen Flughafen und bevölkert den Himmel mit Engeln!“ Statt des aus Kopiermaschinen und Laserdruckern hervorschießenden Mülls soll ganz konzentriert mit den teuersten Mitteln nur wenig, aber das Wenige dann vom Allerbesten geschaffen werden. Aus der Gruppe der Engel tritt der junge Buchmaler heraus (Erster Engel/der Junge“); zwei weitere Engel werden zu Agnès Schwester und deren Mann, Nebenrollen in der Oper.
Die beiden Regisseurinnen, Alexandra Szemerédy und Magdolna Parditka, die auch Bühne und Kostüme entworfen haben, setzen bei diesem naturgemäß noch weitestgehend unbekannten Werk schon zu ersten Dekonstruktionen an, die nicht zur Verständlichkeit des Werks beitragen, und überbebildern die Einschübe der modernen Zeitebene in teilweise rätselhafter Manier, so dass der Inszenierung die erforderliche Zielstrebigkeit verloren geht. Man fragt sich mehrfach, was das zum Stück beitragen soll. Einem ersten Auftritt der Engel-Gruppe als in weiße Kutten verkleidete militante Grüne, die der Gruppe von Menschen eine Art Morgenthau-Plan verkünden (s.o.), folgt später ein zweiter, in welchem diese Gruppe die Menschen – hier uneinsichtige Jungmanager in Nadelstreifen – niedermacht. Mit den jeweiligen Kunstwerken des Malers, z.B. Paradies, Lebensbaum oder Hölle, sind in irgendeiner Weise Auftritte der Bewegungsgruppen in der zweiten Zeitebene korreliert: die treten als Lemming-Zug von Managern mit Rollkoffern auf, als gemischte Gruppe mit geshoppten Luxusprodukten oder in Domina-Ausrüstung und -Aktivität. Schwester Marie und Schwager John treten ebenfalls immer wieder in die Handlung hinein, mal als paradiesische Adam und Eva, mal als Kapuzinermönche.
Das recht aufwändige Bühnenbild zeigt einen heruntergekommenen herausgebrochenen modernen Raum an einer alten aus Schieferbruchsteinen gemauerten Brücke. Der Unterschied der Bauepochen der beiden Architekturdenkmäler mag wirklich 800 Jahre betragen. Die Bühne ist mit allerhand Zutaten regelrecht vollgemüllt, vor allem mit Hunderten von Büchern und alten Fernsehgeräten. Auch hier soll möglicherweise gezeigt werden, dass sich das einzigartige zu schaffende Bildbuch über den Protector und dessen Wohltaten (in Wirklichkeit lässt er „feindliche“ Dörfer abbrennen) mit Ewigkeitswert von diesem Müll unterscheiden soll. Auch mit den Kostümen wir erheblicher Aufwand getrieben, da sich die etwa zwanzig Mitglieder der Bewegungsgruppen ziemlich häufig umziehen müssen. Warum der Protector mit seiner Frau in einem Elendsquartier wohnt, das man hierzulande noch nicht mal Asylanten anbieten könnte, erschließt sich nicht. Reich ist er, geizig kann er nicht sein, stellt er doch “Azurit und Gold“ für sein Buch zur Verfügung. Auch die Bewegungsregie der Hauptfiguren ist nicht stringent und trägt nicht zu einer schlanken Erzählweise bei. Die Intentionen der Regisseurinnen werden nicht vermittelt. Es sollte nicht das Ziel der Regie sein, die im Libretto angelegte Vermischung der Erzähl- und Bedeutungsebenen und die des direkten Geschehens mit dem Erlebten noch zu verstärken, sondern diese transparent zu machen.
Die musikalische Seite des Abends sieht indes ganz anders aus. Sowohl das Orchester als auch die Sänger hinterlassen einen sehr guten Eindruck. 24 Monate hat Benjamin für die Vertonung des Librettos gebraucht. Herausgekommen ist eine Partitur mit erheblicher Spannweite: opulente Instrumentierung, süffige Streichergrundierungen, fein ziselierte lyrischen Passagen und klangliche Verdichtungen von großer Suggestivkraft. Dem Sujet entsprechend gibt es Anlehnungen an ältere, vor allem mittelalterliche Musik. Selbst die Melodik kommt nicht zur kurz. Die emotionale Ausdrucksstärke ist phänomenal; schillernd von zart und sinnlich zu harten dissonanten Grobheiten reicht die brillante Partitur. Neben dem großen Schlagwerk sind auch seltene Instrumente profiliert eingebaut: Glasharmonika, Bass- und sogar Kontrabassklarinette. Insgesamt hatten unter der Leitung von Hendrik Vestmann etwa 60 Musiker des Bonner Beethovenorchesters im Graben Platz genommen. Die konzentrierte und spannende Ausleuchtung der Partitur hätte dazu verführen können, sich nicht von der Inszenierung von dieser Musik ablenken zu lassen.
Die solistische Kompetenz stand der instrumentellen in nichts nach. Durchweg gut verständlich wurden die Texte interpretiert. Den seit langem für die Uraufführung vorgesehenen Hauptdarstellern hatte Benjamin die Musik in die Kehlen geschrieben, was sich sicher ganz allgemein auf die mögliche Textverständlichkeit auch bei anderen Sängern ausgewirkt hat. Neben kantablen Stellen ist überwiegend deklamatorisch zu singen. Die Texte, bei denen die Darsteller von sich selbst in der dritten Person reden und anstelle von Regieanweisungen Beschreibungen dessen abgeben, was die anderen gerade machen, schaffen eine Distanzierung bis zur Verfremdung. Darstellerisch ist die Regie nicht besonders fordernd. Operntraditionell ist die Rolle des Protectors einer tiefen Männerstimme gegeben: Evez Abdulla gab ihn mit kultiviertem warmem Bariton, eigentlich zu nobel für den brutalen Betonkopf. Auch bei dem fordernden Singen im Herumliegen, eine seiner Hauptbeschäftigungen, ließ er nichts anbrennen. Der Liebhaber „der Junge“, ist als Countertenor besetzt. Idealtypisch gab ihn der jugendliche Terry Wey, ein aufsteigender Stern in diesem Fach. Mit natürlich fließender, nicht zu voluminöser schlanker Stimme und seiner weichen Intonation beglaubigte er den schwärmerischen Künstler wie auch den schüchternen Liebhaber. Miriam Clark als Agnès ließ ihren schönen warmen Sopran aufleuchten und gewann sowohl in den lyrischen wie auch in den dramatischen Passagen ihrer Rolle. Ihre opulente Bühnenerscheinung trug das Übrige zur Überzeugung in dieser Figur bei. In den Nebenrollen gaben Susanne Blattert mit teilweise aufbrausendem kräftigem Mezzo den Zweiten Engel/Marie und Tamás Tarjányi mit hellem klarem und gut geführtem Charaktertenor den Dritten Engel/John.
Die Aufführung dauerte ohne Pause exakt 90 Minuten. Die Regisseurinnen zeigten sich bloß kurz dem Publikum; alle anderen Beteiligten inklusive des Komponisten nahmen gern den reichlich gespendeten, herzlichen Schlussapplaus an. Die Oper kommt noch am 4., 20. und 24. Okt., am 28. Nov. und am 5. Dez. Mit dem musikalisch gelungenen Coup dieser Produktion ist die Oper Bonn endgültig im 21. Jahrhundert angekommen. Librettist und Komponist haben zur Uraufführung in 2018 vom Royal Opera House am Covent Garden den Auftrag für eine weitere Oper erhalten.
Kritik: Manfred Langer, www.deropernfreund.de
Fotos: @Thilo Beu – Theater Bonn